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Igelmanu
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Mülheim

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Insgesamt 1033 Bewertungen
Bewertung vom 26.09.2014
Barbery, Muriel

Die Eleganz des Igels


sehr gut

Renée und Paloma haben einige Gemeinsamkeiten: Beide sind Außenseiter, beide sind sehr intelligent und beide verstehen seit langem die Kunst, die Menschen in ihrer Umgebung über ihr wahres Selbst im Unklaren zu lassen. Zudem leben sie beide im gleichen Haus, in der Rue de Grenelle 7 in Paris – Paloma in einer riesigen Luxuswohnung und Renée in der kleinen Wohnung der Concierge.

Lange Zeit leben die beiden dort nebeneinander her. Die 54jährige Renée hat sich in ihrem Dasein eingerichtet, hat akzeptiert, dass ein Leben als scheinbar ungebildete Arbeiterin wohl das Einzige ist, was einer Frau ihres Standes zugebilligt wird. Die hochbegabte 12jährige Paloma hingegen verachtet die Welt der Erwachsenen und sieht für sich selbst keine Zukunft. Daher plant sie, sich an ihrem 13. Geburtstag umzubringen.

Beide wünschen sich, dass die Welt, die so gar nicht ihre ist, sie möglichst in Ruhe lassen soll, damit sie – ganz für sich und im Geheimen – das tun können, was für sie am wichtigsten ist: Lesen und philosophieren. »Wenn schon nichts einen Sinn hat, soll der Geist sich wenigstens damit auseinandersetzen.«

Als Kakuro Ozu, ein japanischer Geschäftsmann, der sich durch hohe Bildung, Offenheit und unerschütterliche Freundlichkeit auszeichnet, in dem Haus einzieht, werden diverse festgefahrene Strukturen erschüttert. Auch bei Renée und Paloma…

Ich habe mir mehrere Tage lang überlegt, was ich in diese Rezi schreiben möchte. Ohne Zweifel ist es ein anspruchsvolles Buch und ich brauchte ein Weilchen, um mich damit anzufreunden. Renée und Paloma lieben es zu philosophieren und tun es daher ausgiebig. An einigen Textstellen hing ich schon eine Weile fest, was wohl damit zusammenhing, dass ich zum einen über den Inhalt nachdachte und zum anderen Fremdwörter nachschlug (bzw. nachgoogelte ;-). Da kamen schon so einige zusammen, was mich auch wieder ins Grübeln brachte. Fehlt es mir an Bildung, weil ich Wörter wie Hybris, Frontispitz, klandestin, Sanseverina, harangieren, Inkunabel, Conatus, demiurg oder Psychorigidität nachlesen muss? Denken Menschen ab einem gewissen Bildungsgrad tatsächlich so oder ist auch das ein Vorurteil? Denn bloß, weil man viele Fremdwörter kennt und versteht, heißt das noch nicht, dass man auch in diesem Vokabular denkt. Soll diese Sprache vielleicht nur als Stilmittel dienen, um die hohe Intelligenz von Renée und Paloma darzustellen? (Ihr merkt schon, das viele Philosophieren im Buch ist ansteckend.) Tatsache ist, dass sich die Mühe des Nachschlagens lohnt, denn an vielen Stellen erkennt man dadurch Humor und Ironie (mal ganz davon abgesehen, dass es zudem auch noch bildet ;-)

Es muss jetzt aber niemand befürchten, dass sich das ganze Buch wie eine philosophische Abhandlung liest. Viele Abschnitte machen einfach Spaß, beispielsweise wenn Paloma altklug über die Erwachsenen in ihrem Leben herzieht.

Eine ganze Menge Kritik steckt natürlich auch im Buch. Ganz oben auf der Mängelliste steht hier die Unart, auf andere Menschen herabzusehen und sich selbst für etwas Besseres zu halten. Es ist wirklich bemerkenswert, wie selbstverständlich die „vornehmen“ Hausbewohner Renée für dumm und einfältig halten, nur weil sie die Concierge ist. Und Paloma ist ein Kind und kann daher natürlich unmöglich in der Lage sein, die Gedankengänge eines Erwachsenen zu verstehen oder sie am Ende gar zu kritisieren. An dem Punkt kann sich jeder Leser mal an die eigene Nase fassen und überlegen, welche Personen oder Personengruppen er auch gerne in Schubladen einordnet.

Renée, Paloma und auch Kakuro Ozu waren mir so ans Herz gewachsen, dass ich richtig mit ihnen mitfühlte. Ich ärgerte mich mit, ich freute mich mit und ich war mit ihnen zusammen traurig. Leider auch zum Schluss hin, an dem ich mir ein schöneres Ende gewünscht hätte. Hätte ein richtig schönes Happy End den Anspruch des Buchs gesenkt? Möglicherweise. Aber das wär es mir wert gewesen.

Bewertung vom 19.09.2014
Bresser, Michael; Springenberg, Martin

Die Sau und der Mörder


sehr gut

Vollblutprivatdetektiv Dieter Nannen hat sich im tiefen Münsterland einen bescheidenen Bauernhof hergerichtet. Doch das verschlafene Landleben hat es in sich: Der Dichter Hermann Grutz wird tot in seiner Wohnung aufgefunden. Als dann auch noch die attraktive Geliebte des Poeten tot in der Badewanne liegt, weiß Nannen, dass er es mit üblen Burschen zu tun hat. Wer verbirgt sich hinter den immer weiter auftauchenden Leichen und Verwicklungen? Nannen ermittelt in bekannt lässiger Manier ... (Klappentext)

Mal wieder geht in Buldern nichts ohne den Ermittler Dieter Nannen. Die erwähnenswerten Eigenarten seines Charakters habe ich in meiner Rezi zum Vorgänger geschrieben.

Dieser Fall gefiel mir deutlich besser! Es wurde diesmal nicht nur unterhaltsam sondern auch schön spannend! Dazu gab es wieder herrliche Skurrilitäten, beispielsweise wenn Nannen in lokalen Dichterkreisen ermittelt und dabei immer wieder mit atemberaubender Dichtkunst beglückt wird, die mich schwer an Loriots „Krawehl!“ erinnerte. Und wenn er in einem Dreibettzimmer im Krankenhaus von Buldern den Paten gibt, kann ein Marlon Brando nur noch vor Neid erblassen.

Auch den dritten Band kann man lesen, ohne die Bücher davor zu kennen. Wenn Personen aus Dieters Vergangenheit auftauchen, gibt es ein paar Infos dazu und damit kann man gut klarkommen. Ich denke, irgendwann landet noch ein weiterer Münsterland-Krimi auf meinem SuB.

Reihenfolge der Münsterland-Krimis:
Schwein gehabt
Die Sau ist tot
Die Sau und der Mörder
Mein Schwein pfeift
Den letzten beißt das Schwein

Bewertung vom 19.09.2014
Bresser, Michael;Springenberg, Martin

Die Sau ist tot


gut

Ein Schwein stirbt, ein Rentner wird umgelegt, das Blutbad nimmt kein Ende! Zum Glück ist Privatdetektiv Dieter Nannen vor Ort. Doch den Exil-Essener, der es sich im westfälischen Buldern auf seinem Bauernhof gemütlich gemacht hat, beschäftigt noch ein weiteres Problem: Was tun mit der Schafherde, die plötzlich mutterseelenallein bei ihm auf der Weide grast? (Klappentext)

Dieter Nannen ist Privatdetektiv. Aber nicht nur. Wenn er nicht gerade damit beschäftigt ist, das Münsterland von Mördern zu säubern, hegt er die Tiere auf einem kleinen Bauernhof in Buldern, den ihm ein Onkel hinterlassen hat oder spielt im Gottesdienst die Orgel. Zudem mag er Philosophie, wobei ihm der Wittgenstein noch besser gefällt, wenn er dazu ein schönes Bierchen trinken kann.

Was die Ermittlungsarbeiten angeht, macht ihm keiner was vor. Schließlich ist er der klügste, raffinierteste, bestaussehendste… Detektiv aller Zeiten und die von Neid zerfressenen Kollegen von der Polizei würden ohne ihn vermutlich kein einziges Verbrechen aufklären. Und bei der holden Weiblichkeit hat er natürlich auch noch seine Verpflichtungen.

Wie man deutlich merkt, in diesem Krimi dreht es sich im Wesentlichen um den Ermittler. Dieser ist ein echtes Original! Er war mir durchaus sympathisch, merkte man doch bei vielen flapsigen Sprüchen, die er so von sich gab, wie ironisch er es eigentlich meint. Ein wirklich vielseitiger Charakter! Lustig auch die ständigen Reibereien mit seinem Lieblingsfeind, dem zuständigen Polizeibeamten. Und wenn die Mordwaffe eine Uwe-Seeler-Statue ist, wird es auch noch herrlich skurril.

Der Fall selbst ist nicht der spannendste aller Zeiten, aber durchaus unterhaltsam. Entscheidend ist, ob man mit diesem Ermittler warm wird. Ich glaube, er wird polarisieren – entweder man mag ihn, oder man kann ihn nicht ertragen.

Dies ist der zweite Band der Reihe um Dieter Nannen. Den ersten habe ich noch nicht gelesen, das machte aber nichts. Es gab ein paar Infos zu seinem privaten Hintergrund und damit konnte ich mir alles erschließen.

Reihenfolge der Münsterland-Krimis:
Schwein gehabt
Die Sau ist tot
Die Sau und der Mörder
Mein Schwein pfeift
Den letzten beißt das Schwein

Bewertung vom 19.09.2014
Vargas, Fred;Baudoin, Edmond

Das Zeichen des Widders / Kommissar Adamsberg Bd.3


gut

„Du liest einen Comic?“ fragte mich ganz erstaunt mein Sohn. „Nein, keinen Comic. Sondern ein Graphic Novel!“

Es war mein erstes. Ich bin sehr neugierig drangegangen und wurde wirklich angenehm überrascht. Aber mal von vorn…

„Sommer in Paris. Grégoire und Vincent, zwei halbwüchsige Kleinkriminelle, klauen einem alten Mann die Tasche, deren Inhalt sie erschaudern lässt: vier Haarbüschel, ein Tierschädel, eine Filmdose mit Zahnsplittern und 30.000 Francs. Am nächsten Morgen wird Vincent erstochen in seiner Wohnung aufgefunden – auf seinem Körper das blutige Mal eines Widderkopfes.“ (Klappentext)

Die Handlung ist spannend, der Fall ungewöhnlich. Dazu gibt es viele interessante Charaktere! Zunächst einmal die Ermittler – beide echte „Einzelstücke“, was auch zeichnerisch toll dargestellt wird. Und dann Grégoire und seine Familie – ich mochte sie sehr. Feinfühlig werden die teils etwas schwierigen Familienverhältnisse und Beziehungen untereinander dargestellt, auch hier habe ich manches Mal gestaunt, was schwarz-weiß Zeichnungen für einen wahnsinnigen Eindruck hinterlassen können.

Ich habe wirkich keine Ahnung von Kunst, aber die Intensität der Bilder hat mich sehr angesprochen.

Gut, manche Bilder sind arg dunkel gehalten. Die dunkle Grundstimmung passt an sich hervorragend zur gesamten Handlung und zur Stimmung des Buchs, aber auf ein paar Zeichnungen musste ich schon sehr genau hinschauen, um zu erkennen, was dargestellt wird. Das hat aber wirklich nicht gestört und ich hatte viel Spaß beim Lesen und beim Kennenlernen dieses - für mich - neuen Genres.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.09.2014
Paasilinna, Arto

Der Mann mit den schönen Füßen


sehr gut

„Reeder Aulis Rävänder schätzte sich aus zweierlei Gründen glücklich. Er hatte einen guten Schlepper und eine gute Frau.“

Mit diesen Worten beginnt der neue Paasilinna, der kürzlich bei mir einzog. Dass ich ihn sofort kaufte, als ich ihn entdeckte, war überhaupt keine Frage, denn ich besitze eine vollständige Sammlung aller bisher auf Deutsch erschienen Bücher dieses finnischen Autors. Und auch diesmal wurde ich von der Lektüre nicht enttäuscht.

Wer zum ersten Mal ein Buch von Paasilinna liest, wird sich möglicherweise fragen, in welchem Zustand der Autor es wohl geschrieben hat. Tatsächlich ist die Handlung meist sehr skurril. In ihrem Mittelpunkt steht sehr häufig ein finnischer Mann, der sich irgendwie durchs Leben schlägt. Das Szenario, in dem das Ganze stattfindet, ist dabei gerne äußerst schräg. So auch hier.

Es geht also um den Reeder Aulis Rävänder. Das Eingangszitat stellt gleich klar, was die wichtigsten Dinge in seinem Leben sind. Wobei die Reihenfolge der kurzen Aufzählung schon Aussagekraft besitzt ;-) Rävänders Leben wird eines Tages völlig aus der Bahn geworfen, als ihn seine Frau nach 20jähriger Ehe verlässt. Als ihm auch noch klar wird, dass die angekündigte Scheidung ihm die Hälfte seines Vermögens und unter Umständen auch noch seinen Schlepper nehmen wird, ist die Verzweiflung groß. Als dann vor seinem Strandhaus, in das er sich betrunken und leidend zurückgezogen hat, auch noch ein totes Wildschwein angeschwemmt wird, greift er zum Telefonhörer und sucht Hilfe bei der Telefonseelsorge. Da er sich verwählt hat, landet er allerdings beim Fußpflegesalon von Irene Oinonen, die ihm nicht nur zuhört sondern spontan beschließt, sich um diesen Mann zu kümmern…

Wer das bis hierhin schon schräg fand, der wird anschließend aus dem Staunen nicht mehr rauskommen, denn im weiteren Verlauf geht es um (unter anderem) einen Tierpräparator, einen Erpresser, eine Versammlung krimineller Erpressungsopfer und einen Mordanschlag. Paasilinna versteht es, all diese Dinge in eine Handlung einzuarbeiten, die sich wie nichts wegliest und auf jeder Seite Spaß macht.

Es sind seine Formulierungen, die mich immer wieder zum Lachen bringen. Sein tiefschwarzer Humor, mit dem er wirklich jedes Thema anpackt und dem absolut nichts heilig ist. Weswegen mit kleinen Seitenhieben so ganz nebenbei ausgeteilt wird: An Frauen, an Männer, an Minister, Kirchenvertreter, Reiche, Alkoholiker, Anhänger aller möglichen sexuellen Orientierungen, Banken, die Polizei und und und. Dabei ist alles leicht geschrieben und klingt selbst in den abwegigsten Schilderungen logisch. In diesem Buch hatte ich beispielsweise großen Spaß daran, wie akribisch eine Konferenz geplant und einberufen wird, bei der die oben erwähnte Versammlung krimineller Erpressungsopfer den weiteren Umgang mit dem Erpresser plant…

„Rävänder fand, dass man die Konferenz ein bisschen vorbereiten müsse, indem man zum Beispiel formuliere, um welche Probleme es gehe.
An zentraler Stelle stand die Entscheidung darüber, was man mit Iivonen machen sollte. Ihn gründlich vermöbeln? Ihn aus dem Land jagen? Ihn zu Tode erschrecken? Ihn lebenslänglich in Klaukkala gefangen halten? Ihn kastrieren? Ihn der Polizei übergeben? Oder ihn töten und ausstopfen? Möglichkeiten gab es viele, und dazu mussten die Teilnehmer auf dem Schiff Stellung nehmen.“

Paasilinna spielt mit menschlichen Schwächen. Keine seiner Figuren ist makellos, viele gerade deshalb so liebenswert. Gerne lässt er seine Figuren auch mal philosophieren. Dabei kommen herrliche Dinge heraus…

„Finnland hat in den letzten Jahren den Verstand verloren. In diesem Land wird nichts anderes getan als amerikanische Werbung geguckt und sinnlos geshoppt. Und dann wird die Jugend geisteskrank und nimmt Rauschgift in Überdosen. Früher hängte sich ein Mann zumindest noch auf, wenn es darauf ankam, aber heute lassen sich die Leute aus purer Faulheit in die Irrenanstalt einweisen.“

Wieder mal ein großes Lesevergnügen!

3 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.09.2014
Sander, Karen

Schwesterlein, komm stirb mit mir / Stadler & Montario Bd.1


sehr gut

„Finde mich.“, so lautet die erste der anonymen Nachrichten, die die Psychologin Dr. Elisabeth Montario erhält. Die zweite wird noch ein wenig präziser: „Finde mich, bevor ich dich finde.“ Seit sie zu einer Berühmtheit im Kampf gegen Serienmörder geworden ist, hat Liz schon häufiger Post von „Spinnern“ bekommen, die sie „austesten“ wollen. Aber diesmal ist etwas anders, das spürt sie genau: Von diesen Nachrichten geht eine Bedrohung aus. Und es wird nicht dabei bleiben…

Zeitgleich hat es Kriminalhauptkommissar Georg Stadler mit einem wirklich grausamen Mord zu tun. Das Opfer – eine Rechtsanwältin – wurde nicht nur mit unzähligen Messerstichen abgeschlachtet, sondern zudem noch ausgeweidet. Schnell erkennt Stadler Parallelen zu einem erst kürzlich geschehenen weiteren Verbrechen. Steht am Ende eine Serie bevor? Er bittet Liz um Unterstützung. Und tatsächlich scheint die Situation zu eskalieren – in mehr als einer Hinsicht…

Wow, was für ein spannender Thriller! Ich habe mich hervorragend unterhalten gefühlt. Beide Protagonisten sind mir sehr sympathisch, beide haben sie ihre Macken und Probleme und wirken dadurch ausgesprochen menschlich.

Die Handlung selbst bleibt durchgehend spannend. Es gibt überraschende Entwicklungen und man kann in Sachen Auflösung ordentlich rumrätseln. Die einzelnen Kapitel tragen als Überschriften das jeweilige Tagesdatum mit Uhrzeit. So etwas mag ich, das trägt noch zur Steigerung der Spannung bei. Und auch die Rückblenden zu einem sechzehn Jahre zurückliegenden Brand in einer JVA bringen einen ins Grübeln… Wie hängt all dies zusammen? Eine kleine Sache ist mir am Ende nicht ganz klar gewesen (vielleicht hab ich sie aber auch nur nicht verstanden?), daher ein Punkt Abzug.

„Schwesterlein, komm stirb mit mir“ ist laut Klappentext der Auftakt zu einer Reihe um das Ermittlerduo Stadler und Montario. Ich freue mich schon auf die Fortsetzung!

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.09.2014
Pieper, Tim

Mord im Tiergarten


ausgezeichnet

„Meistens erkenne ich die Kriminellen durch den Widerspruch zwischen Aussagen und Körpersprache.“

Berlin im Jahre 1896. Dr. Otto Sanftleben ist Kriminologe und wenn er nicht gerade Bücher schreibt, ist er als Berater bei der Polizei tätig. Seit er vor einigen Jahren geholfen hat, einen Serienmörder zu überführen, wurde er schon häufig zur Unterstützung gerufen. Und auch diesmal scheint der Rat eines Spezialisten nötig zu sein, denn der Tote, der ermordet im Tiergarten aufgefunden wurde, war ein jüdischer Zeitungsunternehmer. Und er wurde nicht einfach „nur“ ermordet, sondern das Opfer einer rituellen und ausgesprochen blutigen Tötung. Vor dem Hintergrund eines sich ausbreitenden Antisemitismus in Berlin beginnt Otto mit der Suche nach dem Täter.

Ein tolles Buch, ein großes Lesevergnügen! Ich konnte es nach „Mord unter den Linden“ kaum abwarten, Neues von Otto zu lesen und ich wurde nicht enttäuscht. Die Kombination aus einem spannenden Krimi mit vielen historischen Hintergründen macht richtig viel Spaß.

Besonders schön finde ich Ottos Gedanken, sobald er auf irgendeinen Menschen – egal ob Freund oder Verdächtiger – trifft. Denn geradezu automatisch setzt bei ihm ein Analyseprozess ein, der das Auftreten und Benehmen seines Gegenübers auswertet.

„Die Reaktion des Professors war hochinteressant. Anstatt Ottos Hand zu ergreifen, legte er den Arm eng an den Körper, winkelte den Unterarm ab und streckte seinerseits die Hand aus. Wollte Otto einen Körperkontakt herbeiführen, musste er einen Schritt auf Trittin zugehen, was er auch tat. Dadurch kam er ihm nicht nur in räumlicher Hinsicht entgegen, sondern gestand dem Wissenschaftler auch die Entscheidung über den Ablauf der Begrüßung zu. Nachdem er den Kontakt hergestellt hatte, griff der Professor sofort fest zu und kippte Ottos Hand zur Seite und nach unten, sodass er im wahrsten Sinne des Wortes „die Oberhand“ gewann.“

Neben Otto sind glücklicherweise auch wieder der Commissarius Funke und Ottos Ziehsohn und „Leibdiener“ Moses dabei. Funke hat außer dem Mordfall – der sich übrigens erneut zur Serie entwickelt – noch ganz eigene Probleme, denn ein Unbekannter erpresst ihn und droht bekanntzumachen, dass Funke dem „Dritten Geschlecht“ angehört. Und Moses, gebürtiger Herero, leidet unter den Vorurteilen, die ihm aufgrund seiner Hautfarbe entgegengebracht werden.

Otto selbst hat neben dem Fall erneut alle Hände voll zu tun. Er – der noch nie gesegelt ist – hat sich zu der Teilnahme an einer Regatta überreden lassen. Und eine wichtige Zeugin im aktuellen Mordfall entpuppt sich als sehr gute alte Bekannte… Nur, dass sie damals ein Mädchen war und heute eine äußerst attraktive Frau geworden ist.

Der Fall selber ist spannend bis zum Schluss. Immer wieder gab es neue Verdächtige, mehrfach glaubte ich, den Täter entdeckt zu haben. Was soll ich sagen? Zum Glück war das nicht so! Und am Ende bleibt mir nur zu hoffen, dass uns Tim Pieper nicht zu lange auf den dritten Band warten lässt.

Bewertung vom 17.09.2014
Pieper, Tim

Mord unter den Linden


ausgezeichnet

Dr. Otto Sanftleben ist so etwas wie ein früher Profiler. Nach dem großen Erfolg seines Buches „Phänomenologisches. Ein Beitrag zur Kriminalpsychologie“ wird er von der Berliner Polizei um Unterstützung bei der Aufklärung eines besonders grausamen Verbrechens gebeten. Eine junge Frau ist ermordet, an ein Holzkreuz genagelt und in Brand gesteckt worden. Zudem sorgt eine Reihe von scheinbar politisch motivierten Anschlägen für Unruhe. Zufall? Oder gibt es möglicherweise Zusammenhänge?

Meine Güte, wo soll ich anfangen? In diesem Buch steckt so viel drin! Zunächst mal ist es ein spannender Krimi, und zwar einer von der Sorte, bei der es immer wieder neue Entwicklungen gibt und – so ging es jedenfalls mir – man wirklich von der Auflösung überrascht wird.

Toll geschrieben und flüssig zu lesen wird es keinen Moment langweilig. Im Gegenteil, zusätzlich zu der Krimihandlung erfährt man noch sehr viel! Es gibt reichlich historischen Hintergrund, besonders intensiv geht es um das Thema Sozialistengesetze. Die politische Lage wird geschickt mit der Handlung verknüpft und liefert dadurch immer neue Ansatzpunkte für die Klärung des Falls. Aber den Täter nur auf der politischen Bühne zu suchen, wäre zu einfach! Schließlich gibt es auch reichlich Indizien, die für einen religiös motivierten Mord sprechen könnten. Und so muss Otto sich beispielsweise auch ein Bild von einem obskuren Sektenführer machen.

Arbeit gibt es für ihn also mehr als genug. Aber er hat auch noch andere Dinge im Kopf! Neben einer Herzensangelegenheit, die ihn beschäftigt, ist er leidenschaftlicher Radfahrer. Und als solcher auch immer gerne bereit, sich mit der Obrigkeit anzulegen, wenn er Unter den Linden Rad fährt. Das ist nämlich polizeilich untersagt, stören die Radfahrer doch noch in vielen Augen „das sittliche Empfinden jedes anständigen Christenmenschen.“ Ich habe schon zuvor einiges zum Thema Radfahren in dieser Zeit gelesen und finde es immer wieder faszinierend!

Otto ist mir rundum sympathisch. Dabei ist er weit davon entfernt, fehlerfrei zu arbeiten. Er ist manchmal unbedacht, nicht selten zu spontan oder voreingenommen – er ist absolut menschlich und das mag ich sehr. Ferner schlich sich sehr schnell der Commissarius Funke, mit dem er zusammenarbeitet, in mein Herz. Auch er ein toller Charakter und ich hoffe, dass sich die Freundschaft zwischen den beiden, die sich im Buch anbahnte, fortsetzen wird.

Bewertung vom 17.09.2014
Streiter, Volker

Fressen ihn die Raben


sehr gut

Eigentlich ist Kriminaloberkommissarin Elke Hundgeburth im Urlaub, eigentlich möchte sie ein paar Tage lang nichts als die Schönheit der Alpen genießen und eigentlich bearbeitet sie normalerweise keine Kapitaldelikte, sondern das, was sie als "Wald-und-Wiesen-Delikte" bezeichnet. Als aber in der "heilen Bergwelt" ein Gastronomiekritiker verschwindet und eine Hand gefunden wird, kann sie ihren Ermittlerinstinkt nicht mehr unterdrücken. Zumal die Kollegen im Tal nach der Explosion eines Reisebusses alle Hände voll zu tun haben...

Ein recht ungewöhnlicher Krimi ist das hier! Das beginnt schon bei der Ermittlerin. In den meisten Krimis gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder ermittelt ein in Sachen Tötungsdelikten erfahrener Charakter (Kriminalbeamter, Rechtsmediziner, Detektiv oder Polizeipsychologe) oder ein absoluter Laie, der Erfahrung durch Pfiffigkeit und gesunden Menschenverstand ersetzt. Mit Elke haben wir nun eine interessante Mischung: Eine Kriminalbeamtin, die zwar kaum Erfahrung hat, was Kapitalverbrechen angeht, aber über einen ausgeprägten Ermittlerinstinkt verfügt und zudem gelernt hat, ihrem Bauchgefühl zu vertrauen.

Als nächstes wären da die Örtlichkeiten zu nennen. Wir haben es hier mit einem Tatort mitten im Gebirge zu tun. Da stellt sich gleich die Frage: Wie kommt man eigentlich da hin? Statt Zeugen hat man Wildtiere, die auch gerne mal Spuren vernichten. Und der konkrete Fall wird noch dadurch erschwert, dass das Satellitentelefon aus der Hütte gestohlen wurde, wodurch die Verbindung zur Außenwelt abgerissen ist, denn Handynetze gibt's in der Höhe nicht. Wer nun Hilfe braucht oder eine wichtige Info hat, muss erst mal absteigen. Knifflig!

Der Fall selbst bietet einen recht ungewöhnlichen Tathergang. Einen kurzen „Appetitanreger“ habe ich hier: „Mit dem Toten allein. Hier gab es keine Zeremonie, niemand, der zuschaute, wie einer der leblosen Arme angehoben wurde und die Klinge des Messers durch den Hemdstoff hinein in die Schulter glitt.“ (Mehr gibt’s nicht, lest es selber nach!) Die Auflösung war schlüssig, hat mich aber am Ende nicht überrascht.

Viele der auftretenden Charaktere sind genau so, wie man sie in diesem Szenario erwarten würde. Stereotyp? Vielleicht. Nicht selten bringt die Realität aber solche Stereotype hervor. Das Buch spielt damit, indem es Elke ihre diversen Hüttenmitbewohner in Kategorien einteilen lässt. Amüsiert hat mich regelmäßig die resolute Wirtin der Berghütte…

„Ja, brauchst gar nicht so schaun. Vor zwei Tagen hat mir einer den Schädel angeschleppt. Davor fand ein anderer eine Hand. Sind jetzt alle narrisch geworden? Müll lasst ihr im Berg liegen, aber so ein Leichenteil, das schleppt ihr an.“

Elke selbst war mir meist sympathisch, aber nicht alle ihre Aktionen bzw. Einstellungen konnte ich persönlich gutheißen. Was mir aber andererseits wieder gefiel, denn nichts ist schlimmer als ein makelloser Charakter ;-)

Für mich als leidenschaftliche Strandläuferin brachten die Schilderungen der Bergwelt und ihrer Bewohner viele interessante Eindrücke! Wobei ich an dieser Stelle aber ein kleines Manko anführen muss: Für meinen Geschmack hätten es ein paar Landschaftsbeschreibungen weniger sein dürfen. Wem aber bei sehr schönen Schilderungen von Bergen, Wäldern und Seen das Herz aufgeht, der wird nach der Lektüre vermutlich gleich den nächsten Urlaub planen.

Fazit: Solider Krimi mit ungewöhnlichem Szenario. Nur für meinen Geschmack mit ein bisschen viel Landschaftsidyll.

Bewertung vom 12.09.2014
Schami, Rafik

Eine deutsche Leidenschaft namens Nudelsalat


ausgezeichnet

Was geht in jemandem vor, der in Damaskus geboren wurde und mit 25 Jahren nach Deutschland auswandert? Wie erlebt er diese neue Heimat und die Menschen dort?

"Von außen besehen erscheint das Selbstverständliche fremd und das Fremde gewöhnlich. Ich habe vor meiner Auswanderung nie gedacht, dass ich etwas in mir trage, was je nach Blickwinkel als "Geschenk" oder als "Strafe" der Wüste betrachtet werden kann. Ich lebte unter meinesgleichen, und alle Araber tragen diese Kultur in sich, ohne darüber nachzudenken. Am Frankfurter Flughafen an jenem eiskalten 19. März 1971 merkte ich zuerst einmal, dass ich viel zu dünn angezogen war. ... Das war der erste, aber bedeutungsschwere Hinweis, dass hier das Leben anders sein würde. Von Kulturschock konnte bei mir keine Rede sein, da ich mit der europäischen Kultur, in ihrer französischen Spielart, vertraut war, aber ich spürte, dass der Fremde plötzlich zu einem Kind wird, das neu lernen muss zu gehen, um die unbekannte Welt im Tempo einer Schildkröte zu ertasten, zu riechen, zu schmecken und zu fühlen. Das alles war für mich aufregend, und ich beobachtete nicht nur die Menschen um mich herum, sondern vor allem mich selbst und staunte über die Veränderungen in meinem Leben."

Rafik Schami erzählt Geschichten. Geschichten aus seinem Leben oder Geschichten, die ihm selber erzählt wurden. Vieles wird er sich auch ausgedacht haben, aber eins haben alle Geschichten gemeinsam: sie geben Einblicke in die arabische Mentalität. Liebevoll und mit einem Augenzwinkern werden die Unterschiede zwischen den Kulturen ergründet - und dabei kommt keiner zu kurz! Tatsächlich schafft Schami es als Kenner beider Kulturen (nach über 40 Jahren in Deutschland) beide Seiten objektiv zu beurteilen und über jeden nette und amüsante Dinge zu berichten. Natürlich gibt es auch kritische Bemerkungen, aber die sind – wie ich finde – so schön formuliert, dass ihm eigentlich keiner böse sein dürfte…

"So großartig Araber als Gastgeber sind, als Gäste sind sie furchtbar. Sie sagen, sie kommen zu dritt um zwölf Uhr zum Mittagessen. Um sieben Uhr abends treffen sie ein. Und vor Begeisterung über die Einladung bringen sie Nachbarn, Cousins, Tanten und Schwiegersöhne mit. Aber das bleibt ihr Geheimnis, bis sie vor der Tür stehen. Sie wollen dem Gastgeber doch eine besondere Überraschung bereiten und dessen Freude durch voreilige Anmeldung nicht schmälern."

Sehr schön auch, wenn Schami über sein Bemühen schreibt, gewisse Feinheiten der deutschen Sprache und der deutschen Umgangsformen zu begreifen:

"Auch wenn den Deutschen das Essen gar nicht schmeckt, bleiben sie sehr höflich. Sie lächeln und sagen knapp: "Interessant." Ich habe mich jahrelang gefragt, warum die Deutschen, Enkel der Dichter und Philosophen, ein Essen interessant finden. Ein Essen kann nicht interessant sein. Es ist weder eine mathematische Gleichung noch eine Naturerscheinung. Es schmeckt oder es schmeckt nicht. Ich hielt den Ausdruck für unpräzise, unbeholfen. Erst vor kurzem konnte ich diese höchst verschlüsselte Aussage dechiffrieren. Meine Güte! Die heutigen Deutschen machen ihren Vorfahren alle Ehre. Interessant - das ist eine geballte, auf ein Wort verdichtete Kritik, die die Verrisse des unbarmherzigsten Literaturkritikers wie süße Limonade wirken lässt. Sie meinen: Interessant, wie man aus wunderbaren Produkten und Ingredienzien so ein scheußliches Gericht kochen kann. Das alles steckt in diesem einen Wort."

Ich habe dieses Buch jetzt nicht zum ersten Mal gelesen. Ich stelle fest, dass ich immer wieder mal reinschaue, ein oder zwei Geschichten lese und mich freue - über Schamis wunderbare Art sich auszudrücken, mich als Leser zu unterhalten und zu amüsieren und um Verständnis zu werben für ein besseres Miteinander. Ich ertappe mich dann häufig bei dem Gedanken, dass ich mir wünsche, dass jeder eine solche Bereitschaft aufbringen würde, sich der fremden Kultur zu nähern.