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Helen Bamber wuchs während des Zweiten Weltkriegs in London auf. Der Vater ihres späteren Ehemanns wurde von den Nazis während der Judenpogrome im November 1938 umgebracht. Unmittelbar nach dem Krieg ging sie, knapp zwanzigjährig, nach Bergen-Belsen, um dort den Überlebenden zu helfen. Nach London zurückgekehrt, betreute sie dort zunächst Kinder und junge Erwachsene, die die Qualen in den KZs überstanden hatten. Durch ihre Arbeit mit Opfern staatlicher Gewalt sah Helen Bamber bald auch Verbindungen zwischen der "Behandlung" von Patienten durch skrupellose Ärzte, der Vernachlässigung von…mehr

Produktbeschreibung
Helen Bamber wuchs während des Zweiten Weltkriegs in London auf. Der Vater ihres späteren Ehemanns wurde von den Nazis während der Judenpogrome im November 1938 umgebracht. Unmittelbar nach dem Krieg ging sie, knapp zwanzigjährig, nach Bergen-Belsen, um dort den Überlebenden zu helfen. Nach London zurückgekehrt, betreute sie dort zunächst Kinder und junge Erwachsene, die die Qualen in den KZs überstanden hatten. Durch ihre Arbeit mit Opfern staatlicher Gewalt sah Helen Bamber bald auch Verbindungen zwischen der "Behandlung" von Patienten durch skrupellose Ärzte, der Vernachlässigung von Kindern in Krankenhäusern und der Mißhandlung politischer Häftlinge. Sie engagierte sich für die Einrichtung von Kinderstationen, wo Mütter bei ihren kranken Kindern bleiben konnten, und wurde später zu einer zentralen Figur für die Arbeit von amnesty international. Neil Beltons ermutigendes ist nicht nur die Biographie einer außergewöhnlichen Frau, es zeichnet auch die Schicksale der Opfer auf.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.04.2000

Gehör finden
Helen Bamber und die
Opfer der politischen Gewalt
Manche Passagen dieses Buches sind nur schwer zu ertragen. Während der Lektüre hat man unwillkürlich das Bedürfnis nach körperlicher Betätigung: auf die Straße, in den Garten zu gehen oder wenigstens den Abwasch zu machen. Aber es zieht einen immer wieder zurück zu dem Text, der immer auch Hoffnung vermittelt, ohne zu verklären.
Der irische Schriftsteller Neil Belton hat eine ganz und gar untypische Biografie geschrieben, die viele Stationen politisch motivierter Gewalt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rekonstruiert: die Traumata des Holocaust, den Schrecken des Blitzkrieges über London, die Kriege in Korea und Algerien, das Pulverfass in Palästina, in Südafrika während der Apartheid, in Irland, die Diktatur in Chile. All das verbindet das Leben von Helen Bamber, der „Ohrenzeugin”, die schon als 19-Jährige 1945 für die Jewish Relief Unit nach Bergen-Belsen ging, um Überlebenden des Konzentrationslagers zu helfen, und die bis ins hohe Alter hinein versuchte, Opfern politischer Gewalt einen Raum des Schutzes zu bieten, in dem sie über ihre Erfahrungen sprechen können. Dafür gründete sie 1985 in London die „Medical Foundation for the Victims of Torture”. Hier wurden mehr als 17 000 Menschen aufgenommen, die in 80 Ländern gefoltert worden waren.
Helen Bamber stammt aus einer polnisch-jüdischen Familie, die im 19. Jahrhundert nach Amerika ausgewandert war. Die Großeltern kehrten aber wieder nach Polen zurück, bevor ihr Vater dann Anfang des 20. Jahrhunderts nach England emigrierte. Hier, in einer sehr politischen Familie im Londoner East End, wird Helen Bambers Bereitschaft gestärkt, sich zu engagieren. Ihr Vater hatte schon seit 1933 einem Netzwerk angehört, das jüdische Flüchtlinge aus dem Dritten Reich unterstützte. Trotz dieses Engagements lastet aber ein Schweigen über der Familie. Über die politische Arbeit, die Untergrundarbeit ihrer Vettern, die Erfahrungen mit Judenpogromen in der Vergangenheit wurde nicht gesprochen, und die Kinder trauten sich nicht zu fragen. Der Vater verzweifelte schließlich am Holocaust und litt über Jahrzehnte an Depressionen. Der Wunsch, das als quälend erlebte Schweigen in anderen Situationen zu durchbrechen, hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass Helen Bamber sich Zeit ihres Lebens für Menschen eingesetzt hat, die besondere Traumata erlebt hatten. Ohne eine therapeutische oder gar wissenschaftliche Ausbildung genossen zu haben, stellt sie sich den Menschen als Zuhörerin – als Ohrenzeugin – zur Verfügung.
Der Autor hört zu
Neil Belton beschreibt sehr sensibel das Leben und die Arbeit von Helen Bamber. Und auf seltsame Weise wiederholt er das, was er beschreibt. Denn der Autor ist zunächst selbst Zuhörer gewesen: über zweieinhalb Jahre hat er Helen Bamber gelauscht und die Schicksale aufgeschrieben, von denen sie erzählte. Dabei macht er es mit seiner collagierenden Schreibweise dem Leser nicht immer leicht. Oft erfährt man erst nach mehreren Seiten, warum Neil Belton bestimmte Begebenheiten schildert. Doch ein glattes Buch wäre dem widersprüchlichen Thema kaum angemessen gewesen.
Belton schildert eindrucksvoll, wie Helen Bamber sich gegen alle Widerstände aus der Familie durchsetzt und unmittelbar nach dem Krieg nach Deutschland fährt, in ein Land, dessen Bomben gerade noch Häuser in ihrer Nachbarschaft zerstört und ihre beste Freundin umgebracht haben. Getrieben von dem unbändigen Willen zu helfen, arbeitet sie in einem Lager für Displaced Persons – Überlebenden von Bergen-Belsen. Sie bekam es mit Menschen zu tun, deren Schicksal vollkommen ungeklärt war: Weder wollten sie im Land der Täter bleiben noch konnten sie nach Polen zurück. Diese Erfahrungen, später dann die Gespräche mit ehemaligen Kriegsgefangenen in England, die beim Fall von Singapur 1942 gekämpft hatten und in Gefangenschaft gefoltert worden waren, brachte sie schließlich dazu, auch in England für Gewaltopfer und Gefolterte einzutreten. Ihre Ehe mit einem deutschen Juden, dessen Angehörige in KZs umkamen, hat dieses Engagement nur zeitweilig verkraftet und ist schließlich indirekt an der Gewalt gescheitert. Nach England zurückgekehrt, arbeitet Bamber mit jüdischen Kindern aus den Konzentrationslagern, später in verschiedenen Krankenhäusern mit Opfern einer „grausamen Medizin”, ist an der Gründung der medizinischen Abteilung von Amnesty International beteiligt und ruft schließlich 1985 die Stiftung zur Hilfe für Folteropfer ins Leben.
Beltons nüchterne Schilderung gerät zum politischen Lehrbuch: Man begegnet Folteropfern aus dem Iran, aus Algerien und Israel, aus Chile, Südafrika und Nordirland. Ihre Hilflosigkeit und ihre Beobachtung, dass sie Schweigen nicht ertragen konnte, setzt Bamber in eine Aktivität um, die den Opfern zweifellos helfen kann, bei der sie selbst und ihre Gefühle aber auch auf der Strecke zu bleiben drohen. Das machen die Schilderungen ihrer beiden Söhne deutlich, die auch in der dritten Generation die Gewalt und Bedrohung ihrer Eltern und Großeltern spüren. Gewalt und das Schweigen darüber erscheinen so nicht als weit entrückter Mechanismus. Ohrenzeugen wie Helen Bamber sind heute nötiger denn je.
THOMAS KLEINSPEHN
NEIL BELTON: Die Ohrenzeugin. Aus dem Amerikanischen von Hans Günter Holl. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2000. 461 Seiten, 49,80 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2000

Dem Grauen zugewandt
Ein Leben für die Opfer: Neil Belton über Helen Bamber

Als die Weltöffentlichkeit 1945 mit der Befreiung der ersten Konzentrationslager durch die alliierten Truppen das Ausmaß der von den Nazis verübten Greueltaten zu begreifen begann, schlug das Entsetzen der Zeitgenossen für eine kurze Zeitspanne in die Zuversicht um, daß der menschliche Körper von nun an politisch sakrosankt sein werde. Heute, ein halbes Jahrhundert nach der Menschenrechtserklärung durch die Vereinten Nationen, so hat der Ire Neil Belton für sein Buch über Helen Bamber recherchiert, leben mehr Menschen in Staaten, in denen gefoltert wird, als in Ländern, die per Gesetz die Folter verbieten.

Helen Bamber gründete 1985 in London eine Hilfsorganisation für die Opfer politisch motivierter Gewalt. Mittlerweile hat diese Stiftung über 17 000 Menschen aus achtzig Ländern betreut. Ins Leben gerufen hatte Bamber ihre "medical foundation for the care of victims of torture", als sie erkannte, daß Briefkampagnen wie die von Amnesty International, in deren Britischer Sektion sie lange Zeit die Galionsfigur war, zwar dazu beitragen mögen, Häftlinge freizubekommen, den an Körper und Seele Verstümmelten aber keine Hilfe dabei sind, damit leben zu lernen, daß für sie nichts mehr so sein würde, wie es vorher war.

Neil Belton lernte Helen Bamber Anfang der neunziger Jahre bei einer Abendveranstaltung der "medical foundation" kennen. Während einer langen Zugfahrt im November 1995, auf der sich die beiden wiederbegegneten, begann Bamber, eine kleine, alte Dame, ausgestattet mit schier unerschöpflicher Energie, dem jungen Schriftsteller und Lektor zu berichten: von Kindern, deren Eltern im KZ ermordet worden waren, von traumatisierten Heimkehrern aus japanischer Kriegsgefangenschaft und von Opfern des Terrors in Algerien und Nordirland, von Männern und Frauen, die Diktatoren wie Pinochet oder Milton Obote durch ihre Schergen hatten quälen lassen, und von den Leidtragenden der Eruption eines neuen Rassenwahns im Gefolge der geopolitischen Umbrüche am Ausgang des zwanzigsten Jahrhunderts. Zweieinhalb Jahre später begann Belton, den Lebensspuren Helen Bambers zu folgen, um zu ergründen, was eine Frau ohne jede Fachausbildung dazu treibt, sich ihr Leben lang auf einem Gebiet zu bewegen, das so voller Grauen ist, daß die meisten Menschen nichts davon wissen wollen.

Der Keim zu Bambers Aktivismus dürfte sehr früh gelegt worden sein. Aufgewachsen in London als einzige Tochter russisch-jüdischer Eltern, bekommt sie in einem Alter, da andere Kinder mit Märchen gefüttert werden, vom Vater, einem überzeugten Hitler-Gegner, die Reden Goebbels' übersetzt, um das Denken des Feindes durchschauen zu lernen. Als sie im April 1945 mit ersten Fotos aus Belsen, Dachau und Buchenwald konfrontiert wird, beschließt Helen Bamber, keine zwanzig Jahre alt, im Auftrag der "jewish relief unit" nach Bergen-Belsen zu gehen, um "einigen zu helfen, anstatt über alle zu verzweifeln".

In dem Lager unweit von Celle begreift die junge Jüdin aus England sehr schnell, daß die halbtot vor sich hin vegetierenden Schattengestalten, die die britischen Soldaten in den Baracken vorgefunden haben, mehr benötigen als ärztliche Hilfe und Nahrungsmittel. Intuitiv entwickelt Helen Bamber die ihr lebenslang bleibende Fähigkeit, Menschen, die fürchterlichen Mißhandlungen ausgesetzt waren, voller Empathie gleichsam produktiv zuzuhören, um ihnen zu erleichtern, für ihr Martyrium Worte zu finden. Die wohl wichtigste Funktion dieser Art Redekur: Es gelingt den Gequälten, sich aus der fatalen unfreiwilligen Komplizenschaft mit ihren eigenen Peinigern zu befreien, die bekanntlich die Folter stets leugnen - nur zu genau wissend, daß sich auch die Opfer in Schweigen vergraben, wenn die Scham über ihre Erniedrigung groß genug ist.

Beltons Buch "Ohrenzeugin" ist die Hommage an eine Frau, die es vermag, in den Opfern die schöpferische Kraft freizusetzen, deren sie bedürfen, um ein Minimum an Weltvertrauen wiederaufzubauen. Unkritisch ist Beltons Porträt der Helen Bamber jedoch nicht. Feinfühlig, aber deutlich ist der Autor bemüht, Bamber die Aura einer Heiligen zu nehmen, indem er auch die Kehrseite ihres Engagements zeigt. Bambers Ehe mit einem deutschen Holocaust-Überlebenden zerbricht über ihrem aufreibenden Einsatz für andere Menschen, und das Verhältnis zu ihren zwei Kindern ist bis heute spannungsgeladen: Ihr Sohn David glaubt, die Mutter könne die Welt "nur im Sinne von Opfern, Tätern und Helfer der Opfer sehen". Es war, sagt David Bamber über sein Leben als Sohn, "als würden alle meine Bedürfnisse wie die eines Opfers befriedigt, damit ich überleben konnte". Beltons Vermutung, daß sich hinter einer Fassade altruistischen Gutmenschentums häufig ungestillte elementare Sehnsüchte verbergen, spricht nicht gegen Bambers Lebensleistung - wohl aber für den differenzierten Blick ihres Biographen.

Wer darüber schreiben will, was im Innern einer Folterkammer geschieht, steht vor einem Dilemma. Er muß verhindern, daß die Leser vor Entsetzen das Buch zuklappen. Deshalb aber die unsägliche Realität der Tortur in einen zivilisierten Diskurs übersetzen zu wollen birgt die Gefahr, das Verbrechen zu banalisieren. Und keine Ästhetik des Erhabenen gibt dem Gemarterten die menschliche Sprache zurück, die ihm unter der Folter geraubt worden ist. Also Leerstellen lassen?

Neil Belton ist ein beeindruckender Balanceakt gelungen. Die "Ohrenzeugin" enthält detaillierte Beschreibungen von Folterszenen, ohne die Würde der Opfer zu verletzen. Mit dieser Collage aus Erinnerungen, Reflexionen und historischem Material ist die unorthodoxe Biographie einer außergewöhnlichen Frau entstanden - und eine Biographie all jener, denen Helen Bamber ermöglicht hat, ihren Bericht zu geben. Fast zwangsläufig führt die Lektüre dieser skandalösen Protokolle die Frage nach der Inkommensurabilität des Holocaust herbei.

Keines der Gefangenenlager auf dem Balkan sei mit einem Nazi-KZ vergleichbar, will Neil Belton klargestellt wissen. Weil aber dieses Faktum nur zynische Bedeutung besitzt für die unzähligen Männer, Frauen und Kinder, die wehrlos den Widerwärtigkeiten ausgesetzt sind, die sich Menschen nach Auschwitz noch ausdenken konnten, hat Helen Bamber 1993 einen Entschluß gefaßt, den sie als den schwierigsten ihres Lebens bezeichnet: Sie ist in die Stadt Hebron gereist, um vor einem israelischen Militärgericht zugunsten eines gefolterten palästinensischen Häftlings auszusagen. Ihr war der Gedanke unerträglich, daß das Land, in das sie so viele der nach 1945 von ihr betreuten "displaced persons" hat ziehen sehen, zum weltweit einzigen Staat geworden war, dessen Strafprozeßrecht sogenannte körperliche Zwangsmittel ausdrücklich erlaubt.

ALMUT FINCK

Neil Belton: "Die Ohrenzeugin". Helen Bamber. Ein Leben gegen die Gewalt. Aus dem Englischen von Hans Günter Holl. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2000. 461 S., geb., 49,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Nach zweieinhalb Jahren Interviews mit Helen Bamber, Gründerin der in London ansässigen "Medical Foundation for the Victims of Torture", hat der irische Schriftsteller Belton, schreibt Thomas Kleinspehn, eine schwer erträgliche, dabei nüchterne und notwendige Biografie über sie geschrieben. Belton vollzieht ihren Weg nach, der zunächst vom Londoner Eastend in das soeben befreite Lager Bergen-Belsen führte. Zu diesem Einsatz hatte sich die 19-jährige Krankenschwester gegen den Willen ihrer jüdischen Familie freiwillig gemeldet. Die Menschen, die zu Opfern bzw. Überlebenden wurden, haben sie von da an Zeit ihres Lebens nicht mehr losgelassen. Und Neil Belton legt nahe, so Kleinspehn, dass die Obsession des Kümmerns und Zuhörens mit dem Schweigen zu tun hatte, das in ihrer Familie herrschte, in der über die erlittene Verfolgung (im Heimatland der Großeltern, Polen) nicht gesprochen wurde. Vorsichtig vermerkt er außerdem, dass offenbar weder ihre Ehe mit einem deutschen Überlebenden noch ihre beiden Söhne, die Belton ebenfalls interviewte, die Schwere ihrer Ohrenzeugenschaft unbeschadet überstanden haben.

© Perlentaucher Medien GmbH
"(Neil Beltons Buch) ist ein kaleidoskopischer Blick auf die Schrecken, die unser Jahrhundert so entstellt haben, und bewahrt dennoch eine menschliche Dimension durch die Personen, um die es zentriert ist." Malise Ruthven, Times Literary Supplement "Helen Bamber ist eine außergewöhnliche Frau, die sich entschieden hat, Jahrzehnte ihres Lebens der Erkundung und Linderung unbeschreiblichen Leids zu widmen. Lyrisch, maßvoll, reflektiert wird Neil Beltons Buch eindrucksvoll dieser Frau gerecht." (Guardian)