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In der »Zone« aufwachsen, heißt abgebrüht sein von Geburt an. Die Zone, das ist ein Armenghetto im Lyon der dreißiger und vierziger Jahre, in dem die Vogelfreien leben. Im Mittelpunkt dieses Schmelztiegels polnischer, rumänischer, deutscher, italienischer, arabischer, jüdischer Einwanderer stehen die beiden Kneipen (die eine von Feld, die andere von Feltin) und Ledernachts Lumpenladen, in dem sich die ganze Siedlung mit Kleidern voller Wanzen eindeckt. Raufereien sind der beliebteste Zeitvertreib, unter Erwachsenen wie Kindern herrscht fröhliche Promiskuität, Kleinkriminalität ist Ehrensache,…mehr

Produktbeschreibung
In der »Zone« aufwachsen, heißt abgebrüht sein von Geburt an. Die Zone, das ist ein Armenghetto im Lyon der dreißiger und vierziger Jahre, in dem die Vogelfreien leben. Im Mittelpunkt dieses Schmelztiegels polnischer, rumänischer, deutscher, italienischer, arabischer, jüdischer Einwanderer stehen die beiden Kneipen (die eine von Feld, die andere von Feltin) und Ledernachts Lumpenladen, in dem sich die ganze Siedlung mit Kleidern voller Wanzen eindeckt. Raufereien sind der beliebteste Zeitvertreib, unter Erwachsenen wie Kindern herrscht fröhliche Promiskuität, Kleinkriminalität ist Ehrensache, Mord und Totschlag geschehen eben, und allenthalben lauert der Wahnsinn. Doch alle träumen auf ihre Weise vom Ausbruch...

In seinem ersten, inzwischen klassischen Roman hat Louis Calaferte seinen Freunden und Gefährten ein trotziges Denkmal gesetzt: ein bei aller Drastik der geschilderten Umstände wehmütiger, ja zarter Abgesang auf die eigene Kindheit. Ein notwendiges Buch, in demman sich verlieren und an dem man Anstoß nehmen kann; große Literatur von eigenwilliger Schönheit, packend von der ersten bis zur letzten Seite, ein fiebriger Text auf Augenhöhe mit Célines »Reise ans Ende der Nacht« oder Pasolinis »Ragazzi di vita«.

Empfohlen von Georges-Arthur Goldschmidt für die Finnegan's List 2012.
Autorenporträt
Louis Calaferte geboren 1928 in Turin, wuchs in einem Elendsviertel in der Vorstadt von Lyon auf und arbeitete ab dem Alter von 13 Jahren in einer Fabrik. Als schriftstellerischer Workaholic hinterließ ein äußerst umfangreiches Werk aus Romanen, Aufzeichnungen, Theaterstücken, Gedichten und Essays, die in weiten Teilen autobiographisch geprägt sind: nach eigener Aussage war er für fiktionale Literatur »zu ungeduldig«. Er starb 1994 in Dijon. Sein Buch Septentrion (1963) gilt als der vielleicht eindrücklichste erotische Roman der französischen Nachkriegsliteratur, landete sofort auf dem Index und wurde erst zwanzig Jahre später wieder veröffentlicht. Requiem für die Schuldlosen ist die erste deutsche Übersetzung eines seiner Bücher.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.08.2015

Das hält im Leben kein Hund aus
Schule der Grausamkeit: Louis Calafertes 1952 erschienenes Romandebüt "Requiem für die Schuldlosen" über das Elend von Lyon ist eine Entdeckung

Louis Calaferte, erfährt man im deutschen Nachwort dieses "Requiems" für die Kindheitsfreunde des Autors, wurde am 14. Juli 1928 in Turin geboren. In einem Tross von Arbeitsmigranten übersiedelte er mit seinen Eltern nach Frankreich und wuchs in einem Elendsviertel nahe Lyon auf. Vom Leben in diesem Inferno handelt Louis Calafertes 1952 in Frankreich erschienenes, erst jetzt übersetztes Romandebüt.

An einem 14. Juli heißt es darin, hatte sich auch der dreibeinige Hund Scoppiato in der "Zone" niedergelassen. Alles, was man Hunden nachsagen kann - die Treue bis in den Tod, Mut und Opferbereitschaft -, verkörpert dieser Straßenköter mit dem zugewandten Blick. "Unter dem Fußtritt, den wir ihm versetzten, jaulte er nicht. Er blickte uns gerade in die Augen. Er entschuldigte sich für diese Kühnheit eines Hundes, diese Inkonsequenz. Es war ihm kurz entfallen, dass bei uns nicht gestreichelt wurde." Als der Leser Scoppiato kennenlernt und sogleich Zeuge der grausamen Exekution eines reinen, unschuldigen Opfers wird, ist die Romanhandlung bereits weit fortgeschritten. Er hat das in jeder Hinsicht verwahrloste Treiben des jüdischen Krämers Ledernacht, der sich von seinem eigenen Sohn verprügeln lässt, verfolgt und jenes der deutschen Familie Keith, deren neun Kinder alle auf den Namen Hans getauft wurden. Auch das trostlose Leben der versoffenen Eltern des kleinen Calaferte und jenes der italienischen Witwe Albadi wurde in naturalistischer Präzision geschildert sowie die teuflische Rolle der beiden Kneipenwirte Feld und Feltin, die ihrer lumpigen Kundschaft gerne ein wenig Petroleum ins Glas kippen. Dazwischen prügelt und randaliert eine Bande verwahrloster Kinder auf dem Gelände der vorstädtischen Brache und lebt dort das glücklose Leben ihrer glücklosen Eltern nach.

Und nun erreicht uns die Kunde vom treuen Hund Scoppiato, was übersetzt "geplatzt", "abgekratzt" oder auch "explodiert" bedeutet. "Ich stehe vor ihm und warte auf etwas", schreibt Calaferte, "ich weiß nicht worauf. Ich wäre außerstande zu sagen, ob ich Lust habe, mich zu bücken, um diesen sympathischen Schädel zu streicheln, oder mich zu ihm zu legen, um zu schlafen, oder ihn an der Gurgel zu packen und zu erwürgen." Was nun folgt, treibt einem die Tränen in die Augen, und, wenn man nicht aufpasst, vergisst man es nicht mehr so leicht. Es ist die ungeheuerliche Vollstreckung eines Todesurteils. Als das blutige Werk vollbracht ist, wird es still im Kopf des Mörders: "Da entdecke ich im Blut, unter dem blutverschmierten Fell, das Auge des Hundes Scoppiato, das offen steht und sich entschuldigt für all den Schmerz, den er in mir auslöst. Es ist das Auge eines toten Tiers, das nicht verstanden hat, was ich von ihm wollte."

Diese Szene ist nicht die einzige blutrünstige des Buches. Zuvor sind zahlreiche Menschen geschunden, geschlagen, gedemütigt und ermordet worden. Dennoch wirkt die Tötung des dreibeinigen Hundes, der an einem 14. Juli das Getto erreicht, ohne dass er dabei besonderen Nationalstolz empfunden haben dürfte, wie eine Apotheose der Gewalt. Vielleicht weil dieses Tier das einzige Wesen der Zone ist, das sich selbst noch nicht schuldig gemacht hat.

Louis Calaferte, so heißt es im Klappentext, habe den Protagonisten seiner Kindheit ein Denkmal gesetzt. Die Formulierung irritiert, denn das "Requiem" mag zwar eines für die an den Bedingungen ihrer Lebensumstände Schuldlosen sein, doch der Roman hält nur wenige "schuldlose" Figuren bereit, die zur Identifikation taugten. Die Gewalt wird vielmehr gerecht auf alle Figuren verteilt. Niemand, der sich ihrer eskalierenden Logik entziehen könnte. Das Ganze erinnert an Agota Kristofs moralische Meistererzählung "Das große Heft", in der zwei auf dem Land deponierte Kriegskinder durch eine literarisch beispiellose Schule der Grausamkeit gehen. Einzig ein Schulleiter namens Lobe, der mit einer drallen Prostituierten um die Häuser zieht, kann den klügeren Kindern im Kosmos Calafertes noch etwas wie ein Leitbild sein. Er wohnt in einer Höhle aus Büchern, die auf Leben jenseits der Zone verweisen. Calaferte deutet hier die klassische Erzählung von der Selbstermächtigung durch Bildung an. Er selbst hat den Ausweg aus der Misere gefunden und wurde im Laufe der siebziger und achtziger Jahre zu einem gefragten Theaterautor.

Karl Marx hatte Mitte des neunzehnten Jahrhunderts den Begriff des Lumpenproletariats geprägt. Er verstand darunter die "zerrütteten Lebeherren mit zweideutigen Subsistenzmitteln und von zweideutiger Herkunft, verkommene und abenteuerliche Ableger der Bourgeoisie, Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Tagediebe, Taschendiebe, Taschenspieler, Spieler, Zuhälter, Bordellhalter, Lastträger, Literaten, Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler, kurz, die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse, die die Franzosen ,la bohème' nennen". Er sah in diesem heterogenen Milieu eine Gefahr für die organisierte Arbeiterschaft, denn im Gegensatz zur Arbeiterklasse habe das Lumpenproletariat ein sehr geringes Bewusstsein von der eigenen Interessenlage. Ähnlich fällt Calafertes Beschreibung aus. Es fehlt seinen Figuren nicht nur an materiellen Möglichkeiten für ein Leben in Würde. Auch die Vorstellung von einem Leben in Würde bleibt unterentwickelt. Und so überrascht das letzte Kapitel, in dem ein Bewohner der Zone auf einmal eine im Wortsinn gute Idee hat. Er streicht seine Baracke weiß und malt darauf in roten Lettern die zunächst kryptisch anmutenden Buchstaben: HYG. Es ist die Stunde der Sozialhygieniker, die zumindest für einen Teil der Zone die unverhoffte Rettung aus der Dunkelheit des ewigen Schmutzes bedeutet.

Louis Calaferte bettet seine Erzählung nicht in eine politische Reflexion ein. Man erfährt nichts über den heraufziehenden Faschismus, nichts darüber, wie nahtlos das politische Projekt der Sozialhygiene sich an die Ideologie der Rassenhygiene anschließen ließ. Seine Zone bleibt wie unberührt vom politischen Geist der Erzählzeit, was vor der Kulisse des historischen Wissens unserer Zeit die besondere Anziehungskraft dieses Textes ausmacht.

KATHARINA TEUTSCH

Louis Calaferte: "Requiem für die Schuldlosen".

Roman.

Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Dieter Hornig. Diaphanes Verlag, Zürich 2015. 189 S., geb., 18,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Eigensinnige Typen, starrsinnige Schwächlinge, eitle Säufer, TBCler mit löchrigen Lungen, eine Gesellschaft, die nur die Macht der Muskeln duldet und alles sieht ... Kraftvoll und wütend wie Pasolini schildert hier ein Autor Armut und Elend aus der Innenperspektive.« Börsenblatt