einen Schatz, bis endlich ein Verlag begreifen möge, dass hier ein amerikanischer Klassiker des zwanzigsten Jahrhunderts wiederzuentdecken sei.
In Deutschland hatte das Werben Erfolg. Vor fünf Jahren veröffentlichte die DVA "Zeiten des Aufruhrs", den 1961 unter dem Titel "Revolutionary Road" herausgekommenen Erstling von Yates. 2006 folgte ein grandioser Band mit Kurzgeschichten, "Elf Arten der Einsamkeit" (F.A.Z. vom 15. März 2006), und nun erscheint, dreißig Jahre nach der Erstpublikation, zum ersten Mal in deutscher Übersetzung der Roman "Easter Parade". Es ist, man darf es ruhig so pathetisch formulieren, ein Ereignis. Nichts hat das Buch von seiner Frische, von seiner bewegenden Kraft verloren. Man liest es mit stockendem Atem und wundem Herzen.
Yates ist der melancholische Chronist der amerikanischen Mittelklasse in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Mit geradezu selbstquälerischer Genauigkeit hat er die Leute in den Vorstädten und Büroetagen beobachtet, ihre Sorgen notiert, ihre bescheidenen Träume verzeichnet und voller Anteilnahme beschrieben, wie das ohnehin triste Leben mit den Jahren immer enger wird, wie selbst die kleinen Hoffnungen nach und nach zerbröseln, bis nichts mehr an ihrer Stelle bleibt als eine schmerzende, pochende Leere, die schwerer zu ertragen ist als der Verlust der Träume selbst.
Sarah und Emily wachsen in den dreißiger und vierziger Jahren, gegen Ende der Großen Depression, unweit von New York bei ihrer unsteten, egozentrischen Mutter auf, deren einziger Ehrgeiz darin besteht, "die schwer fassbare Eigenschaft, die sie ,Flair' nannte, zu erlangen und beizubehalten. Sie brütete über Modezeitschriften, kleidete sich geschmackvoll und versuchte ihr Haar auf verschiedene Weise zu frisieren, aber ihre Augen blickten immer verwirrt, und sie lernte nie, den Lippenstift innerhalb der Grenzen ihres Mundes aufzutragen." Unablässig ziehen Mutter und Töchter von Vorort zu Vorort, immer in die feineren Viertel, die sie sich nicht leisten können, und schließlich nach Manhattan, in eine schäbige, einstmals herrschaftliche Wohnung am Washington Square.
Sarah, ohne Ehrgeiz, naiv wie ihre Mutter, gesegnet nur mit einer guten Figur, heiratet früh einen jungen Mann aus der Nachbarschaft, dessen größte Vorzüge ein elitär klingender Akzent und ein Grundstück auf Long Island sind, das Sarah und ihre Mutter hartnäckig ein "Anwesen" nennen, obwohl darauf nur ein altes, düsteres, schwer zu heizendes Haus steht. In drei Jahren bringt Sarah dort drei Jungen zur Welt, versinkt im Strudel der Mutterschaft und unter den Schlägen ihres Mannes, dessen Upper class-Manieren sich rasch als furchtbarer Irrtum erweisen.
Emily scheint es anfangs besser zu treffen. Sie erhält ein Stipendium für ein angesehenes College, macht Karriere, legt sich eine beeindruckende Reihe von Liebhabern zu, erlebt wohl auch manche Augenblicke, die sich wie Glück anfühlen, im Beruf, auf Reisen, im Bett; aber keiner dieser Momente ist von Dauer. Während in fein hingetupften Details das amerikanische Jahrhundert vorbeizieht - der Zweite Weltkrieg, Kennedy, Vietnam, die Zersiedelung von Long Island -, die Yates immer wieder in Nebensätzen schildert, entfernt sich Emily zusehends von ihrer Mutter und ihrer Schwester, irritiert zuerst, dann angewidert von deren Naivität und ihren vulgären kleinen Vergnügungen. Doch hinter der Fassade des working girl bleibt stets eine bohrende Furcht vor dem Alleinsein, die Emily in die Arme immer neuer Männer treibt, bis schließlich ihre Jugend verblüht ist, ihr Bett leer bleibt und nur der Alkohol trügerischen Trost spendet.
Richard Yates erzählt in kraftvollen, bezwingend schlichten Sätzen, in denen es kein Wort zuviel gibt, keine prätentiöse Spielerei, und es ist ein schönes Glück, dass Anette Grube diese durchsichtige Sprache so zwanglos ins Deutsche übertragen hat. Nüchtern, fast wie ein Arzt protokolliert Yates die Lebensläufe der beiden Schwestern und schildert mit tiefer Sympathie zwei überforderte, existentiell verwirrte Menschen, zwei Menschen in der modernen Masse, denen ein Leben entgleitet.
Unverkennbar sind autobiographische Züge. Die frühe Scheidung der Eltern, ständige Umzüge mit der überforderten Mutter, die Qualen des Angestelltendaseins in der Werbeindustrie, die zermürbende Eifersucht auf den Erfolg der Kollegen, Alkoholexzesse, zerbrechende Lieben - all das hat Richard Yates selbst erlebt. In der Figur von Sarahs und Emilys Vater Walter, einem sensiblen, lungenkranken, mäßig talentierten Journalisten bei einer lausigen Zeitung, den die Mädchen gleichwohl zärtlich lieben, bewundern und ein Leben lang vermissen, hat Yates ein berührendes Selbstporträt eines scheiternden Mannes gezeichnet, eines Mannes, der sich jeden Moment schmerzhaft bewusst ist, dass er ein Verlierer ist, und den doch jede Niederlage neuerlich verletzt.
Die Angst abzustürzen, das Wenige zu verlieren, wofür man sich so lange gequält hat - den Job, das Häuschen in der Vorstadt, den Respekt der Nachbarn, den Respekt vor sich selbst -, diese Angst grundiert alle Geschichten von Yates. Es ist eine Angst, die in Amerika präsenter ist als in Deutschland mit seinen sozialen Netzen und Sicherungen, die aber auch hierzulande an der Mittelschicht zu nagen beginnt. Insofern ist "Easter Parade" ein geradezu unheimlich aktuelles Buch - und ein berückend schönes, tief trauriges dazu, das nun endlich, endlich die Leser finden sollte, die es verdient.
Richard Yates: "Easter Parade." Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Anette Grube. DVA, München 2007. 304 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main