Eine verkorkste Familie
So bezeichnet Autor Florian Illies die Manns an einer Stelle seines neuen Buches „Wenn die Sonne untergeht“. Als da wären die Eltern Katia und Thomas Mann, letzterer seines Zeichens Rituale liebender Literaturnobelpreisträger, der sich gegen seine Neigung zu jungen Männern früh eine „Verfassung“ gegeben hat, mit der erstere sich arrangiert, um den Schein zu wahren. Die Kinder: Erika und Klaus, die ältesten, die wie Kletten aneinanderhängen und ihre homoerotischen Neigungen ausleben. Beide drogenabhängig, Klaus fühlt sich vom Vater verraten und wird später den Freitod wählen. Für Golo wird der Tod des übermächtigen Vaters zur Befreiung werden. Monika, die nach traumatischem Schicksal ihren Eltern noch gehörig auf die Nerven gehen wird. Elisabeth, Lieblingskind, das einzige der Kinder, das Urvertrauen geschenkt bekommt und ihre gesamte Familie überleben wird. Michael, der Jüngste, erfährt später durch die Tagebücher des Vaters, dass die Eltern ihn am liebsten abgetrieben hätten, ihn nie geliebt haben. Tod durch Suizid.
Eine verkorkste Familie!? Und wir, die Leserinnen und Leser? Wir sind Beobachter der Manns und ihres illustren Bekanntenkreises der Zweigs und Feuchtwangers nach der „Vertreibung ins Paradies“ Sanary-sur-Mer, dem französischen Exil. Nach einer Vortragsreise kehren die Manns nicht nach München zurück, ihnen droht von den neuen braunen Machthabern Gefahr für Leib und Leben. Deutschland schlittert in die Katastrophe, während für Thomas Mann die Bahnfahrt ins französische Exil mit einer herben Enttäuschung beginnt: Es gibt kein Waggon-Restaurant und somit kein warmes Getränk für „cher mâitre“. Ärgerlich? Misslich? Nein, für ihn ist es „eine schlimme Behagensminderung“. So werden wir auf unterhaltsame, anekdotenreiche und detailfreudige Art zu Zeugen der Ereignisse im Sommer 1933. Wie Florian Illies uns an die Hand nimmt, reich an sprachlichen Bildern und wortgewandt durch die Höhen und Tiefen, Sorgen und Absurditäten des Mann’schen Kosmos‘ führt, faktenreich und mit fiktiven Ausschmückungen, wird zum absoluten Lesegenuss. Die Monatskapitel von Februar bis September, unterteilt in kurzweilige Abschnitte mit anekdotischen Einsprengseln sind eine hervorragend gelungene Behagenssteigerung. Der Anhang „Danach“ wirft einen unschätzbar informativen Blick auf alle beteiligten Personen und ihre Schicksale. Im höchsten Maße lesenswert!
Ein grandioses Stück Literatur
Das Feuilleton feiert ihn schon als neuen Thomas Mann. Zuviel der Vorschusslorbeeren? Keineswegs. Nelio Biedermann ist auch für mich ein Ausnahmetalent. Mit gerade einmal zweiundzwanzig Jahren einen Roman vorzulegen, der sprachlich scheinbar so leichtfüßig und dennoch mit unglaublicher Wucht daherkommt – alle Achtung! Mit „Lázár“ ist ihm ein grandioses Stück Literatur gelungen, dessen Veröffentlichung in mehr als zwanzig Ländern absolut verständlich ist. Aber nicht nur sprachlich ist sein Werk ein Vergnügen, auch inhaltlich hat er spannenden Lesestoff zu bieten. Im Mittelpunkt: das Schicksal von Nelio Biedermanns ungarischer Adelsfamilie über drei Generationen hinweg. Mit der Geburt Lajos von Lázárs, dem Kind mit der durchsichtigen Haut, beginnt eine Familiengeschichte, die von Anfang an zu fesseln vermag. Die Personen, ihre Charaktere, die Ereignisse, Traumata, Glück und Katastrophen werden so präzise, radikal und empathisch geschildert, dass man das Gefühl hat, mittendrin dabei zu sein. Da stimmt jedes Wort, da ist nichts Überflüssiges, unnötig Ausschmückendes zu beobachten. Man freut sich beim Lesen mit, man leidet mit, nie ist man nur stiller Beobachter der Szenerie. Ich werde das Gefühl nicht los, dass es einer der kraftvollsten Romane des Jahres sein könnte!
Auserzählt
Michael Tsokos legt mit „Mit kalter Hand“ seinen dritten Band der Reihe um die Rechtsmedizinerin Sabine Yao von der Spezialeinheit „Extremdelikte“ des BKA vor. Im Mittelpunkt diesmal: der „Pferderipper von Lübars“. Ihn gilt es möglichst schnell zu stellen, hegt man doch die Befürchtung, erst töte er Tiere, später Menschen.
Auch dieser Band folgt dem (bewährten) dramaturgischen Muster seiner beiden Vorgänger: überwiegend kurze Kapitel, schneller Wechsel von Schauplatz und Handlung, Cliffhanger, Mischung aus Realität und Fiktion sowie teils drastischen Schilderungen rund um die Pathologie, einschließlich des entbehrlichen Fotos auf der Innenseite des vorderen Covers. Was hier als weiterer Rechtsmedizin-Thriller klassifiziert wird, lässt beim Lesen nicht wirklich Spannung aufkommen. Der Pferderipper nimmt einen breiten, oft weitschweifigen Raum ein und endet in einer eher banalen Auflösung. Die psychologische Begründung für die Motivation des Täters kann mich nicht überzeugen. Sehr sporadisch erscheint dazwischen ein onlinesüchtiger Mann aus Pankow, der seine perversen Fantasien in die Tat umsetzen will und sich einer Erotikplattform bedient, um Kontakt zu seinen künftigen Opfern aufzunehmen. Funde von Leichenteilen im Spandauer Forst bereiten diesen Handlungsstrang vor, der aber erst zum Ende hin aufdreht, getreu dem Motto: Da war doch noch was?!
Ich weiß nicht, ob die Reihe um Sabine Yao als Trilogie angelegt ist. Es wäre ihr zu wünschen, hier dominiert Masse statt Klasse, reine Konfektionsware. Ich werde das Gefühl nicht los: Ihr geht die Luft aus!
Kalter Hund
Kalter Hund? Nein, nicht der, an den Sie vielleicht denken. Vielmehr: Kalter Hund = toter Hund. Aber bis es so weit ist, vergehen Zeit und etliche Seiten von Romy Hausmanns neuestem Thriller. Bis dahin hat die Autorin ausreichend Gelegenheit, Handlungsstränge zu entwerfen, Verbindungen zu knüpfen, Fährten zu legen, Charaktere zu entwickeln und handelnde Personen einzuführen. Als da wären:
Julie Novak, auf die die Bezeichnung handelnde Person nur bedingt zutrifft. Schließlich wurde sie vor zwanzig Jahren entführt und ist seither nach der Forderung eines vergleichsweise geringen Lösegelds spurlos verschwunden. Ferner: Sophia, ihre Schwester, Daniel Wagner, ihr Ex-Freund, Jason Willmers, ihr Karatelehrer, die Podcaster Liv und Phil, die ominöse Lara und Theo Novak, ihr Vater, Arzt und Professor und – wie er stets betont – ehemaliger Leiter der Klinik für Herz-, Thorax- und Gefäßchirurgie der Charité. Letzterer leidet an der Krankheit, die einen allmählich „das Leben vergessen lässt“. Theo ist der Protagonist schlechthin. Romy Hausmann widmet ihm und seiner Demenz viel Raum und lässt – ihr Herzensanliegen – die Leserinnen und Leser intensiv teilhaben am fortschreitenden Verfall, an der verzweifelten Suche nach Wörtern, die meist im Malapropismus endet, an lichten und dunklen Momenten, an den Reaktionen des sozialen Umfelds. Eindrücklich gelingt es ihr, deutlich zu machen, welcher Druck auf Theo lastet. Als Arzt hat er Tausenden das Leben gerettet, das Leben seiner Tochter zu retten, ist ihm bisher versagt geblieben. Er will ihr Schicksal unbedingt noch aufklären, solange er geistig dazu in der Lage ist. Immerhin ist er davon überzeugt, dass sie noch lebt, zumal sich plötzlich Mails in seinem Postfach finden, die ganz offensichtlich von Julie stammen und in denen sie beteuert, es gehe ihr gut, sie sei glücklich und er solle nicht weiter nach ihr suchen.
Der Autorin gelingt es von Anfang an, Spannung zu erzeugen und ihre Leserschaft auf mögliche Verdächtige zu lenken. Hier und da gibt es zwar Längen, die aber durch erneute Spannungsbögen abgebrochen werden. Es gibt Thriller, die gegen Ende nur noch zusammenfassende Erklärungen zum Ausgang der Geschichte liefern. Zeitweise hatte ich bei „Himmelerdenblau“ auch den Verdacht, der sich zum Glück aber nicht bestätigte. So kommt es zu einem raffiniert konstruierten Finale, das ich in dieser Form überhaupt nicht auf dem Schirm hatte und das rückblickend komplette Handlungsstränge und Personen in völlig anderem Licht erscheinen lässt.
Also Friede, Freude, Fall gelöst? Was folgt dann aber noch auf den restlichen 13 Seiten? Wird hier natürlich nicht verraten, nur so viel: Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt!
Der Verlag spricht marketingstrategisch von einem „gnadenlosen Thriller“. Nun gut. Ich sage es mal so: Solide spannende Lektüre für laue und alle sonstigen Sommerabende und -nächte.
Bezaubernd. Einfühlsam. Wunderbar.
Er schimmert wie der Mond, seine Haut leuchtet bläulich-weiß, die Flügel aus schneeweißen Federn, das Haar aus Eis, bei jeder Bewegung lösen sich winzige leuchtende Staubwölkchen von seinem Körper. So erscheint Lina eines Nachts ein Engel in ihrem Zimmer. Damit beginnt das zauberhafte und einfühlsame Bilderbuch der irischen Autorin Maggie O’Farell. Bei diesem Wesen aus einer anderen Welt handelt es sich um Linas Schnee-Engel, den sie im letzten Winter auf dem Rücken liegend in die weiße Pracht gedrückt hat. Das Besondere: Lina kann ihren Schnee-Engel sehen, was eigentlich gar nicht möglich sein sollte, denn die Engel kommen immer unsichtbar mit einer bestimmten Mission zurück: Sie sollen ihren kleinen Schöpfern in gefährlichen Situationen zur Seite stehen. Ohne es zu wissen und ohne dass der Leser/Zuhörer Näheres erfährt, befindet sich Lina in gesundheitlicher Gefahr. Der Engel sorgt dafür, dass Linas Mutter aufwacht und ihrer kleinen Tochter rechtzeitig zu Hilfe kommt. Die Geschichte von Lina und ihrem Schnee-Engel entwickelt sich zu einer ganz besonderen Beziehung. In warmherzigen, einfühlsamen Worten erzählt O’Farell von einer geradezu magischen Symbiose zwischen dem Geistwesen und dem bemerkenswerten Mädchen, das den Engel immerzu aufs Neue herausfordert. In ihrer Sehnsucht nach der Anwesenheit des Engels provoziert Lina ihn förmlich, indem sie sich einerseits bewusst in gefahrvolle Situationen begibt, andererseits aber auch unfreiwillig hineingerät. Das Buch vermittelt Kindern auf empathische Weise, dass ihnen jemand – ob Schnee-Engel oder wer auch immer – schützend zur Seite steht. Dieses Gefühl der Geborgenheit lässt Kinder stark werden, gibt ihnen die Sicherheit, eine stets helfende Hand als Begleitung zu haben, lässt ihre Ängste zu, ohne an ihnen zu zerbrechen – im Gegenteil: an ihnen zu wachsen.
Die Illustrationen von Daniela Jaglenka Terrazzini müssen hier ganz besonders hervorgehoben werden. Sie sind einfach wunderbar, ein Fest für’s Auge! Wie es ihr gelingt, die reale Welt in kräftig-bunten Farben mit der mystischen Welt in blass-blauen und silbernen Tönen zu verschmelzen, zeugt von hoher kunstvoller Fertigkeit und einem großen Einfühlungsvermögen in kindliche Sichtweisen. Auch für Erwachsene ein ästhetischer Genuss!
Ich sehe die leuchtenden Augen unseres jüngsten Enkelkindes - auch Lina - schon vor mir, wenn ich ihr demnächst diese wundervoll-magische Geschichte vorlese.
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