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Produktdetails
  • Verlag: Ammann
  • ISBN-13: 9783250104339
  • ISBN-10: 3250104337
  • Artikelnr.: 20856249
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.12.2006

Gequältes Herz in großem Maßstab
Das Dostojewski-Gefühl: "Ein grüner Junge" in Swetlana Geiers neuer Übersetzung / Von Paul Ingendaay

Rund fünfzehn Jahre hat Fjodor M. Dostojewski für die Niederschrift der fünf großen Romane seiner letzten Schaffensphase (1866 bis 1880) gebraucht. Merkwürdigerweise beruht sein Ruhm nur auf vieren dieser fünf Romane, mal etwas mehr auf diesem, mal mehr auf jenem. Da ist "Verbrechen und Strafe" (mindestens neun Verfilmungen), der formal gelungenste seiner Kolosse, dann "Böse Geister" (zwei Verfilmungen und drei Dramatisierungen, darunter "Die Besessenen" von Camus) sowie "Der Idiot" (drei Verfilmungen, darunter die von Kurosawa) und natürlich das Spätwerk "Die Brüder Karamasow", das es auf immerhin sechs Verfilmungen bringt und mit einem einzigen Kapitel, der "Legende vom Großinquisitor", sogar Zugang zu philosophischen Seminaren und Weltanschauungsdebattierzirkeln gefunden hat.

Nichts von all dieser Aufmerksamkeit ist für "Der Jüngling" abgefallen, wie der vorletzte Roman aus dem Jahr 1875 bisher auf deutsch hieß. Absolut nichts: keine Verfilmung, keine Dramatisierung, keine Vertonung. Eine Umfrage in der lesenden Bekanntschaft ergab, daß dort niemand Dostojewskis "Jüngling" gelesen hatte. Auch die Suchmaschinen spucken zum "Jüngling" nur einen Bruchteil der Einträge der anderen Romane aus. Wenn einem Freunde, Bekannte und Suchmaschinen nicht weiterhelfen können, dann vielleicht die Nachschlagewerke. Immerhin, der Roman wird aufgeführt, aber meist mit einer Zeile abgetan. Auch "Wikipedia" weiß nichts darüber. Während sie bei den anderen vier großen Romanen eigene Links mit zusätzlichen Informationen anbietet, erscheint beim "Jüngling" die Notiz: "Diese Seite existiert noch nicht. Du kannst hier einen neuen Wikipedia-Artikel verfassen." Mal sehen, wann sich jemand erbarmt.

Um ehrlich zu sein, die eigene Lektüre, vor rund fünfundzwanzig Jahren, ist in der Erinnerung auch ziemlich blaß geworden. Nicht die Atmosphäre des Romans, aber seine Handlung. Und die wesentlichen Ideen sowieso. Beim Lesen von Swetlana Geiers Neuübersetzung, die jetzt im Ammann Verlag unter dem Titel "Ein grüner Junge" erschienen ist, enthüllte sich auch der Grund. Dostojewski setzt für diese achthundert Seiten einen Ich-Erzähler ein, dessen Verfahren wie eine Nebelmaschine wirkt.

Denn einerseits will sich der neunzehnjährige Arkadij Dolgorukij, der "grüne Junge", Aufschluß über die Beziehung zu seinem leiblichen Vater geben, dem verarmten Adeligen Werssilow, der mit Arkadijs Mutter, einer ehemaligen Leibeigenen, gleich zwei uneheliche Kinder hat und sich aufgrund langer Europa-Reisen um den Sohn kaum je kümmerte. Andererseits wollen die Aufzeichnungen keinen literarischen Eindruck machen und noch nicht einmal eine "Autobiographie" sein. Streckenweise stapelt der Erzähler seine Sätze ziemlich unelegant aufeinander, fällt sich selbst ins Wort oder ergeht sich in weitschweifigen Kommentaren zu der Frage, warum er gerade jetzt so weitschweifig wird. "Keinen Zweifel", schreibt er, "diese dumme Anekdote ist kaum wert, erzählt zu werden, und es ist sogar besser, sie wäre ungekannt untergegangen; außerdem ist sie abstoßend kleinlich und überflüssig, wiewohl sie ziemlich ernste Folgen nach sich zog. Aber um mich selbst noch empfindlicher zu strafen, werde ich sie zu Ende erzählen."

Nun ja, gelegentlich straft er damit eher den Leser. Auch seine Emotionen hat Arkadij noch nicht richtig sortiert. "Man muß schon allzu erbärmlich selbstverliebt sein", findet er, "um über die eigene Person schreiben zu können, ohne sich zu schämen." Warum aber schreibt er dann? Er schreibt, sagt er, weil ihn "alles Geschehene betroffen" hat. Der Satz gilt natürlich auch für Dostojewskis Leser, und wie! So sind also beide gemeinsam betroffen, Erzähler und Leser, und stolpern durch die Handlung dieses Entwicklungsromans, der ständig in anderen Farben leuchtet und vieles nebeneinander bietet, eine heikle Vater-Sohn-Beziehung, Ehrenhändel, kompromittierende Briefe, eine Liebesgeschichte (Vater und Sohn wollen zeitweise dieselbe Frau), ein Spieler-, Kranken- und Selbstfindungsdrama, außerdem erschütternde Selbstmorde (Dostojewski hat die Fähigkeit, seine schrecklichsten Wahrheiten in die Nebenfiguren zu verlegen) und, gleichsam als religiöses Dach, von dem das Regenwasser gleich viel reicher und schimmernder fließt, die Figur des weisen Bauern Makar Dolgorukij, der als Pilger von Kloster zu Kloster zieht und dem grünen Jungen (dessen gesetzlicher Vater er ist) gerade noch rechtzeitig eine wichtige Lehre mitgibt.

Über den Mut des Ammann Verlags und die Leistung von Swetlana Geier, die in mehr als fünfzehnjähriger Arbeit alle fünf großen Romane übersetzt hat, haben die Slawisten unter den Rezensenten schon das Notwendige gesagt. Swetlana Geier schreibt älteres Deutsch in moderner Zeit, wie es sich für Dostojewski gehört - immens lesbar, aber keineswegs so gemütlich, als wäre der Autor unser Zeitgenosse. Im Gegenteil, der Stil wirkt manchmal fremd, und es könnte sein, daß das weniger an der russischen Sprache als an Dostojewskis künstlerischem Temperament liegt. Nur mit dem Präsens-Konjunktiv der indirekten Rede will sich weder Swetlana Geier noch ihr Lektor anfreunden (siehe F.A.Z. vom 2. Dezember 2003). Doch was hätte dagegen gesprochen, ihn einzusetzen, wo die Grammatik ihn fordert, also "sei" zu schreiben und nicht "wäre", "gebe" und nicht "gäbe"?

Selbst die beste Übersetzerin erfindet allerdings keine neue Figur, und man muß wohl festhalten, daß Arkadij mit seinen spätpubertären Zügen, seiner Humorlosigkeit und dem altersgemäßen Unbedingtheitsstreben nicht die idealen Voraussetzungen hat, den Leser zu erobern. Als wir ihn kennenlernen, gibt er sich als Frauenhasser und redet etwas großmäulig daher, ist jedoch ehrlich genug zuzugeben, daß er von Frauen nichts versteht. Was einen eher verdrucksten als urbanen Ton in die Sache bringt. Auch die große "Idee", von der Arkadij gleich am Anfang erzählt - es durch eisernes Sparen, karge Diät und eine besonders schuhsohlenschonende Laufmethode zum Reichtum eines Rothschild zu bringen -, reicht nicht an die gedanklichen Höhenflüge der Absolutheitsterroristen Raskolnikow oder Iwan Karamasow heran. Arkadij läßt, zu seinem und unserem Glück, im Lauf des Romans auch wieder davon ab.

Das Geschehen zu überschauen ist nicht ganz leicht, und einige Figuren, von denen dauernd geredet wird, treten gar nicht auf. Dadurch wird die Namensliste noch länger, als sie es bei russischen Romanen des neunzehnten Jahrhunderts ohnehin schon ist. Besser tut man daran, hier oder dort weiterzublättern und Dostojewskis Brillanz in einzelnen Szenen zu suchen, ob in sargähnlichen Dachkammern oder am Spieltisch, wo sich Arkadij in die erbarmenswerte Leidensfigur verwandelt, die Dostojewski selbst im Kasino von Baden-Baden war.

Am Ende geht die Sache gut, also untragisch, aus. Der junge Mann, der die Familie floh, findet wieder zur Familie zurück und hat sogar etwas gelernt. Doch nicht an solche Lektionen erinnert man sich, wenn man den Roman zuklappt, sondern an die schiere Energie der Zusammenstöße, die Dostojewski über Hunderte von Seiten inszeniert. "Alles in Dostojewskis Welt", so schrieb der Literaturtheoretiker Michail Bachtin, "lebt genau an der Grenze seines Gegenteils", und man muß es noch einmal aufzählen: "Die Liebe grenzt an den Haß, kennt und versteht ihn - und umgekehrt ... Der Glaube lebt dicht an der Grenze zum Atheismus, schaut ihn an und versteht ihn, der Atheismus lebt dicht an der Grenze des Glaubens und versteht den Glauben."

Trotz der losen Struktur und einiger Redundanzen besitzt "Ein grüner Junge" genügend Stärken von Dostojewskis Spätstil (dem es auf Proportion bekanntlich zuallerletzt ankam). Im großen epischen Maßstab enthüllt sich ein gequältes Herz und überfällt den Leser mit einer Konfession, deren Getriebenheit schon Teil von Dostojewskis Universum ist, die gewöhnliche Betriebstemperatur seiner Geschöpfe. Alles andere - die schmuddeligen St. Petersburger Interieurs, der Mief der Hintertreppen, das Keifen und Schimpfen, fiebrige Monologe verschiedenster Art, Scham, Zerknirschung und sehr viele Tränen -, all das erscheint als Manifestation dieser Getriebenheit. Und nur um dieser Figuren willen, wie sie nirgendwo sonst zu haben sind, liest man Dostojewski, auch die Seitenstücke und Nebenwerke. Erst recht also einen vielfarbigen Klotz wie diesen, der von jetzt an und für kommende Jahrzehnte "Ein grüner Junge" heißt.

Fjodor M. Dostojewski: "Ein grüner Junge". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Swetlana Geier. Ammann Verlag, Zürich 2006. 832 S., geb., 65,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Woran liegt es, das der vorletzte der fünf großen Romane Fjodor Dostojewskis "Ein grüner Junge" bis heute so wenig Würdigung und Nachhall fand, fragt Paul Ingendaay und gibt in seiner Rezension des nun in der neuen Übersetzung von Swetlana Geier vorliegenden Buches gleich selbst die Antwort. Die Geschichte um den "grünen Jungen" Arkadij Dolgorukij, der sich auf der Suche nach seinem Vater befindet, ist ziemlich verwickelt und bietet eine Menge Personen auf, durch die sich der Leser nur mit Mühe durchfinden kann, räumt der Rezensent ein. Zudem ist die Hauptfigur nicht gerade eine ideale Identifikationsfigur, trage "spätpubertäre Züge" und ist dazu noch vollkommen humorlos. Dafür aber erzeugt der Roman, trotz zugegebenen Wiederholungen und Schwächen der Konstruktion, dieses unvergleichliche "Dostojewskij-Gefühl" des Spätwerks, und dafür nimmt der Rezensent ohne Weiteres alle Mängel in Kauf. Die Übersetzerin Swetlana Geier zu loben, scheint ihm fast überflüssig, weil ihre Verdienste um Dostojewskis Romane allgemein anerkannt sind. Einzig ihre Scheu, den Konjunktiv Präsens auch als solchen zu übersetzen, findet der ansonsten begeisterte Rezensent tadelnswert.

© Perlentaucher Medien GmbH