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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 929 Bewertungen
Bewertung vom 25.02.2013
Thome, Stephan

Fliehkräfte


gut

Wenn die Kinder aus dem Haus sind

Schon der Titel des Romans von Stephan Thome deutet an, worum es geht. Fliehkräfte sind jene Kräfte, die beim Abweichen vom geraden Weg entstehen und eben diese Abweichung zu verhindern suchen. Protagonist der in der Gegenwart angesiedelten und im Präsens erzählten Geschichte ist ein honoriger Philosophieprofessor, dessen wohlgefälliges, bürgerliches Leben im beschaulichen Bonn aus den Fugen geraten ist. Den Rahmen der Handlung skizziert Thome sehr gekonnt durch die Pointe eines eingefügten Witzes. «Menschliches Leben beginnt, wenn die Kinder aus dem Haus sind» erklärt lebensklug ein Rabbiner seinen verdutzten katholischen und evangelischen Berufsgenossen, die natürlich Zeugung respektive Geburt als Beginn ansehen.

Prof. Hainbachs Tochter studiert in Portugal, der Heimat ihrer Mutter, seine Frau arbeitet als Assistentin eines chaotischen Theatermenschen in Berlin, man führt seit zwei Jahren eine Wochenendehe. Auch beruflich ist er frustriert durch die Reformwut an den Universitäten, die selbst vor seiner Fakultät nicht haltmacht. Als er überraschend ein Angebot eines befreundeten Verlegers aus Berlin bekommt, steht er plötzlich vor einer folgenschweren Entscheidung. Er ist unschlüssig und flüchtet sich spontan in eine Reise, die sich als Selbstfindungstrip über viele Stationen erstreckt und als ganz persönlicher Jakobsweg bei seiner Tochter in Portugal endet.

Die durchgängig aus der Perspektive des Protagonisten erzählte Geschichte zeigt uns in vielen gekonnt eingebauten Rückblenden und Episoden recht anschaulich und stimmig seinen Lebensweg auf. Thomes Sprache ist klar und unaufgeregt, leicht lesbar und niemals langatmig. Sein Plot ist mit lebensnahen Dialogen und vielen atmosphärischen Details üppig angereichert und trifft letztendlich punktgenau die Befindlichkeiten unserer heutigen Wohlstandsgesellschaft, beschreibt zutreffend ein gegenwärtiges Zeitgefühl. Wir haben alles und sind doch nicht zufrieden, Melancholie also allenthalben. Die Personen sind treffend geschildert, bleiben aber seltsam distanziert, pralles Leben ist anders. Nur die Schwester des frustrierten Helden, die «kleine dumme Ruth», wird froh und lebensklug dargestellt, der proletarische, mit dem Leben besser zurechtkommende Gegenentwurf zu all den anderen eher schwermütig bourgeoisen Charakteren des Romans.

Der Vergleich zu manchen hoch gelobten amerikanischen Autoren drängt sich bei diesem Buch geradezu auf. Thome steht da durchaus in gleicher Erzähltradition mit seiner üppig angelegten Prosa, deren Lektüre nicht minder angenehm ist, wenn man diesen Stil denn mag. Ein entscheidender Vorteil ist sogar, für mich jedenfalls, das nichtamerikanische Milieu, in dem sich diese Geschichte abspielt. Dass allerdings auch hier sehr viele Klischees bemüht werden, die Anspielungen unübersehbar dick aufgetragen werden, mag manchen Leser stören, liegt aber doch voll im Trend der schon erwähnten, gattungstypischen Literatur. Über Gehalt und Motive, über die Botschaft dieser Geschichte kann man trefflich streiten, und man tut es ja auch, bei den Rezensionsprofis genauso wie bei den Kritikerlaien. Ohne Zweifel wird man gut unterhalten, bekommt manchen interessanten Einblick und erhält ganz unvermutet Schützenhilfe bei der eigenen Standortbestimmung, falls man denn bereit ist, über den Stoff hinaus auch noch ein wenig weiter zu denken.

2 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.02.2013
Franzen, Jonathan

Die 27ste Stadt


schlecht

Die uninteressante Natur war uninteressant

«Es stürmt zum Obdachlosenverrecken» - und ich bin froh, ein Buch aus der Hand legen zu können, das solche hirnrissigen Sätze enthält. Für diesen und manchen anderen sprachlichen Lapsus mag der Übersetzer verantwortlich sein, für den miserablen, total misslungenen Roman ist Jonathan Franzen allein verantwortlich. Sein Erstling von 1988 ist das Schlechteste zwischen zwei Buchdeckeln, was mir seit vielen Jahren in die Hände gekommen ist, und das war nicht wenig!

Interessant ist genau genommen eigentlich nur die Frage, warum dieser Roman fast unisono so verrissen wird! Sind wir alle, die wir dieses Buch als grottenschlecht bezeichnen, dem Autor auf den Leim gegangen? Ist das Ganze einfach nur surrealistisch? Oder ist es etwa ironisch gemeint, eine Satire, und wir haben es nicht gemerkt, haben Hinweise darauf übersehen? - Natürlich nicht! Er meint es ernst, der Autor!

Für mich das größte Ärgernis ist der absolut unglaubwürdige Plot, eine wahrlich aberwitzige Konstruktion. Eine junge Inderin wird Polizeichefin in St. Louis (sic!) und zettelt eine Verschwörung an, deren letztendliches Ziel ebenso rätselhaft wie ominös bleibt. Ihren hartnäckigsten Widersacher bekämpft sie, indem sie sein Familienglück komplett zerstört und ihn damit zermürbt. Sie scheitert aber am Ende, weil das Referendum über die von ihr betriebene Fusion von Stadt und Landkreis grandios misslingt. Was soll das alles, fragt man sich erstaunt, denn man wird derartig mit erzählerischen Details zugemüllt, dass man schnell jeden Überblick und erst recht jedes Interesse verliert. Franzen spinnt in seiner naiven Gut-Böse-Sicht immer wieder neue Erzählfäden, die irrationale Handlung mäandert noch üppiger als das Mississippi-Delta, und als Krönung baut er auch noch unlogische und völlig überzogene Thrillerelemente mit ein. Seine in Regimentsstärke aufmarschierenden, meist unsympathischen Protagonisten sind widersprüchliche Figuren, deren Absichten undurchschaubar bleiben.

Auch sprachlich ist der mit 670 Seiten recht dickleibige, geschwätzige US-Roman ein einziges Fiasko. «Die uninteressante Natur war uninteressant» erfahren wir verdutzten Leser vom tiefsinnigen Autor, wie gut, dass fünf Seiten später Franzen endlich fertig war mit seiner unsäglichen Geschichte!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.02.2013
Wallace, David Foster

Der Besen im System


sehr gut

Für Leser mit Sinn für das Absurde

Nach der Lektüre von «Unendlicher Spaß», seinem berühmten Erfolgsroman, war ich nun auch auf den Erstling «Der Besen im System» von David Foster Wallace neugierig, schon der Titel weckt ja gewisse Assoziationen. Eines vorweg: Es macht wenig Sinn, bei diesem amerikanischen Autor der Postmoderne eine Inhaltsangabe zu schreiben, wie es der Klappentext versucht. Dieser Roman folgt keiner literarischen Konvention und ist deshalb schwer fassbar mit den gängigen Maßstäben. Er ist surreal wie ein Bild von Salvatore Dalí, aber anders als in der Malerei ist in der Literatur ja eher Rembrand gefragt, ein klar erkennbarer und nachvollziehbarer Plot jedenfalls. Den sucht man hier vergeblich, auch wenn uns der schon erwähnte Klappentext das vorgaukelt und uns damit (bewusst?) in die Irre führt. Wittgenstein kommt nicht vor, und Ur-Oma Lenore bleibt ohne erkennbaren Grund spurlos verschwunden, bis zum Schluss. Der übrigens, wie es sich gehört im Surrealismus, mitten im Satz, auf Seite 624, abrupt endet, ohne Schlusspunkt eben, arglose Leser könnten an einen Fehldruck glauben.

Ähnlich wie beim Opus magnum findet sich der Leser auch in diesem satirischen Roman mit einer ziemlich komplexen Syntax konfrontiert, die seine volle Aufmerksamkeit fordert, ihn dann aber umso mehr mit spaßigen, unerwarteten, aufregenden Gedanken belohnt und ihn viele abstruse Situationen miterleben lässt in den diversen Handlungssträngen. Der unglaubliche Wortreichtum des Autors wird radikal, ironisch und völlig absurd eingesetzt. Neben hochgestochenen Fremdwörtern findet man absoluten Nonsens als Wortgebilde und, völlig gleichberechtigt, auch den vulgären Jargon des Alltags. Mit diesem Instrumentarium formt er ein literarisches Werk, das seinen Reiz gerade darin hat, in kein Klischee zu passen.

Negative Kritiken sprechen von einem durchgedrehten Roman, in dem ein kreatives Chaos herrsche, und bemängeln den Patchwork-Charakter der diversen, ziemlich wirr zusammengefügten Textabschnitte und Kapitel, einem Zettelkasten ähnlich. Da haben sie wohl Recht, einen Spielfilm könnte man schwerlich machen aus diesem Romanstoff, obwohl – man soll nie nie sagen! Denn in einem Film könnte man alle diese neurotischen Protagonisten und schrillen Charaktere wunderbar darstellen, sämtliche Figuren dieses Romans werden einem nämlich schnell sympathisch, so meschugge sie auch sein mögen. Im Kopfkino des Lesers funktioniert das jedenfalls bestens.

Für mich ist «Der Besen im System» nicht nur eine gnadenlose Abrechnung mit dem American Way of Live, sondern darüber hinaus allgemein mit unserer neurotischen Informationsgesellschaft, eine wirklich amüsante Lektüre außerdem, sehr empfehlenswert insbesondere für Leser mit Sinn für das Absurde, sie werden voll auf ihre Kosten kommen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.02.2013
Loher, Dea

Bugatti taucht auf


gut

Lektüre mit Bonus

Wer je die herrlichen Oldtimer der Collection Schlumpf in Mühlhausen gesehen hat, dürfte die Erregung nachvollziehen können, die der Name Bugatti bei mir auslöst als geradezu idealtypische Verkörperung anekdotenreicher Automobilgeschichte. Die aufsehenerregende Bergung des mysteriösen Autowracks im Lago Maggiore vor Ascona, die diesem Buch seinen Titel gab, ging seinerzeit durch alle Medien. Nachdem die erfolgreiche Dramatikerin Dea Loher mit ihrem Debütroman gleich auf der Longlist des Deutschen Buchpreises aufgetaucht ist, ähnlich spektakulär wie das 75 Jahre alte Bugattiwrack auf dem Umschlagbild, war die Lektüre vollends unaufschiebbar geworden für mich.

Realer Hintergrund des Romans ist neben der Bergung der sinnlose Totschlag eines jungen Mannes während der Fasnacht in Ascona. Die Autorin erzählt ihre klar gegliederte Geschichte chronologisch korrekt in drei Abschnitten, die sich sowohl vom Umfang als auch vom Schreibstil her deutlich unterscheiden. In dem für mich schwächsten und Gott sei Dank kurzen ersten Abschnitt gewährt sie in tagebuchartiger Form einen Einblick in die depressiven Nöte des Bruders von Ettore Bugatti, die im Selbstmord enden. Dem Roman würde nichts fehlen, hätte die Autorin diese 25 Buchseiten einfach weggelassen, sie tragen rein gar nichts bei zu ihrer ansonsten klug geformten Geschichte.

Der zweite Abschnitt ist mit „Der Mord“ betitelt. In neun Kapiteln sauber gegliedert ist der Autorin die minutiöse Schilderung der Vorgeschichte und der unfassbaren Umstände einer verhängnisvollen tödlichen Prügelei meisterhaft gelungen, das ist spannend zu lesen wie ein Krimi. Besonders die im Futur abgefassten, die Gerichtsverhandlung vorwegnehmenden Aussagen der reuelosen Schläger sind beklemmend, man ist entsetzt und völlig sprachlos. Nicht minder gut gelungen ist der dritte Abschnitt über die Bergung des Bugatti, und hier nun laufen die Fäden zusammen, die Hebung des Wracks erfolgt zum Gedenken an das Opfer. Jordi, der unerschütterliche Protagonist dieses mehr als die Hälfte des Romans umfassenden Abschnittes, will mit seiner zunächst aussichtslos erscheinenden Aktion dem geschehenen Bösen das Gute entgegensetzen als Signal, will der Tragödie wenigstens nachträglich etwas nehmen von ihrer Sinnlosigkeit.

Auch wenn ich meinen ganz persönlichen Bugatti-Bonus abziehe ist der klug aufgebaute Roman eine lesenswerte, anschaulich geschriebene und mit ihren vielen sorgfältig recherchierten Details durchaus bereichernde Lektüre, die seine Leser angenehm unterhält.

Bewertung vom 25.02.2013
Foer, Jonathan Safran

Extrem laut und unglaublich nah


ausgezeichnet

Keine brav herunter geschriebene Prosa

Dies ist zweifellos der gelungene Roman eines kreativen jungen Autors, über den an vielen Stellen schon viel Kluges geschrieben steht. So viel, dass einem begeisterten Leser wie mir eigentlich nur übrig bliebe, ein paar bissige Kommentare zu den auffallend wenigen negativen Rezensionen zu schreiben, das Meiste ist schon gesagt. Es wird dabei aber häufig der Fehler gemacht, einen solchen Roman nach Gesetzen der Logik zu analysieren, wo es hier doch eindeutig um Irrationales geht, das wird einem ja schon nach wenigen Sätzen klar. Ein neunjähriger Protagonist ist zwar nicht völlig neu, und wenn der dann, wie die Figur bei Grass, auch noch Oskar heißt, ist doch eindeutig eine ganz andere, eine besondere Perspektive gegeben, da muss halt auch der Rezensent mal über seinen Schatten springen.

Denn genau diese Sicht eines neunmalklugen Jungen macht das Buch zu einer äußerst vergnüglichen Lektüre, ich hab mich lange nicht mehr so gut amüsiert, so oft laut aufgelacht. Der Autor brennt ein Feuerwerk an skurrilen Einfällen ab, und äußerst witzige Wortspiele, aber auch die ganz subtilen Beziehungen zwischen den teils urkomischen Gestalten lassen einen immer wieder schmunzeln. Besonders berührend fand ich die Odyssee zu den verschiedenen ‚Blacks’, wie schön könnte das Leben sein, geht es einem da durch den Kopf, wenn wir uns alle so ungezwungen geben, so freundlich aufeinander zugehen würden wie diese vielen Namensträger, die Oskar da unverdrossen aufgesucht hat.

Und all das spielt vor todernstem Hintergrund, 9/11 insbesondere, aber auch Dresden und Hiroshima, ohne dass es jemals unangemessen wirkt. Es muss erlaubt sein, die Welt eben auch mal aus einer herzerfrischend anderen Perspektive zu sehen, selbst wenn es so makaber wird wie im Daumenkino am Schluss des Buches, bei dem einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Diesen extremen, ungewöhnlichen Spagat zwischen Tragödie und Komödie hat Jonathan Safran Foer in einer fulminanten Sprache und mit ausgefallenen typografischen Verzierungen versehen grandios bewältigt. Endlich mal keine brav herunter geschriebene Prosa, die allen Konventionen folgt, sondern ein unbekümmert anderer Stil, der die Literatur bereichert und damit ganz besonders auch denjenigen, der sich darauf einzulassen vermag als Leser. Er wird fürstlich belohnt!

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.02.2013
Walser, Martin

Tod eines Kritikers


sehr gut

Ein Verriss und seine Folgen

Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman. Es lohnt sich nicht, auch nur ein Kapitel, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen. Lohnt es sich, darüber zu schreiben? so fragte Marcel Reich Ranicki 1976 in der FAZ unter dem Titel «Jenseits der Literatur» gleich zu Beginn seiner Rezension von Martin Walsers Roman «Jenseits der Liebe». Dem wollte ich natürlich auf den Grund gehen und habe den derart niedergemachten Roman nun auch noch gelesen – RR hat Recht, sei angemerkt. Im Jahre 2010 habe ich Martin Walser bei einer Lesung im Münchner Literaturhaus erlebt, in der er seinen dritten Band mit Tagebüchern vorgestellt hat. Walser, das war an diesem Abend deutlich zu spüren, leidet immer noch unter dem damaligen Verriss, bei ihm schwang seinerzeit, wie er ganz unverhohlen zugab, neben seinem gekränkten Ego auch die Angst vor einem Auflagerückgang seiner Bücher mit, also vor den finanziellen Folgen. Nicht nur für diesen Verriss, sondern auch für einige andere aus gleicher Feder ist der heftig umstrittene Roman «Tod eines Kritikers» nun Martin Walsers späte literarische Rache.

Es ist ein amüsanter Einblick in den Literaturbetrieb, unverkennbar eine Satire, geschrieben von einem Insider, einem ausgesprochenen Vielschreiber zudem, dessen literarische Qualitäten mitunter recht kontrovers diskutiert werden. Wir erleben in Walsers Buch eine Abrechnung mit einer einzigen Person, dem tückischen und damit als sadistisch entlarvten Kritiker-Papst, dessen Selbstüberschätzung grenzenlos zu sein scheint. Hat er doch durch das Medium Fernsehen eine Bühne gefunden, einen Thronsaal vielmehr, wie Walser das äußerst süffisant beschreibt, die ihn geradezu allmächtig werden lässt. Leider wird vieles in dieser opulenten Geschichte, mancher Witz, manche Anspielung, nur Insidern verständlich sein. Und auch manche seiner, anschaulich und mit allen ihren Macken beschriebenen Protagonisten, realitätsnahe Karikaturen ihrer selbst, werden nur intime Kenner der Literaturszene zutreffend demaskieren können. Aber das tut dem Lesespaß des Außenstehenden keinerlei Abbruch, wenn er denn aufnahmefähig ist für eine genüsslich erzählte, einem Kriminalroman nicht unähnliche Geschichte, die mit unendlich vielen Arabesken geschmückt langsam einem, wäre man nicht vorinformiert, durchaus überraschenden Ende entgegen treibt.

Walsers konjunktivträchtige Erzählweise mit durchweg indirekter Rede ist sicherlich nicht jedermanns Sache. Nach einer gewissen Eingewöhnungszeit findet man sich aber gut damit zurecht und empfindet sie schließlich sogar als wirkungsvolles Stilmittel in einem Roman, der ja die Literatur selbst zum Inhalt hat. Flüssig geschrieben ist dieser Roman jedenfalls nicht, er erfordert die volle Aufmerksamkeit des Lesers, damit er seine Wirkung entfalten kann. Dann aber schwebt der Leser in einem literarischen Universum, in dem es vieles zu bestaunen gibt. Man begegnet Nietzsche und Goethe, die mit bewundernswerter Leichtigkeit treffsicher eingebaut sind, lernt ganz nebenbei Heinrich Seuse, den deutschen Mystiker aus dem Mittelalter kennen, der Bogen spannt sich weiter bis zu Homer und mitten in die griechische Götterwelt hinein. Walsers Gedankengänge sind eine bissige Persiflage auf die Literaturszene, als ein kleines Beispiel dafür sei hier eine skurrile Idee des Kritiker-Papstes genannt, der selber gelegentlich Gedichte schreibt. In seinem Wahn, immer der Beste zu sein, plant er seine Lyrik von seiner Frau ins Französische übersetzen zu lassen und unter Pseudonym zu veröffentlichen. Niemand Geringerer als ausgerechnet Hans Magnus Enzensberger würde dann diese Gedichte ins Deutsche zurück übersetzen, und er könne sich später als der wahre Autor zu erkennen geben und mit den Originalen zeigen, dass er die bessere Lyrik schreibe. Wer für Derartiges eine Antenne hat, der kommt auf seine Kosten bei diesem Roman. Er wird sich, wie ich, für einige Lesestunden vergnüglich unterhalten.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.02.2013
Saramago, José

Alle Namen


ausgezeichnet

Eine Parabel auf uns alle

«Jemand musste Josef K. verleumdet haben» lautet der erste Satz in dem berühmten Roman ‚Der Prozess’ von Franz Kafka. Jemand musste mir das falsche Buch untergeschoben haben, ging es mir unwillkürlich durch den Kopf nach einigen wenigen Sätzen von José Saramago. Die Schilderung einer völlig absurden Bürokratie an einem anonym bleibenden Schauplatz war dann aber auch die einzige Gemeinsamkeit beider Romane. Im Gegensatz zu Kafkas lakonischer und bedrohlich klingender, unheimlich wirkender Prosa nämlich, die ja häufig mit dem gattungsprägenden und sogar dudenwürdigen Attribut kafkaesk umschrieben wird, - welche Ehre für einen Dichter! - im Gegensatz dazu also ist der Schreibstil von José Saramago regelrecht anheimelnd, darüber hinaus aber vor allem äußerst witzig und von einer immer wieder zum Nachdenken anregenden philosophischen Tiefe. Diesem Romancier ist zu Recht der Nobelpreis von 1998 für ein Gesamtwerk verliehen worden, »dessen von Fantasie, Leidenschaft und Ironie geprägte Parabeln den Menschen die trügerische Wirklichkeit begreifen lassen«, wie die Jury es formuliert hat. ‚Alle Namen’ ist eine Lektüre, bei der man sich pudelwohl fühlt, laut lacht und weitersuchend sinniert, und so was kann regelrecht süchtig machen. Leserherz, was begehrst du mehr?

Im Unterschied zu anderen großen Autoren aus dem iberischen Sprachraum wie Gabriel García Márques oder Mario Vargas Llosa verzichtet Saramago in seinem Roman auf jedwedes Lokalkolorit und verdeutlich damit recht drastisch, dass sein Thema alle Menschen betrifft, egal wo sie leben. Was ist der Mensch vor dem Hintergrund der ewig verrinnenden Zeit, so lautet ganz lapidar seine Frage. Aus Sicht der Bürokratie, in der Welt des Personenstandsregisters, nichts weiter als eine Abfolge von Geburt und Tod, ergänzt durch Heirat und zuweilen auch Scheidung, die ja ebenfalls dazu gehört. Mit diesen wenigen Daten ist Senhor José, der Held dieser satirischen Geschichte, als Amtsschreiber in seiner aberwitzigen Behörde befasst. Jeder Mensch ist dort eine Karteikarte, die seinen Namen trägt und die nach Namen sortiert verwahrt wird, getrennt nach Lebenden und Toten, und das seit undenklichen Zeiten. In diesem Register wird nichts gelöscht, werden keine Karteien vernichtet, es enthält also alle Namen, und genau das ist auch die erklärte Devise dieser Behörde, die sich im Romantitel wiederfindet. Zwangsläufig wächst das monströse Archiv unaufhaltsam immer weiter, was zu einer permanenten baulichen Erweiterung des Amtsgebäudes zwingt. Als sich ein Heraldikforscher irgendwann in dem riesigen labyrinthischen Papierlager der Toten verirrt und nur durch Zufall nach einer Woche noch lebend aufgefunden wird, ergeht der streng zu befolgende Diensterlass, das Archiv künftig nur noch mit dem Ariadnefaden gesichert zu betreten.

Der Roman ist gespickt voll von ähnlich skurrilen Einfällen des Autors, der immer wieder mit Metaphern und Symbolen virtuos seine philosophische Thematik verdeutlicht. Sr. José, der stille, pflichtbewusste Protagonist, durchbricht zaghaft seine strengen beruflichen Zwänge. Er widmet sich privatim einem Zufallsfund, der sich für ihn als Trouvaille, als glücklicher Fund erweist, die Karteikarte einer unbekannten, 36jährigen Frau nämlich. Seine Obsession, sie zu suchen, den leibhaftigen Menschen hinter dieser Karteikarte zu entdecken, verblüfft sogar ihn selbst. Der Leser erlebt diese wahnwitzige Suche als spannende Groteske mit einem durchaus überraschenden Ende. Alles das ist ein detektivisches Abenteuer für den unbeholfenen Sr. José, der sogar kriminelle Mittel einsetzt bei seiner verbissen verfolgten Mission. Durch die mannhafte Überwindung seiner drögen Alltagsroutine und seiner Ängste und Schwächen erhält sein armseliges Leben plötzlich einen Sinn, auch wenn das, was er tut, rational völlig sinnlos ist. Ein grandioses Buch!

Bewertung vom 25.02.2013
García Márquez, Gabriel

Die Liebe in den Zeiten der Cholera


ausgezeichnet

Die schönste Liebesgeschichte der Welt

Vielleicht hat ja der Literatur-Nobelpreis von 1982 für »Hundert Jahre Einsamkeit« den Autor Gabriel García Márques zu seinem berühmten Liebesroman mit dem neugierig machenden Titel «Die Liebe in den Zeiten der Cholera» animiert. Ich habe beide Bücher gelesen und finde den drei Jahre nach der Preisverleihung erschienenen Liebesroman mindestens ebenso nobelpreiswürdig. Es ist ein romantischer Roman über eine Liebe, die sich über die Zeit und alle Hindernisse hinwegsetzt. Man kann ihn als eine Allegorie für den abstrakten Begriff der Liebe sehen, die nach der Lektüre rational fassbarer wird, denn es gelingt dem Autor, das Phänomen Liebe zwischen Mann und Frau mit seiner bildhaften, wunderschön klaren Sprache feinfühlig und phantasiereich zu beschreiben. Und nicht nur das, Márquez widmet sich dem Thema sehr gründlich und in allen seinen Facetten.

Da ist zunächst die unschuldige Verliebtheit der beiden Protagonisten, die zickige, unnahbare Hermina und der tollpatschige, romantische Florentino, denen die unheilvolle Statusversessenheit des Vaters, seine Hoffnung auf eine gute Partie für die Tochter, jede Chance auf eine gemeinsame Zukunft verbaut. Ebenso wird das Wachsen der Liebe in der Vernunftehe Herminas mit der ersehnten guten Partie geschildert, einem angesehenen Arzt, der sich nach der Hochzeit bei der Entjungferung als ungewöhnlich einfühlsamer, behutsamer Liebhaber erweist und nicht zuletzt damit das Herz seiner Frau gewinnt, unbeirrbar und für ein ganzes Leben lang. Geschildert werden aber auch diverse eher liebesferne Sexabenteuer des verschmähten Protagonisten Florentino, der im hohen Alter selbst vor einer ihm anvertrauten 14jährigen Verwandten nicht haltmacht. Er ist ein Macho, der seine Liebschaften wie ein Buchhalter dokumentiert, 622 an der Zahl, und dabei mag manchmal sogar Liebe im Spiel gewesen sein. Márquez erzählt vom prallen Leben in der Karibik, ohne je anstößig zu werden, aber er schreibt alles das aus einer unverkennbar männlichen Sicht. Amüsant ist es trotzdem! Sogar dass zwischen Mann und Frau auch eine reine Kameradschaft möglich ist wird glaubwürdig erzählt, eine Farbige erweist sich als Glücksfall für die Firma des Onkels von Florentino und wird zur echten Freundin, die er aufrichtig liebt, ganz ohne Sex. Und schließlich wird das heikle Thema der Altersliebe einschließlich sexueller Erfüllung sehr subtil erzählt, wenn sich die Protagonisten endlich näher kommen, sich mit faltigen Händen berühren, sich an ihren verwelkten Körpern laben, ohne dass es peinlich wird für den Leser.

Florentinos Liebe grenzt an Obsession, ob da nun von wahrer Liebe erzählt wird oder von einer psychischen Störung, das sei dahingestellt. Máquez erreicht durch Rückblenden, durch eine sehr geschickt aufgebaute, nicht chronologisch erzählte Handlung eine Spannung, die den Leser bis zur letzten Seite gefangen hält. Auf dem Weg dorthin erfährt man viel über das Leben im postkolonialen Kolumbien, wird mit genüsslich erzählten Begebenheiten unterhalten und mit vielen Personen konfrontiert, die einem schnell sympathisch werden wie der Fotograf am Anfang oder der Kapitän am Schluss des Romans, um nur zwei zu nennen. Und der Kapitän ist es dann auch, der die Cholerafahne aufzieht als Metapher für eine Liebe, die der Welt total entrückt ist.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.02.2013
Suter, Martin

Der Koch


schlecht

Geistige Schonkost, kein Feinschmeckermenu

Ich habe das Buch „Der Koch“ von Martin Suter erstaunt zur Seite gelegt und mich gefragt, warum ich bis zum Ende durchgehalten habe. Hoffnung hatte mir nach wenigen Seiten die süffisante Schilderung der Kundschaft eines Nobelrestaurants gemacht, gutsituierte ältere Herren verschiedenster Profession, alle in Begleitung ihrer „großen, dünnen, blonden zweiten Frauen“. Nach „Die dunkle Seite des Mondes“ hatte ich keine hohen Erwartungen an diesen Autor, aber auf das Thema Kulinarik war ich denn doch neugierig. Und man will ja auch jedem Autor seine Chance geben, vielleicht wird es am Ende doch noch interessant, unterhaltend oder gar spannend, also lese ich fast immer alles brav bis zum Ende. Leider kam nichts dergleichen, es blieb fade bis zur letzen Seite.

Gleich bei der ersten minutiösen Beschreibung eines der kulinarischen Meisterwerke des tamilischen Kochs und Protagonisten fragt man sich nach dem Sinn solcher Rezepte, die ja wohl weit jenseits des Erfahrungshorizontes fast aller Leser dieses Bestsellerautors liegen dürften. Und wer gar auf die Idee käme, Derartiges nachzukochen, scheitert unweigerlich an der Beschaffung der exotischen Zutaten, von den noch exotischeren Gerätschaften zu Herstellung solcher Kreationen ganz zu schweigen, wer hat denn schon einen ‚Rotationsverdampfer’ in seiner Küche? Den einen oder anderen Leser mag der Einblick in die Molekularküche vielleicht interessieren, für mich war es jedenfalls sterbenslangweilig.

Bei Suter beliebte Versatzstücke wie Politiker, Nobelrestaurants, Fünf-Sterne-Hotels, reiche Geschäftsleute und die begleitenden dienstbaren Geister des horizontalen Gewerbes, die üblichen Verdächtigen also, finden sich natürlich auch in diesem Buch, hinzu kommt hier die Problematik der Tamilen in der Schweiz, Waffenschiebereien, der Bürgerkrieg in Sri Lanka, sogar die Finanzkrise ist eingebaut. Mit diesen literarischen Zutaten und einfach strukturierten, kurzen Sätzen schreibt Suter offensichtlich für eine ganz spezifische Leserzielgruppe, für Leute, die schmökern wollen. Der Plot lässt kein Klischee aus und plätschert spannungslos seinem vorhersehbaren Ende entgegen, immer nach dem Motto ‚bloß keine Überraschungen’. Die Figuren bleiben allesamt seltsam farblos, man gewinnt keinen Zugang zu ihnen. Geistige Schonkost also, kein Feinschmeckermenü.

Schade eigentlich, denn als Nachttisch-Lektüre wäre das Buch durchaus geeignet, geht es doch um die vorgeblich aphrodisische Wirkung von raffiniert zubereiteten Speisen. Und so gelingt es dem Protagonisten zu Beginn des Buches denn auch auf Anhieb, mit einem solchen Menu seine attraktive Kollegin ins Bett zu kriegen. Wobei die sich am nächsten Tag auch noch als Lesbierin outet, was solch spezifisches „Love Food“ geradezu mystisch erhöht. Wer nach dieser Einführung ins Thema im Weiteren aber prickelnde Lektüre erwartet, wird bitter enttäuscht. Dieses Buch ist so unerotisch wie „Pippi Langstrumpf“, steriler geht es kaum. Als beim Happy End die Liebste ihren Koch beim Frühstück fragt, ob er denn so ein „Love Menu“ auch mal für sie kochen würde, lautet die lakonische Antwort: „Nie“. Das sagt wohl alles, über den Protagonisten wie über den Autor.

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.