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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 954 Bewertungen
Bewertung vom 01.10.2025
Weiner, Matthew

Alles über Heather (eBook, ePUB)


gut

Eine unerhörte Begebenheit

Das Debüt des bisher nur als Drehbuchautor bekannten, amerikanischen Autors Matthew Weiner unter dem Titel «Alles über Heather» wird als Roman verkauft. Es handelt sich bei dem vom Verlag mit allerlei Seiten schindenden Layout-Tricks auf gerade mal 131 Seiten gebrachten, schmalen Band aber eher um eine typische Novelle, nach Goethe also «eine sich ereignende, unerhörte Begebenheit». In einem kammerspielartigen Setting steuern eine dreiköpfige New Yorker Familie und ein Bauarbeiter auf eine Katastrophe hin, die in diesem 2017 erschienenen Buch ohne Umwege und Ausschmückungen äußerst zielstrebig erzählt wird.

Die fast vierzigjährige, in der PR-Branche tätige Karen lässt sich von ihren Freundinnen, nach einer geplatzten, siebenjährigen Liaison mit ihrem Kunstdozenten, zu einem Date mit Mark überreden, einem eher unscheinbaren Mann, der als Finanzanalyst beruflich sehr erfolgreich ist. Obwohl sie von einer Liebesheirat träumt, heiratet sie ihn aber in einer Art Torschluss-Panik, weil er ihr wenigstens ein finanziell abgesichertes Leben bieten kann. Mit der Geburt der Tochter Heather füllt sich durch die sofort spürbare, schiere Präsenz des Babys sehr schnell die emotionale Leere zwischen den Ehepartnern. Sie ist später auch im Kindesalter ein hübsches, bezauberndes Wesen voller Empathie, das alle unwiderstehlich in Bann zieht, die ihr begegnen. Für ihre Eltern ist sie ihr Ein und Alles, als typische Helikopter-Eltern behüten und umschwirren sie pausenlos ihre ebenso kluge wie liebenswerte Tochter. Karen geht ganz in ihrer Mutterrolle auf, sie ist fast schon symbiotisch mit ihr verbunden. Das ändert sich mit der Pubertät, als Heather auf die unterschwelligen Spannungen in der Ehe ihrer Eltern reagiert, sich aus der Umklammerung der Mutter löst und darauf besteht, wenigstens einmal in der Woche mit ihrem Vater allein etwas unternehmen zu können, - eine Zeit, die beide sehr genießen. Und Mark beobachtet dann immer eifersüchtig, wie die jungen Männer seiner schönen Tochter nachblicken, er will die inzwischen 14jährige Tochter unbedingt von allen Nachstellungen schützen.

In einer zweiten Handlungsebene erzählt der Autor von Bobby, dem verwahrlosten Sohn einer drogen-abhängigen, allein erziehenden Mutter, der als Heranwachsender versucht, ein Mädchen aus der Nachbarschaft zu vergewaltigen und sie dabei schwer verletzt. Hätte er sie umgebracht, lernt er im Gefängnis, hätte er ohne Spuren zu hinterlassen unerkannt entkommen können. Jahre später aus dem Gefängnis entlassen, zündet der Skinhead wütend das Haus seiner mal wieder sinnlos mit Rauschgift zugedröhnten Mutter an. Ein unerkannt bleibender Mord, dem weitere Mordphantasien folgen. Bobby arbeitet fortan als Hilfsarbeiter auf dem Bau, wo er auf Heather aufmerksam wird, die in dem Haus wohnt, dessen Penthaus von seiner Firma saniert wird Wütend beobachtet Mark, dass der junge Bauarbeiter immer wieder seiner attraktiven, halbwüchsigen Tochter nachstiert und sie offensichtlich taxiert, wenn sie an ihm vorbeiläuft. Als er eines Tages beobachtet, dass Heather sogar mal kurz mit ihm spricht, rastet er völlig aus und beschließt in seinen paranoid übersteigerten Befürchtungen, ihn umzubringen.

In einem furiosen Schluss kommt Karen ihrem Mann, dem sie zeitweise sogar inzestuöse Absichten unterstellt hat, wieder näher, - auch sexuell, wo seit langem eigentlich absolute ‹Funkstille› herrschte. Ausgangspunkt für den Autor, der schon immer davon geträumt habe, Romancier zu werden, war seine Beobachtung auf einer Baustelle, wie er im Interview erklärt hat. Dort habe ein Bauarbeiter ein Mädchen ungeniert angestarrt, und er habe sich gefragt, was wohl dessen Vater dazu sagen würde, wenn er das beobachtet hätte. Genau diese Beobachtung hat er in seiner Novelle ja dann auch thematisch umgesetzt. In einer flüssig lesbaren Sprache, zielgerichtet und ohne psychologische Tiefenbohrungen erzählt, gehört dieses spannende Buch zu der Sorte von Page Turnern, die man nicht mehr aus der Hand legt bis zum Ende, welches hier, soviel sei immerhin verraten, dann auch noch ziemlich überraschend ausfällt!

Bewertung vom 30.09.2025
Nandi, Jacinta

Single Mom Supper Club


schlecht

Zeitgeist als Manko

Die britische Wahlberlinerin Jacinta Nandi hat mit «Single Mom Supper Club» schon vom kryptischen Titel her einen feministischen Roman vorgelegt, dessen offensichtlich kultbuchartige Ambitionen bereits nach wenigen Seiten deutlich werden. Dabei geht es um nichts weniger als um eine extrem vom Zeitgeist digitaler Medien gesteuerte, scharfzüngige Abrechnung mit Alltagsrassismus und um strukturell bedingte Frauenarmut als schreiende gesellschaftliche Ungleichheit. Die Autorin fährt ein üppiges Ensemble von weiblichen Figuren auf, die unverkennbar autobiografisch inspiriert sind. Bei allem kämpferischen Feminismus, der sich gegen den Müttermythos richtet und sich hier sehr vehement Bahn bricht, ist unverkennbar immer auch Ironie im Spiel, eine oft absurde Komik, - schwarzer Humor eben, ‹very british›.

Gleich zu Beginn werden die Figuren in Kurzform vorgestellt, die Frauen auch mit ihren wichtigsten Eigenschaften: Die Single Moms mit vier «normalen Müttern» und vier «Cocain Moms», dazu auch ihre insgesamt elf Kinder. «Die Kinder sind alle super» heißt es süffisant. Es folgen fünf Männer, Herr Müller, Ruben, der Verticker, der Betrüger und Jochen. Die vier Single Moms mit drei britischen Expats und Antje, einer Deutschen, die den Club gegründet hat, laden sich turnusmäßig gegenseitig zum Essen ein. Das gleiche machen auch die deutlich jüngeren Cocain Moms, die auf Instagram unterwegs sind und als «Momfluencerinnen» gelten. Bei ihnen steht trotz ihrer Jugend Botox hoch im Kurs, und bei ihren Treffen geht es nicht nur ums Essen, sondern auch ums Koksen, der «Verticker» ist ihr zuverlässiger Lieferant dafür. Als diese beiden disparaten Cliquen sich vereinen, führt das zwangsläufig zu einem veritablen Kulturschock.

Die Autorin hat im Interview zu ihren «Single Mom»-Figuren erklärt: «Alle sagen zu mir, wenn sie über das Buch sprechen, dass alle drei Engländerinnen eigentlich ich sind. Antje ist mein deutsches inneres Ich und die anderen Drei sind verschiedene Versionen von mir: die perfekte Feministin, die Schlampe und das traurige Opfer». Ihre Protagonistinnen sind allesamt ambivalent, keine ist nur Opfer, alle sind auch Täterinnen, sie erfahren Gewalt und üben selbst Gewalt aus. Und sie scheitern an strukturellen Grenzen ebenso wie an ihren ganz persönlichen. Irritierend ist, dass Jacinta Nandi ihren Roman als «Comedy» bezeichnet hat trotz all der ernsten, eher traurig machenden Themen, die sie darin aufgreift. Bittere Armut nämlich, häusliche Gewalt, latente Mordlust, sexuelle Übergriffe, Abtreibung, ja sogar Hass auf die eigenen Kinder. Für sie sei «Comedy» kein Grund, solche Themen nicht auch zu besprechen, hat die Autorin erklärt, sie habe kein Problem damit, Leicht und Schwer thematisch zu verbinden, gesellschaftliche Normen würden für sie dabei kein Hindernis darstellen. Sie beschreibt oft geradezu unbarmherzig, wie ihre Figuren sich gegenseitig beschimpfen oder sich, ganz unverblümt, als dumm oder hässlich bezeichnen, was durch ständige Wiederholung mit der Zeit allerdings ziemlich langweilig wird. Bei alldem wirkt ihr schwarzer Humor, der permanent die Grenzen austestet und sie manchmal leider auch deutlich überschreitet, gesellschaftlich entlarvend und für den Leser aufrüttelnd.

Bleibt also festzustellen, dass der sarkastische Humor in diesem feministischem Roman mit seiner ernsten Thematik nicht, wie man glauben mag, entlastend wirkt, sondern eher verunsichernd. Das Lachen bleibt einem oft buchstäblich im Halse stecken, so zum Beispiel bei einer witzig gemeinten Anmerkung zum Holocaust, und auch wenn sie Long Covid als Lifestyle hinstellt, kann man nur noch den Kopf schütteln. Sprachlich ist diese an Reality-TV erinnernde Groteske zudem in einem Social-Media-Jargon verfasst, der den Leser immer wieder mit Begriffen bombardiert, denen man so in seriösen Print- und Funk-Medien nicht begegnen wird, - allenfalls bei deren asozialer Internet-Konkurrenz. Damit erweist sich der den Roman tragende, überstrapazierte Zeitgeist zu einem weiteren, störenden Manko neben den erwähnten anderen!

Bewertung vom 27.09.2025
Wawerzinek, Peter

Rom sehen und nicht sterben


gut

Irritierend eigenständig

Der neue Roman von Peter Wawerzinek mit dem originellen Titel «Rom sehen und nicht sterben» reiht sich ein in die nicht abreißende Welle von auto-biografischen Romanen, mit denen derzeit im Bereich der Belletristik der Buchmarkt geradezu überschwemmt wird. Es entsteht der Eindruck, den schreibenden Damen und Herren fällt nichts mehr ein, deshalb müssen alle sie über ihr eigenes, mehr oder weniger interessantes Leben schreiben. Statt das dann auch «Autobiografie» zu nennen, werden kurzerhand einige fiktionale Elemente eingefügt, und schon gibt es einen neuen Roman. Und «Roman» auf dem Buchtitel, sei hinzugefügt, das verkauft sich halt einfach besser! Immerhin hat es ja das neue Buch des Autors auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis dieses Jahres geschafft, trotz der auto-biografischen Schwemme, das zeugt ja immerhin von einer gewissen literarischen Qualität.

Und in der Tat erweist sich dieser Roman, der als Brief eines Schriftstellers (sic) an einen nicht identifizierbaren Empfänger verfasst ist, gleich zu Beginn als stilistisch grandios, wenn der Autor auf der Tiberbrücke Ponte Sisto stehend den abendlichen Einzug der Stare von den kalten Olivenhainen ins sonnenwarme Rom beschreibt. Am Anfang sei nur diese Schwärze über dem Horizont als «Flatterband» zu sehen. «Das sich im Anflug aufbläht, an Volumen gewinnt und zerreißt, sich in Fetzen auflöst. Wolken bilden sich aus unzähligen Leibern, die aufeinander zufliegen, sich berühren, durchdringen, verschlingen, auffressen, ausspeien, in kleinere Wirbel zerstäuben, sich neuerlich zusammentun, voluminöse Blubber bilden, die implodieren und sich in Wohlgefallen auflösen». Und weiter heißt es: «Könnten unser beider Gedanken, Wünsche, Sehnsüchte, Hoffungen sein, in Bewegung geraten».

Der Ich-Erzähler ist Stipendiat der Villa Massimo, wo er für zehn Monate Quartier bezieht, um ungestört schreiben zu können, eine große Ehre, fast schon ein Ritterschlag für jeden Schriftsteller. Die geschichtsträchtige Ewige Stadt bietet ihm eine Fülle von neuen Eindrücken, wobei er allerdings auch kritisch anmerkt, das vieles hier, auch in der Villa Massimo, nur auf antik getrimmt ist. Auf langen Spaziergängen durchstreift er täglich die Stadt, um Inspirationen für den Roman zu sammeln, den er hier zu schreiben gedenkt. Bis er schließlich, durch die Corona-Pandemie gezwungen, seine täglichen Expeditionen einstellen muss. Zu allem Unglück löscht er auch noch versehentlich und unreparabel auf seinem Laptop den fast fertigen, neuen Roman. Er zieht für einige Jahre nach Trastevere um und beschließt, dort über den Filmregisseur Pier Paolo Pasolini zu schreiben. Nach einigen Schwäche-Anfällen entschließt er sich schließlich widerwillig, seinen Hausarzt in Deutschland anzurufen, mit dem er auf sehr vertrautem Fuße steht, er duzt ihn und nennt ihn nur «Min Skipper». Der beordert ihn sofort nach Deutschland zurück, und nach einigen Untersuchungen steht dann fest, dass er Krebs hat. Als Kämpfernatur beschießt er, nicht aufzugeben, sich der Konfrontation mit dem Tod zu stellen. Dieser Weg zurück ins Leben macht den größten Teil der Erzählung aus, er wird äußerst anschaulich und mitreißend beschrieben.

Ein lebensbejahender und Mut machender Roman also, dessen Stärke und Alleinstellungs-Merkmal die eigenwillige und auch eigenständige Sprache ist, in der er geschrieben wurde. Es wimmelt darin nur so von vielerlei Reihungen, wie sie exemplarisch im Zitat vom Einzug der Stare nach Rom zu sehen sind. Der vorwärts drängende, reportageartige Erzählfluss wird auch durch das Weglassen der Subjekte in vielen Sätzen verstärkt, wie nachfolgendes Beispiel zeigt: «Bekomme Krämpfe in den Fingern. Schlafen mir die Arme ein. Kribbeln. Werde vom Schwindelgefühl befallen. Weiß plötzlich nicht mehr, was ich schreiben wollte». Stilistisch verbinden sich hier Wortwitz, lustige Wortspiele und rasanter Sprachrhythmus miteinander, die dem Roman, in Hinblick auf seine Thematik allerdings irritierend, etwas sehr Eigenständiges verleihen.

Bewertung vom 26.09.2025
Wunnicke, Christine

Wachs


gut

Wächserne Lektüre

Mit dem Roman «Wachs hat die Schriftstellerin Christine Wunnicke kürzlich schon das zweite Mal einen Platz auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises erreicht, auf der Longlist war sie außerdem schon dreimal vertreten. Auch dieser neue Roman folgt wieder ihrem bewährten Erzählmuster, historisch verbürgte, mehr oder weniger prominente Personen als exzentrische Figuren auszuwählen und sie mit ihren jeweiligen Obsessionen in einem zum großen Teil fiktiven Geschehen agieren zu lassen. Die Autorin selbst hat ihr Roman-Personal als «zerfallende Personen» und «fragmentierte Figuren» bezeichnet, die in ihrem Werk dann ein Eigenleben führen würden. Zu ihrem Stil hat sie an gleicher Stelle angemerkt, sie beschreibe «Zwischenzustände, Grenzüberschreitungen, zweifelhafte Identitäten».

So hat sie auch mit dem vorliegenden Roman wieder ein ganz eigenständiges Werk geschaffen, in dem sich verschiedene literarische Gattungen zu einem im Genre historischer Werke eher seltenen Kurzroman vermischen. Der reichert als gelehrte Groteske real Verbürgtes mit unbeirrt Fiktivem an und erzählt es mit zuweilen parodistischem Einschlag.. Im Mittelpunkt dieser im Paris des 18ten Jahrhunderts angesiedelten Geschichte stehen mit der Anatomin Marie Biheron und der Malerin Madeleine Basseporte zwei historisch verbürgte Frauen im Mittelpunkt. Marie, die anfangs 14jährige Tochter eines Apothekers, besucht einen Kurs im Zeichnen bei der bekannten Malerin Madeleine, die deren Talent entdeckt und zu ihrer Mentorin wird. Im Roman werden sie kurzerhand als lesbisches Paar zusammen geführt, das es dann durch eine List von Marie sogar schafft, kirchlich getraut zu werden. Es lebe die Fiktion! Die reale Marie Marguerite Bihéron war zu damaligen Zeiten als Anatomin eine absolute Ausnahme-Erscheinung nicht nur in Frankreich und weithin bekannt für ihre realistischen Zeichnungen und anschaulichen Wachsmodelle des menschlichen Körpers. Wie gleich im ersten der zehn Kapitel des Romans beschrieben, versucht Marie als blutjunges Mädchen vergebens, beim Militär an die für ihre Obsession benötigten Leichen heran zu kommen. Naiv wie sie ist hat sie nämlich geglaubt, dort müsste es ja viele davon geben, - die erstaunten Soldaten haben nur den Kopf geschüttelt! Aber stur und zielstrebig, wie sie auch ist, findet sie mit Unterstützung ihrer Eltern, abseits der anatomischen Institute, einen illegalen Weg und wird fortan zuverlässig von einem Bestattungs-Unternehmen ‹beliefert›,

Das auch altersmäßig ungleiche Paar findet fortan durch den Verkauf der Zeichnungen von Madeleine und die überall neugierig bestaunten anatomischen Wachsmodelle von Marie ihr Auskommen. Das politische Geschehen vor und während der Französischen Revolution spielt voll mit hinein in einen Plot, in dem den Männern allenfalls Nebenrollen zugedacht sind, so auch für Denis Diderot, der hier Kaffee trinkend als ziemlicher Schwätzer dargestellt wird. Trotz seiner Kürze wird viel erzählt in diesem feministischen Roman, in dem es, mit wilden Zeitsprüngen und gelegentlichen Abschweifungen, vor allem um die Probleme geht, denen Frauen damals ausgesetzt waren. Aber gerade weil diese Hürden ihnen den Weg schwer machten, wurden zielstrebige Kämpfernaturen weiblichen Geschlechts wie die Protagonistin Marie damals zu Höchstleitungen angestachelt und vollbrachten für unmöglich Gehaltenes.

Und genau das ist denn auch die Botschaft dieses historischen Romans, der en passant neben geschichtlichen auch durch anatomische und botanische Details bereichernd wirkt für den Leser. Gelungen sind auch die Passagen, in denen über die verklemmten, religiös oktroyierten Moralvorstelllugen dieser Zeit berichtet wird, über Jungfräulichkeit und ehrbares Verhalten als Frau. Es sind durchweg sympathische Figuren, die den Roman bevölkern, allen voran Marie als willensstarke, autodidaktische Anatomin, Die Sprache, in der all das erzählt wird, ist wohl bewusst, quasi der Zeit geschuldet, etwas altertümelnd gehalten, also weder elegant noch flüssig lesbar, sie erscheint vielmehr in dieser Hinsicht als ziemlich «wächserne» Lektüre!

Bewertung vom 24.09.2025
Erdmann, Kaleb

Die Ausweichschule


gut

Ein Roman ohne Verleger

Der Schriftsteller Kaleb Erdmann hat mit «Die Ausweichschule» einen Roman über das Schreiben eines Romans geschrieben, der gerade erst in die Shortlist für den diesjährigen Deutschen Buchpreis gewählt wurde. Der Autor thematisiert in diesem Metaroman seine Recherchen zum Amoklauf von Erfurt am 26. April 2002, bei dem ein 19jähiger, ehemaliger Schüler des städtischen Gutenberg-Gymnasiums sechzehn Menschen und anschließend sich selbst erschossen hat. Der damals elfjährige Autor Kaleb Erdmann hat den Amoklauf miterlebt, ohne allerdings mit dem Täter konfrontiert gewesen zu sein oder bei seiner Flucht aus dem Schulgebäude eines der Opfer gesehen zu haben. Es war der letzte Tag der Abiturprüfungen dieses Jahres, dem zwanzigminütigen Massaker fielen elf Lehrer, eine Referendarin, eine Sekretärin, zwei Schüler und ein Polizist zum Opfer. Es dauerte eineinhalb Stunden, bis die Polizei den Täter endlich im Gebäude tot auffand. Das Gymnasium wurde sofort geschlossen, umgebaut und renoviert, der Unterricht in eine «Ausweichschule» verlegt. Alle Betroffenen erhielten für lange Zeit eine intensive psychologische Betreuung nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen für derartige Katastrophenfälle.

Zwanzig Jahre später holen die unverarbeiteten Ereignisse von damals den inzwischen als Schriftsteller tätigen Ich-Erzähler eines noch zu schreibenden Romans völlig unerwartet wieder ein. Er beginnt mit intensiven Recherchen, die im Wesentlichen den Handlungsfaden des vorliegenden Romans bilden. Sie sind für ihn stets auch verbunden mit Fragen nach dem Sinn seines Tuns und Zweifeln über dessen Folgen. Die dürften, mit all den späten Erinnerungen, auch die unbewältigten Traumata aller, nicht nur der unmittelbar Betroffenen, hervorrufen, wenn nun die alten Wunden wieder aufgerissen werden. Es geht ihm aber eher ganz allgemein um spezielle Fragen wie die nach den Vorbedingungen solcher Gewaltexzesse, nach ihren unmittelbaren Folgen, möglichen Erkenntnissen und Konsequenzen, und natürlich auch um die Spätfolgen und die mentalen Schäden, die dauerhaft zurückbleiben. Denn der Ich-Erzähler selbst hat zwar, wie es im Buch heißt, «keinen Mord und kein Blut gesehen», er ist seit damals aber traumatisiert und angstgestört. Ihn treibt ständig die Frage um, wie man über eine derartige Gewalttat denn überhaupt schreiben könne.

Zunächst zieht er dazu das 2004 erschienene und kontrovers diskutierte Buch von Ines Geipel heran, das sich unter dem Titel «Für heute reicht’s» dokumentarisch mit dem Amoklauf von Erfurt befasst. Darin wirf sie den Sicherheitskräften Versagen vor und den Rettungskräften unprofessionelles Handeln. Dem widerspricht die von der Landesregierung eingesetzte «Gasser-Kommission» in ihrer ausführlichen Dokumentation vehement, es habe allenfalls Mängel bei der Kommunikation während des Einsatzes gegeben, die jedoch folgenlos geblieben seien. Sie widerspricht auch der Darstellung von Ines Geipel, die als Ego-Shooter bezeichneten Ballerspiele am Computer seien Schuld an der unfassbaren Verrohung des jugendlichen Täters gewesen. Schließlich nimmt der Ich-Erzähler auch noch Kontakt zu einem im Roman nur als «Dramatiker» benannten, schreibenden Kollegen auf, der gerade ein Bühnenstück über den Fall verfasst. Sie treffen mehrmals zusammen und tauschen sich auch telefonisch lebhaft aus über ihr jeweiliges literarisches Projekt.

Man kann den geschilderten Schreibprozess des Ich-Erzählers als Reise in das eigene Ich deuten, wobei ja eine besondere Schwierigkeit darin besteht, nicht in Voyeurismus abzugleiten, bloß nicht die Sucht nach Horror-Darstellungen zu bedienen, was hier auch überzeugend gelungen ist. In der interessanten Rahmenhandlung mit dem Schreibprozess geht es durchaus auch ironisch zu, wobei die Figur des Ich-Erzählers in seiner Schusseligkeit und Fress- und Saufsucht allerdings wenig sympathisch wirkt. Letztendlich feiert dann das Bühnenstück des «Dramatikers» seine Premiere, während der Roman, dessen Entstehen man mitverfolgen konnte, ironischer Weise keinen Verleger findet!

Bewertung vom 20.09.2025
Schätte, Lena

Das Schwarz an den Händen meines Vaters


sehr gut

Alkoholgesättigte Coming-of-Age-Geschichte

Als Thema für ihren zweiten Roman mit dem Titel «Das Schwarz an den Händen meines Vaters» hat Lena Schätte eine kaputte Familie gewählt, die ganz im Zeichen der Alkoholsucht des Vaters steht. Die ständige Sauferei ist aber nicht nur ein Problem des Vaters, sondern zeitweise auch eines seiner jüngsten Tochter, die er immer nur Motte nennt. Sie ist denn auch die Ich-Erzählerin dieser trotz aller Probleme unsentimentalen Coming-of-Age-Geschichte, in der für sie immer der Vater im Mittelpunkt steht und damit auch seine fatale Sucht.

Handlungsort ist eine kleine Stadt im Sauerland, zeitlich spielt diese Geschichte in den 1990er Jahren. Mottes Vater arbeitet in einer Fabrik und kommt täglich mit schmutzigen Händen von der Arbeit, die er dann auch durch heftiges Schrubben nicht sauber bekommt, allenfalls mal am Wochenende. Motte hat ein besonders inniges Verhältnis zu ihm, sie ist oft die Einzige, die mit ihm noch reden kann, wenn er im Suff nicht mehr ansprechbar ist für ihre Mutter und auch für ihre Geschwister. Wenn er nach der Arbeit nicht nach Hause kommt oder abends noch mal weggeht, was öfter geschieht, findet sie ihn nachts in irgendeiner Spelunke oder in einer Spielhölle. Und sie schafft es dann auch, ihn zu bewegen, doch mit nach Hause zu kommen. In seiner Firma wird er aus der Fertigungshalle in die Verwaltung versetzt, weil man befürchtet, dass er sich doch mal volltrunken die Hand absägt an den Maschinen. Der Alkohol, sagt die Mutter resigniert, war schon immer ein Problem bei den Männern in dieser Familie.

Auch Motte trinkt schon früh mehr als ihr gut tut, bei Festen ist sie es, die die Reste in den Gläsern austrinkt. Später als junge Frau ist sie dann manchmal so betrunken, dass sie einfach im Treppenhaus einschläft, weil sie spätnachts nicht mehr in der Lage war, den Schlüssel zu ihrer Wohnung ins Schlüsselloch zu stecken. Sie arbeitet als Krankenschwester und fühlt sich sehr wohl in dieser Tätigkeit nahe am Menschen. Einige Zeit lang hat sie dann auch einen Freund, der ihr hilft und sie stützt, auch wenn er oft selbst kaum noch stehen kann. Am meisten hilft ihr, auch mental, der Bruder, mit dem sie sich bestens versteht. Er arbeitet nebenan im Kindergarten als Erzieher und kann deshalb öfter mal nach ihr schauen. Eigentlich habe sie zwei Väter, stellt sie fest, den Vater, der alles weiß und alles kann, und den anderen, auf den kein Verlass ist, der sich immer wieder ins Delirium trinkt. Als er unheilbar an Krebs erkrankt, versucht Motte, sich allmählich von ihm zu verabschieden, und sie beschließt zudem, sich möglichst bald vom Alkohol zu verabschieden. Der hat inzwischen nämlich einen viel zu breiten Raum eingenommen in ihrem eigenen Leben.

In einer leicht lesbaren, klaren Sprache erzählt Lena Schätte von der inneren Dynamik einer kaputten Familie des unteren Mittelstands und den verschiedenartigen Verflechtungen, in die ihre Figuren traumatisch eingebunden sind. Sie tut das zielgerichtet ohne Schnörkel, ohne erzählerische Umwege, also wohltuend arabeskenfrei ohne Ausschmückungen, ohne ein einziges überflüssiges Wort. Die Figuren sind allesamt sympathisch, wobei der Vater besonders hervorsticht, weil er lebensbejahend immer das Positive sieht und gutmütig bleibt, auch wenn er sturzbetrunken ist. Der Plot erzeugt einen Sog beim Lesen, dem man sich kaum entziehen kann, nicht weil er so spannend ist, sondern weil er so stimmig die Realität abbildet, in der man sich oft selbst wieder zu erkennen glaubt. Die Autorin arbeitet dabei erstaunlicher Weise ganz ohne psychologische Tiefen-Lotungen, man spürt auch so, was in ihren Figuren vorgeht. Denn was sie empfinden, das erschließt sich beim Lesen erstaunlicher Weise wie von allein. Wenn am Ende der Vater zu Grabe getragen wird, nimmt der Sohn gegen den Protest der Mutter und des Pastors statt Blumen eine Flasche Schnaps mit zur Beerdigung. Nachdem der Sarg herunter gelassen ist, kippt er die ganze Flasche Schnaps in die Grube hinein, ein letzter Gruß an den Vater quasi, was letztendlich dann auch die Mutter und der Pastor als liebevolle Geste akzeptieren müssen.

Bewertung vom 18.09.2025
Schwenk, Lina

Blinde Geister


weniger gut

Wo Kriegsangst zur Marotte wird

Mit ihrem Romandebüt «Blinde Geister» hat es die Schriftstellerin Lina Schwenk immerhin auf Abhieb bis auf die Longlist für den Deutschen Buchpreises geschafft, also unter die besten zwanzig von insgesamt zweihundert von den Verlagen angemeldeten Büchern. Der Roman ist offensichtlich inspiriert von dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, den so niemand ernsthaft für möglich gehalten hätte. Damit ist seit dem 24. Februar 2022 auch eine konkrete Bedrohung für alle anderen europäischen Staaten entstanden, die sich in einer wachsenden, realen Kriegsangst widerspiegelt. Der kann sich niemand entziehen, sie wird zudem durch massive militärische Aufrüstung und den Beitritt Finnland und Schwedens zur Nato auch realpolitisch geschürt.

In Lina Schwenks Roman einer Generationen übergreifenden Familien-Geschichte entwickelt sich die latente Angst vor dem Krieg aus dem Trauma des Vaters ihrer in den 1960er Jahren geborenen Ich-Erzählerin Olivia Der will sich als Kriegsheimkehrer bestmöglich absichern «wenn die Russen kommen». Ältere Semester unter den Lesern werden sich womöglich erinnern an diese Ängste, insbesondere die Berliner, für die ja der Russe am ‹faschistischen Schutzwall› Jahrzehnte lang tagtägliche Realität war. Karl, Olivias Vater, hat deshalb seinen Keller als Fluchtraum für seine Familie ausgebaut und alles Überlebens-Notwendige dort eingelagert. Er sitzt ständig am Radio und hört Nachrichten. Je nach politischer Wetterlage zieht die vierköpfige Familie dann immer wieder mal für einige Zeit vorsichtshalber in diesen Schutz spendenden Überlebens-Bunker. Seine innig geliebte Frau Rita unterstützt ihn bedingungslos bei seiner Marotte, und für die beiden Töchter gehören diese Probealarme zum prägenden Bestandteil ihrer Jugend. Was für die Verbundenheit der Familie zwar förderlich ist, wird jedoch mit der Zeit zunehmend zur seelischen Belastung der Töchter. Denn ihre Fragen an die Eltern bleiben jahrzehntelang ebenfalls unbeantwortet. und sie wissen auch nicht, welche eigenen Kriegs-Erlebnisse die Bunker-Manie ihres Vaters denn ausgelöst haben. Bei dieser psychischen Belastung bleibt es nicht aus, dass Olivia in die Psychiatrie eingewiesen wird, um mit ärztlicher Hilfe ihr seelisches Gleichgewicht wieder zu finden.

In einem historisch weiten Bogen wird im Roman von der Großmutter bis zur Tochter der Protagonistin erzählt. Dabei kommt zum Schluss auch noch ein russischer Tänzer ins Spiel, der Tänzer geworden sei, wie er erzählt, weil er nicht als Soldat in den Ukrainekrieg ziehen wollte. Auffallend ist, wie seelisch labil die Figuren dieses Romans gezeichnet sind, denn auch wenn sie versuchen, ihre Gefühle zu unterdrücken, fließen bei ihnen doch öfter mal die Tränen, sogar bei den wenigen Männern des deutlich feminin geprägten Romans. Dem Bunker steht symbolisch Bulli, der erste VW-Bus der Eltern entgegen, der ihnen als Gefährt bei ihren Camping-Reisen ans Meer dient. Im Gegensatz zum Kellergewölbe funkelt dabei über ihnen ein Sternenhimmel, die Enge wird also durch die Weite ersetzt.

Die Geister der Vergangenheit sind blind gegenüber der Realität, suggeriert durchaus stimmig schon der Romantitel. Mit feinem Gespür für Blicke, Gesten und körperliche Berührungen schildert die Autorin eine Familie im Ausnahmezustand, deren Traumata sich über die Generationen hinweg fortschreiben. Einen großen Teil der Geschichte nehmen die Zwangs-Vorstellungen von Olivia ein, aus deren Perspektive erzählt wird. Sie ist als Krankenschwester selbst mit Ausnahme-Situationen befasst und muss dann trotz eigener Probleme mit ihrer ungehemmten Phantasie seelische Stärke zeigen und den Patienten Mut machen. Ein Spagat, den sie zu entschlossen meistern sucht. In einer poetischen Sprache behandelt «Blinde Geister» stilistisch eigensinnig und nicht immer gelungen ein sehr aktuelles Thema, wobei das Ganze vom Plot her leider ziemlich konstruiert wirkt.

Bewertung vom 16.09.2025
Khayyer, Jina

Im Herzen der Katze


gut

Nichts für Hedonisten

Der Debütroman der iranisch-stämmigen Jina Khayyer mit dem kryptischen Titel «Im Herzen der Katze» erzählt eine autobiografische Geschichte, die mit der Ermordung von Jina Mahsa Amini durch die iranische Sittenpolizei am 16. September 2022 in Teheran beginnt. In langen Telefonaten mit der Mutter und mit Schwester Roya lässt sich die Ich-Erzählerin des Romans über den aktuellen Fall berichten, der weltweit ja Entsetzen ausgelöst hat und bis heute noch andauernde Protestaktionen vor allem der Frauen im Iran hervorruft. Teils im Stil einer Roadnovel erzählt die in Deutschland geborene Protagonistin, wie sie, nachdem ihr bewusst wurde, dass die junge Frau mit gleichem Vornamen wie sie tot ist, nur weil sie ihr Kopftuch nicht korrekt getragen habe, kurz entschlossen in den Iran reist zu ihren Verwandten. Was sie als Erkundungsreise in die aktuelle politische Situation des Staates Iran geplant hat, erweist sich auch als Reise in ihre eigene Vergangenheit, sie war zum ersten Mal als junge Frau dort. Von einer riesigen Schar von Verwandten und nicht weniger als sechs Tanten wird sie mit wahrhaft überschwänglicher Gastfreundschaft empfangen. Auf Vorschlag ihrer Schwester entschließt sie sich spontan, samt Reiseführer zu einer mehrtägigen Autotour «im Herzen der Katze» aufzubrechen. Der Iran sehe auf der Landkarte, erklärt die Ich-Erzählerin dazu, in seinen Umrissen wie eine Katze aus, eine Handzeichnung der Autorin im Buch mit markierter Reiseroute verdeutlicht das sehr anschaulich, - genau darauf also bezieht sich der Buchtitel!

Die Katze ist es denn auch, die der Legende nach mehrere Leben habe, was sich auf die persische Nation übertragen lässt, die politisch das feudale Regime des letzten Schahs wie auch die Machtübernahme der Mullahs überlebt hat und diese mörderischen Despoten eines Tages ebenfalls überwinden wird, um endlich in Freiheit und Würde zu leben. Die Ich-Erzählerin Jina ist, nachdem sie so lange nicht mehr im Iran war und die westliche Lebensart verinnerlicht hat, überrascht von der Schönheit des Landes, von der herzlichen Aufnahme und freundlichen Hilfsbereitschaft, und auch von der Lebensweisheit seiner Bevölkerung. Neben den geschilderten Eindrücken der Protagonistin werden die politischen und historischen Ereignisse und Entwicklungen Irans durch Dialoge und ausführliche Erzählungen der Verwandten und der Schwester geschildert. Auf der Autoreise ist dann auch Iman, ihr Chauffeur und Reiseführer, ein kundiger Erzähler, - der sich aber schon bald als eine junge Frau erweist! Mit rasiertem Schädel und entsprechender Kleidung einschließlich pattgedrückter Brüste sieht sie tatsächlich aus wie ein Mann, und auch ihre tiefe Stimme passt ideal dazu. Ihr Vorname sei für beide Geschlechter gleichermaßen üblich, und so habe sie sich aus Schutz vor Repressionen der Sittenwächter zum Mann umstilisiert, was bisher auch immer einwandfrei funktioniert habe und ihr seither ein relativ freies Leben ermöglichte.

Alle Proteste der iranischen Bevölkerung werden von dem Mullahregime immer wieder mit brutalster Härte niedergeschlagen, die Erzählungen im Roman schildern das eindringlicher und verständlicher als jedes Geschichtsbuch. Was da im Detail geschildert wird, lässt einem allerdings das Herz stocken, dieser Roman ist fürwahr keine Wohlfühl-Leküre! Die religiös verblendeten, diktatorischen Mullahs behandeln ihr Volk geradezu viehisch, wobei insbesondere den Frauen böse zugesetzt wird. Sie werden, alle Menschenrechte missachtend, als minderwertige Wesen ohne Rechte behandelt. Die so genannten Sittenwächter genießen völlige Straffreiheit, wenn sie Menschen krankenhausreif schlagen oder töten. Sie sind ganz einfach immer im Recht, handeln ja quasi im göttlichen Auftrag dabei, es droht ihnen keine Strafverfolgung. Die Iraner befinden sich auch heute noch politisch im tiefsten Mittelalter, und die vielen, erschütternden Beispiele, die der Roman dafür liefert, sind pure Realität im dritten Jahrtausend, keine Fiktion!

Hedonisten werden keine Freude haben an diesem hervorragend geschriebenen Roman, auch wenn er neben den Gräueln den Iran landschaftlich als unglaublich schön, sein Volk als kulturell hochstehend und die Menschen als sympathisch beschreibt, mit viel Sinn für Poesie zudem!

Bewertung vom 13.09.2025
Zaimoglu, Feridun

Sohn ohne Vater


schlecht

Pathos ohne Belang

Der türkischstämmig Schriftsteller Feridun Zaimoglu hat mit seinem neuen Roman «Sohn ohne Vater» ein weiteres Buch vorgelegt, in dem er ausführlich von seiner Familie berichtet. Es wurde, wie vorher schon vier andere seiner Romane, für den diesjährigen Deutschen Buchpreis nominiert. Der plötzliche Tod seines fast neunzigjährigen Vaters zieht sich als roter Faden durch diesen arabeskenreichen Roman, in dem der Ich-Erzähler Jugenderinnerungen und Erfahrungen als Sohn von Gastarbeitern in Deutschland thematisiert. In den 1960er Jahren, erzählt er, sei er nach Deutschland gekommen, als Kind dort aufgewachsen und habe später «als Schreiberling» zur Literatur gefunden. Als unübersehbare Folge des gegenwärtigen narrativen Trends zum autofiktionalen Erzählen sind auffallend viele Schriftsteller als Protagonisten und Ich-Erzähler in der heutigen Belletristik anzutreffen, so auch hier!

«Meine Mutter ruft mich in aller Frühe an», lautet der erste Satz dieses Romans. «Dein Vater ist tot. Er ist zum Gerechten geschritten». Nicht nur der Leser, auch der Sohn «staunt über ihre Worte». Das Mobiltelefon spielt eine wichtige Rolle in diesem Roman, es klingelt oder vibriert ständig, meist aus der fernen Türkei. Wegen der dortigen, strengen Seuchengesetze muss Vater bereits am nächsten Tag beerdigt werden, und da der Sohn an Flugangst leidet, wird er beim Begräbnis nicht dabei sein können. Er kann aber auch nicht Auto fahren! Zwei gute Freunde helfen ihm, leihen ihm Geld und organisieren als beste Transport-Möglichkeit eine Nonstop-Fahrt mit dem Wohnmobil, mit dem er schnellstmöglich dorthin chauffiert werden soll.

Diese beschwerliche und abenteuerliche Reise in die Türkei dient dem Autor zu einer detailreichen Rückschau auf das Leben seines Ich-Erzählers. Im Interview hat Zaimoglu erklärt, er sehe sich nicht als «Vollzugsorgan der Wirklichkeit», er liebe es besonders, die Realität brechen zu können, dann habe er am meisten Lust, sich «hinzusetzen und zu schreiben». Und so werfen die dauernden Rückblenden auf eine «seltsame Familie» während der langen Fahrt in der Erinnerung des Ich-Erzählers allmählich ein irritierendes, zwiespältiges Licht auf seinen Vater, er wird ihm zusehends fremder. In der Türkei schließlich wird die Mutter immer mehr zur Erzählerin, was einen überraschenden, narrativen Kipppunkt bildet im Roman. Es sei eben die Mutter, hat Zaimoglu dazu erklärt, welche die Perspektive des Sohnes «immer wieder aufbricht».

Als elegisch grundierter Familienroman ist «Sohn ohne Vater» aber auch eine ‹Roadnovel› mit spannenden, kriminellen Anklängen. «Die Trauer macht mich türkisch», heißt es im Roman, das Leid des Sohnes scheint grenzenlos zu sein. Dem Chaos im Kopf des Protagonisten entsprechend ist die Erzählweise dieses Romans ebenfalls chaotisch, nämlich voller surrealer Situationen und befremdlicher Szenen. Und was der Autor erklärtermaßen als lustvolles Spiel mit den Perspektiven betreibt, ist für den Leser eher irritierend und oft auch nicht leicht zu durchschauen. Das geschilderte Geschehen ist in weiten Teilen völlig belanglos, denn die beiden zentralen Themen des Romans, die Trauerbewältigung und die Identitätssuche von Migranten, werden nur sehr oberflächlich behandelt und nicht in die Tiefe gehend. Die Romanfiguren wirken eher unsympathisch, emotionale Nähe zu ihnen entwickelt sich nicht beim Lesen. Scheinbar wollte der Autor seine Leser nicht mit psychologischem Tiefgang überfordern und liefert stattdessen, wohl auf Spannung bedacht, lieber eine aufgesetzt wirkende Abenteuer-Geschichte zu seinen ja durchaus anspruchsvollen und ernst zu nehmenden beiden Kernthemen. Besonders störend dabei ist das peinliche Pathos, in dem da selbstbewusst so viel Belangloses erzählt wird. Buchpreisverdächtig ist das alles jedenfalls nicht!

Bewertung vom 11.09.2025
Ebrahimi, Nava

Und Federn überall


sehr gut

Sechs Moment-Aufnahmen

Vor wenigen Tagen erschien der dritte Roman der Schriftstellerin Nava Ibrahimi, der für den Deutschen Buchpreis nominiert ist. Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist die deutsch-iranische Autorin durch die Verleihung des Ingeborg Bachmann Preises. Der kryptische Titel dieses neuen Romans weist auf den Ort der Handlung hin, die fiktive kleine Stadt Lasseren im Emsland, die beherrscht wird von einem gigantischen Geflügel-Schlachthof am Stadtrand, mit weitem Abstand wichtigster Arbeitgeber und das Zentrum dieser Erzählung bildend, die sich an einem einzigen Tag abspielt, einem Montag. Für die sechs Protagonisten des Romans steht an diesem Tag viel auf dem Spiel. In kurzen, manchmal nur eine Seite umfassenden und mit ihrem Namen betitelten Kapiteln wird auktorial über jeweils eine der Romanfiguren berichtet. Ausnahme dabei ist eine aus der Ich-Perspektive erzählende und in die Handlung eingebundene deutsch-iranische Schriftstellerin (sic)!

Es beginnt mit «Roshi», ebendieser Schriftstellerin, die wegen der Übersetzung von Gedichten eines Afghanen aus Köln kommend morgens in Lasseren eintrifft. Gleich im nächsten Kapitel über «Sonia», die in äußerst prekären Verhältnissen lebt und im Schlachthof am Fließband arbeitet, wird es dramatisch. Die allein erziehende Mutter zweier Kinder bekommt nämlich mit ihrer extrem aufmüpfigen Tochter einen heftigen Streit. Der eskaliert darin, dass Sonia ihr das Smartphon abnimmt, - quasi die Höchststrafe -, und sie in ihrem Zimmer einschließt, so dass sie nicht zur Schule gehen kann und eine Mathearbeit versäumen wird. Der für die Prozess-Optimierung im Schlachthof verantwortliche, fünfzigjährige «Merkhausen» wurde von seiner Frau verlassen und träumt nur noch von Polinnen, deren Akzent ihn regelrecht anmacht. Er wird am Abend eine Frau erstmals treffen, mit der er über ein Dating-Portal in Kontakt gekommen ist.

Seit einer Woche ist «Anna» bereits im Schlachthof, um als verantwortliche Ingenieurin für ihre Firma dort eine neue Software zu implementieren, wodurch bei der Qualitätskontrolle die mühsame manuelle Arbeit ersetzen werden soll. Dass dabei letztendlich dann natürlich sehr viele Arbeitsplätze wegrationalisiert werden, ist ein von den Arbeiterinnen gefürchteter, unheilvoller, aber wohl nicht vermeidbarer «Nebeneffekt». Der von Abschiebung bedrohte, sehbehinderte Afghane «Nassim» wiederum hofft, durch eine Übersetzung seiner Gedichte ins Deutsche die Einwanderungs-Behörde dazu bringen zu können, seinen Asylantrag zu genehmigen. Er hat ein Verhältnis mit «Justyna», seiner zwanzig Jahre älteren Nachbarin, die in Schwarzarbeit Sonias ehemalige Schwiegermutter betreut und das Geld nach Polen schickt, damit ihre Tochter dort studieren kann. Sie hat an diesem Abend erstmals ein Date mit dem Abteilungsleiter Merkhausen aus dem Schlachthof, mit dem sie bisher nur per Dating-Portal Kontakt hatte. Sie erhofft sich, endlich einen akzeptablen Mann zu finden, der sie aus ihrer finanziellen Misere befreit.

Es geht um psychischen Stress in diesem narrativ extrem verschachtelten, düsteren Roman, um Grenz-Erfahrungen, ökonomische Zwänge, schreiende Ungerechtigkeit, um Flucht, Vertreibung, und Migration, aber auch um Selbstbewusstsein, Geschlechterrollen, Karrierestrebe oder bigotte Religiosität. Und es geht um die am Ende des Zweiten Weltkriegs ausgelösten Verwerfungen, deren Nachwirkungen auch heute noch zu spüren sind in der Stadt Lasseren. Die Verknüpfungen der Figuren sind komplex und werden erst nach und nach verständlicher. Der Roman endet dann schließlich in einer ziemlich skurrilen, surrealistischen Szene, bei der alle Handlungsfäden zusammenlaufen. Alle Protagonisten treten dann noch einmal auf, aber gleichzeitig auch abertausende von Hennen, - womit denn auch der Buchtitel verständlicher wird. Dabei bleibt dann allerdings alles offen, der Plot erweist sich somit letztendlich als Sammlung aneinander gereihter Moment-Aufnahmen menschlicher Schicksale, von denen jedes solitär für sich steht.