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Igelmanu
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Mülheim

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Insgesamt 1033 Bewertungen
Bewertung vom 05.10.2014
Hoffman, Beth

Ein Laden, der Glück verkauft


ausgezeichnet

„Das stimmt nicht, Mama. Die Welt ist wunderschön. Du bist nur so damit beschäftigt, ständig von allem enttäuscht zu sein, dass du das gar nicht mitbekommst.“

Die junge Teddi wächst auf einer Farm in Kentucky auf. Schon früh entdeckt sie, dass sie eine große handwerkliche Geschicklichkeit hat. Sie liebt es, alte Möbel, die andere Menschen weggeschmissen haben, wieder herzurichten und wunderschön aussehen zu lassen. Als sie älter wird, entsteht daraus ihr Zukunftswunsch: Sie möchte Möbel bearbeiten und später mal ihren eigenen Antiquitätenladen besitzen. Verständnis findet sie nur bei ihrem Vater. Ihre Mutter hingegen ist davon überzeugt, dass Teddis Pläne zum Scheitern verurteilt sind und drängt sie, „etwas Vernünftiges“ zu machen. Doch Teddi ist nicht gewillt, ihre Träume zu begraben und verlässt ihr Zuhause. In Charleston beginnt sie ein neues Leben, in dem vieles glücken wird. Doch die Beziehung zu ihrer Mutter bleibt angespannt und dann ist da auch noch ihr kleiner Bruder – ein ganz besonderer Junge…

Dieses Buch hätte ich im Laden vermutlich nicht mitgenommen. Vermutlich hätte ich es mir nicht mal näher angeschaut. Die Blumen wären ja noch gegangen, aber den Titel finde ich persönlich ganz schön gruselig. Der Originaltitel lautet: „Looking for me“ und ist in meinen Augen ein sehr viel zutreffenderer Titel für dieses Buch! Ich bin jedenfalls sehr froh, dass ich mir trotzdem die Leseprobe angeschaut hatte, sonst wäre mir dieses wundervolle Buch wohl entgangen.

Lösen wir uns also mal von dem Titel. Denn sicherlich spielt der Antiquitätenladen eine nicht unerhebliche Rolle, aber nur, weil er Teddi ermöglicht, eine Arbeit zu tun, die sie wirklich liebt. Zugegebenermaßen fand ich es aber sehr interessant, mit welcher Begeisterung sie an alte, total heruntergekommene Möbelstücke herangehen und mit welcher Kreativität sie daraus regelrechte Kunststücke entstehen lassen konnte.

Ein ganz wichtiger Punkt im Buch ist die Mutter-Tochter-Beziehung. Die beiden Frauen scheinen nichts gemein zu haben, unschöne Erinnerungen belasten das Verhältnis. Noch als erwachsene Frau kämpft Teddi um Anerkennung und Verständnis. Immer wieder fragt sie sich, wie ihre Mutter nur ein so negativ denkender Mensch werden konnte.
„Warum warst du nur immer so unglücklich? Was hat dich so werden lassen?“

Und dann die Beziehung zu ihrem kleinen Bruder Josh! Von Anfang an liebte sie ihn und passte auf ihn auf. Die kleinen Episoden, die das Miteinander der beiden schildern, gehen richtig ans Herz. Umso mehr, als ausgerechnet Josh Teddi den größten Kummer bereiten wird. Schon früh erfährt der Leser, dass irgendetwas mit ihm geschehen sein muss. Auf die Auflösung muss man allerdings beinahe bis zum Schluss warten. Ein Grund, warum ich das Buch gegen Ende hin gar nicht mehr aus der Hand legen mochte.

So ist also außerdem für Spannung gesorgt (was ich nach dem Titel nicht vermutet hätte). Die diversen zwischenmenschlichen Probleme sind so eindringlich beschrieben, dass ich mich Teddi stets nah fühlte. Ohnehin war sie mir durch und durch sympathisch, sogar so sehr, dass ich mich über die irgendwann noch hinzukommende Liebesgeschichte freute ;-)

Man mag dieses Buch auch als Mutmacher verstehen. Teddi hört meist auf ihr Bauchgefühl – und liegt damit häufig richtig. Vielleicht sollte man hin und wieder doch etwas mehr wagen.

Lebendig geschrieben, mit viel Gefühl und mit Liebe zur Natur. Ein Buch, das mich beim Lesen fesselte und das ich am Ende mit einem glücklichen Gefühl im Bauch zuklappte. Wunderschön.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.10.2014
Jens Rassmus

Ein Pflaster für den Zackenbarsch


ausgezeichnet

„Hallo?“, sagte der Doktorfisch müde. „Ich bin’s“, meldete sich eine tiefe Stimme. „Was gibt es, Wal?“, fragte der Doktorfisch. „Mir geht es schlecht.“ „Wieso?“ „Ich habe Bauchweh.“ „Ist es schlimm?“ „Ja.“ „Na gut“, seufzte der Doktorfisch, „wir kommen. Wo schwimmst du gerade rum?“ „Ich weiß nicht so genau. Irgendwo im Meer.“ „Aha.“ Der Doktorfisch überlegte einen Moment. „Sing mal was!“ „Singen? Ich? – Ich kann nicht singen.“ „Du bist ein Wal. Alle Wale können singen.“ „Aber nicht die, die Bauchschmerzen haben.“ „Versuch es einfach. Hauptsache, laut.“
Der Doktorfisch schaltete sein Muschelhandy aus und lauschte in die Weite des Ozeans. Schließlich vernahm er in der Ferne ein sehr trauriges und sehr langgezogenes Geräusch. Es klang, als würde jemand einen Öltanker zersägen. „Dass es ihm so schlecht geht, hätte ich nicht gedacht“, sagte der Kofferfisch.

Der Doktorfisch und sein Assistent, der Kofferfisch, haben alle Flossen voll zu tun. Ständig ist irgendwo irgendein Fisch krank und wie es sich für einen guten Arzt gehört, eilt dieser dann zu Hilfe. Bei seinen Patienten ist häufig Kreativität gefragt, denn Walbauchweh, eine verknotete Krakenfamilie oder ein trauriger Zackenbarsch fordern ganzen Einsatz.

Dieses Buch mit Vorlesegeschichten hat mir großen Spaß gemacht. Die Geschichten sind liebevoll und witzig, sprühen vor Einfallsreichtum und erfreuen damit sicher nicht nur den kleinen Zuhörer, sondern auch den erwachsenen Vorleser. Ein Punkt, der – wie ich finde – sehr wichtig ist, denn mal ehrlich: Ein guter Vorleser wird zu einem noch besseren, wenn ihm die Geschichte gefällt. Und umgekehrt sinkt leicht die Vorlesequalität, wenn einen das Buch langweilt. Ein Buch, das wie dieses hier auch den „Großen“ Spaß macht, hat gute Chancen, das neue gemeinsame Lieblingsbuch zu werden.

Die neun Geschichten haben unterschiedliche Länge, so dass man – je nach Kind und Situation – die Auswahl hat, ob es drei oder neun Seiten Text sein sollen. Zu den Geschichten gibt es wunderschöne Bilder, liebevoll gezeichnet und in fröhlichen bunten Farben. Besonders gefiel mir, dass Details aus den Texten auf den Bildern entdeckt werden können. Bei der Krakenfamilie hat zum Beispiel jedes Familienmitglied ein verschiedenfarbiges Hütchen auf dem Kopf. So kann man gemeinsam suchen: Wo ist Tante Flutsch mit dem blauen Hütchen? Und wo Onkel Plopp mit dem rosafarbenen? Und wer entdeckt denn das Muschelhandy auf dem Bild? Die Gesichtsausdrücke sämtlicher Wasserbewohner zeigen deutlich erkennbar ihre Gefühle und der Doktorfisch hat natürlich eine Brille auf der – äh – Nase.

Kleine Zuhörer haben meist einen Riesenspaß, wenn in der Geschichte die Kleinen über die Großen triumphieren oder klüger sind. Wenn also beispielsweise die kleinen Fische den Hai austricksen oder die Krakenkinder den Papa beruhigen können. Denn: Was gibt es bei der Krakenfamilie an Silvester zu essen? Na?
„Raclette? – Das ist aber ein bisschen gefährlich mit den heißen Pfännchen. Ihr könntet euch die Saugnäpfe verbrennen!“ „Wir sind doch unter Wasser! Keine Angst, Papa. Da passiert schon nichts.“

Mein heimlicher Liebling war der Kofferfisch! Dieser kleine Fisch mit dem blauen Kreuz auf der Seite hat viel mit dem Pelikan Pelle aus den Petzi-Geschichten gemein: Nämlich viel Stauraum! (Wer jemals etwas von Petzi und Pelle gelesen hat, erinnert sich: „Mit einer Leiter aus Pelles Schnabel…“) Der Kofferfisch schleppt alles mit sich rum, was der Doktorfisch zur Versorgung seiner Patienten braucht: Schere, Pflaster, das Muschelhandy… Und manchmal hat er eine herrlich trockene Art:
„Hast du etwa Bauchschmerzen?“ „Ja, das stimmt! Woher weißt du das?“ „Er ist Arzt“, sagte der Kofferfisch.

Fazit: Supersüß und fröhlich – ein neues Lieblingsbuch für die Familie.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.09.2014
Borrmann, Mechtild

Wer das Schweigen bricht


ausgezeichnet

Essen-Bredeney im Jahre 1998. Der Industriemagnat Friedhelm Lubisch ist verstorben. Im Nachlass des Vaters findet sein Sohn Robert den SS-Ausweis eines Unbekannten und ein altes Foto einer schönen, jungen und ihm ebenfalls unbekannten Frau. In den letzten Jahren war das Verhältnis zu seinem Vater arg getrübt, zu wenig konnte der Sohn den Ansprüchen des Vaters genügen. Nun erwacht in Robert die Neugierde: Gibt es in der Vergangenheit des so perfekten Vaters womöglich einen kleinen Fleck? Vielleicht eine heimliche Geliebte? Robert beginnt nachzuforschen – und wünscht sich schon bald, dass er es nicht getan hätte. Und dann wird auch noch die Journalistin ermordet, die ihm bei den Recherchen geholfen hat. Was hatte sie entdeckt?

„Immer war er auf der Suche nach einem Fleck auf der blütenweißen Weste des Vaters gewesen, hatte sich zu dessen Lebzeiten gewünscht, seiner großspurigen Selbstherrlichkeit etwas entgegenhalten zu können. Und jetzt, das spürte er genau, würde er es finden, und es wäre nicht nur ein Fleck.“

Wahnsinn! Was für ein tolles Buch. Einmal begonnen, konnte ich es nicht mehr aus der Hand legen. Die Frage nach der Wahrheit… Man sagt so leicht, dass man die Wahrheit wissen will… Aber wenn man sie erfährt, kann man dann auch damit umgehen? Es gibt Wahrheiten, mit denen man nicht gerechnet hat, auf die man nicht vorbereitet war…

Die Jahre zwischen 1939 und 1945 in Deutschland. Jeder weiß, was diese Jahre für die Menschen hier bedeuteten. Wer es nicht erlebt hat, hat es oftmals gehört, gelesen oder in Dokumentationen gesehen. Und viele haben eine Meinung dazu, denken, dass sie wüssten, was sie selbst unter diesen Lebensumständen getan hätten. Und was sie nicht getan hätten. Stichworte hier: Nazis, SS, Juden, russische Kriegsgefangene, deutscher Widerstand. In Rückblenden begleiten wir sieben junge befreundete Menschen und ihre Familien durch diese Zeit und stoßen dabei auf so einiges, was uns heute unfassbar erscheinen mag. So verschieden die Protagonisten auch sind, sie versuchten alle, in dieser Zeit zu überleben.

„Es gab im Winter 1944/45 keine Zeit für Trauer, und manchmal denke ich, dass das eine der Tragödien dieses Krieges war, vielleicht jedes Krieges ist. Wenn wir keine Zeit zum Trauern haben, verlieren wir eine Dimension unseres Menschseins.“

Einige wählten dabei einfachere Wege, andere machten es sich schwerer. Sie riskierten viel und verloren auch manches Mal. Und manche taten Dinge, die sie das ganze Leben lang verfolgen sollten.

„Im Laufe der Jahre habe ich gemeint, ich hätte mich von all dem weit entfernt. … Als ich im Dezember 1950 fortging, wollte ich nur eines: Vergessen! Ein neues Leben beginnen. Aber man vergisst nicht. Man trennt die Jahre ab und was bleibt, ist eine Art unerklärliche Trauer, die einen ab und an anfällt.“

Spannend bis zum Schluss – eine absolute Leseempfehlung von mir!

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.09.2014
Neeb, Ursula

Die Hurenkönigin / Frankfurter Hurenkönigin Bd.1


sehr gut

Frankfurt im Jahre 1511. Unter den Hübscherinnen des örtlichen Frauenhauses macht sich Entsetzen breit: Eine Hure wurde ermordet aufgefunden. Sie trug ein Büßergewand und wurde vor ihrem Tod grausam gefoltert. Für die Ermittler der Stadt ist schnell klar, dass der letzte Freier der Täter gewesen sein muss. Allein die Hurenkönigin Ursel Zimmer hat daran ihre Zweifel und beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln. Zu Recht, denn schon bald findet sich die nächste Ermordete – und sie ist ebenfalls eine Hure!

Ein klasse Buch! Ich finde Krimis aus dem Mittelalter ohnehin spannend, aber hier liegt der besondere Reiz noch in der Person der Ermittlerin. Eine Hurenkönigin! Sie ist eine intelligente Frau, die sich durchzusetzen und zu behaupten weiß – und dabei nicht, wie man aufgrund ihres Berufes vermuten könnte, auf ihr Aussehen setzt, sondern auf ihren Verstand. Eine starke Frau, die allerdings auch reichlich persönliche Schwächen hat, was sie überaus menschlich macht. Während ihrer Ermittlungen sieht und erfährt sie Dinge, die sie schockieren und ängstigen. Trotzdem macht sie weiter, weil sie sich um die Huren – ihre Schützling – sorgt. Sie war mir total sympathisch!

Der Fall selbst war spannend, der Blick in die Welt des Mittelalters wieder einmal faszinierend. Der Rolle der Huren und Frauenhäuser zu dieser Zeit ist im Anhang noch ein sehr lesenswertes Nachwort der Autorin – die Geschichte studiert hat - gewidmet. Das einzige, was mich ein wenig gestört hat, war, dass die Aufteilung in Gut und Böse doch sehr krass war: Sämtliche Kirchenvertreter waren schlecht und die Huren im Grunde alle gut. Ich will wirklich nicht die Rolle der Kirche im Mittelalter beschönigen, aber solche Verallgemeinerungen gefallen mir nun mal nicht und ich bin davon überzeugt, dass es immer einige gibt, die nicht wie die Masse sind.

Bewertung vom 26.09.2014
Fitzek, Sebastian

Der Seelenbrecher


sehr gut

Ein Serientäter verbreitet Schrecken. Seine Opfer sind junge Frauen - aber was macht der Seelenbrecher (wie er genannt wird) mit ihnen? Wenn sie aufgefunden werden, sind sie noch lebendig, im Großen und Ganzen unverletzt und vergewaltigt wurden sie auch nicht. Aber sie nehmen nichts mehr wahr, können sich nicht mehr äußern oder mitteilen. Sie befinden sich in einer Art Wachkoma und Polizei, Ärzte und Psychologen rätseln, was ihnen angetan wurde, um diesen Zustand hervorzurufen. Als einzigen Anhaltspunkt findet sich bei jedem Opfer ein kleiner Zettel mit einem Rätsel...

Die Geschichte erfolgt auf zwei Ebenen. Der gesamte Bericht über den Seelenbrecher und seine Opfer liegt als Patientenakte vor. Und in einem verlassenen Haus haben sich mehrere freiwillige Studenten bereit erklärt, diese Akte im Rahmen eines Experiments zu studieren. Unter ganz genau definierten Versuchsbedingungen...

Wieder mal ein super spannender Fitzek! Das Buch nimmt gleich an Fahrt auf und man hetzt zusammen mit dem Protagonisten durch die Geschichte. Seine Verwirrung, Desorientierung und Angst springt einen förmlich an. Teilweise empfand ich den Handlungsablauf als sehr hektisch und chaotisch. Und dann dachte ich mir: Ja, genauso muss es den Leuten in dieser Situation ergehen! Genauso müssen sie sich jetzt fühlen!

Auch die Thematik hat mich wieder gefesselt. Fitzek taucht ja gerne in die Tiefen der menschlichen Psyche ab; da war ich mal wieder überrascht, was scheinbar möglich sein soll. Ein zutiefst gruseliger Gedanke!
Sein Protagonist leidet zunächst unter Gedächtnisverlust. Nach und nach kommen dann die Erinnerungen wieder – und ängstigen ihn zutiefst! Welche Rolle spielt er selbst bei diesen Verbrechen?

Was den Handlungsverlauf angeht, habe ich ein paar Dinge schon früh richtig erwartet. Andere hingegen haben mich total überrascht! Vor allem die Auflösung und der Schluss hatten es mal wieder in sich! So war ich froh, dass ich schon früh am Tag mit dem Buch begonnen hatte. Da ich mich schlecht losreißen konnte (vor allem zum Ende hin) wäre das sonst eine sehr kurze Nacht geworden.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.09.2014
Hanff, Helene

84 Charing Cross Road


ausgezeichnet

Helene Hanff liebt Bücher – und ganz besonders antiquarische Ausgaben, die „von selbst an der Seite aufklappen, die der frühere Besitzer am häufigsten gelesen hat“. Ende der 1940er Jahre sucht sie in ihrer Heimatstadt New York meist vergeblich nach ihren Wunschbüchern. Als sie eine Zeitungsannonce des Londoner Antiquariats Marks & Co. liest, schreibt sie einen Brief mit einer ganz normalen Bestellung. Was folgt, ist die prompte Lieferung einiger Bücher und ein Briefwechsel, der über zwanzig Jahre andauerte…

Was für ein wunderschönes Buch! Ich habe es gerade in einem Rutsch gelesen und bin immer noch hin und weg! Dass ein Briefwechsel so fesselnd sein kann! Denn nichts anderes ist dieses Buch, als eine Sammlung dieser Briefe – natürlich nicht aller, dafür war der Austausch zwischen Helene Hanff und dem Buchhändler Frank Doel zu rege. Wenn ich es auch bedaure: Wie gerne würde ich eine vollständige Sammlung lesen, die sich sicher über einige umfangreiche Bücher erstrecken würde.

Herrlich zu beobachten, wie sich der Stil der Briefe entwickelt, vom eher trockenen Anfangskontakt hin zu einer aufrichtigen Freundschaft zwischen Menschen, für die sich im Leben alles um Bücher dreht. Während Helene einen sehr lockeren Schreibstil hat, über den ich regelmäßig schmunzeln musste, braucht Frank – scheinbar typisch britisch reserviert – eine Weile, um „aufzutauen“.

In den Briefen geht es – natürlich – zu einem großen Teil um Bücher. Helene braucht immer wieder Nachschub und Frank wird zu dem Buchhändler ihres Vertrauens. „Kümmern Sie sich niemals darum, ob ich etwas bereits aufgetrieben haben könnte. Ich sehe mich nirgendwo anders mehr um.“ Die beiden tauschen sich über Bücher aus, über Erstausgaben, Übersetzungen, Goldschnitt und Dünnblattdruck. Aber Helene ist eine sehr kritische Leserin und wenn ihr ein Buch nicht gefällt, dann macht sie das auch deutlich! „Das nennen Sie Pepys‘ Tagebuch!? Das ist nicht Pepys‘ Tagebuch, das ist die elende Zusammenstellung von Exzerpten aus Pepys‘ Tagebuch, herausgegeben von irgendeinem übereifrigen Kerl, der in der Hölle verfaulen möge!“

Aber Bücher bleiben nicht das einzige Thema. Je inniger die Freundschaft wird, umso mehr umfasst die Unterhaltung zwischen den beiden nahezu sämtliche Bereiche des Lebens. Natürlich geht es um persönliche oder berufliche Dinge, aber auch um Politik, Fußball, Zahnbehandlungen, Krönungsfeierlichkeiten oder die Beatles. Und als Helene von den Lebensmittelrationalisierungen erfährt, unter denen das England der Nachkriegszeit leidet, beginnt sie, obwohl ihre eigenen finanziellen Mittel nur beschränkt sind, Frank und seinen Kollegen im Antiquariat regelmäßig Pakete zu schicken. Nur den Wunsch, einmal selbst nach London zu fahren, kann Helene leider nie realisieren.

Der Briefwechsel endet mit dem Tod von Frank Doel im Jahre 1969. Helene entschließt sich, die Briefe einer Zeitschrift zum Druck anzubieten. Was folgt ist ein Buch, das seit seinem ersten Erscheinen im angloamerikanischen Sprachraum immer lieferbar geblieben ist, Fernsehfassungen, Bearbeitungen für die Bühne und 1987 ein mit Anne Bancroft und Anthony Hopkins in den Hauptrollen besetzter Kinofilm.

„Sie sehen, Frankie, wie die Dinge stehen: Sie sind der einzige Mensch auf Erden, der mich versteht.“

Bewertung vom 26.09.2014
Dexter, Pete

Paperboy


ausgezeichnet

Florida, 1965. Der Sheriff einer kleinen Stadt wird brutal ermordet. Zu Lebzeiten war er dafür bekannt, dass er „in Ausübung seines Amtes eine selbst für die Verhältnisse von Moat County unangemessen hohe Anzahl von Schwarzen umgebracht hatte“. Sein letztes Opfer war allerdings ein Weißer gewesen, den er bei einer Verhaftung auf offener Straße zu Tode getreten hatte. Dessen Vetter, der für seine Aggressivität und Gewalttätigkeit bekannte Hillary Van Wetter wird kurz danach verhaftet und nach kurzem Prozess zum Tode verurteilt.
1969. Hillary Van Wetter sitzt seit 4 Jahren in der Todeszelle. Dort nimmt eine Frau namens Charlotte Bless Kontakt zu ihm auf. Schon seit Langem fühlt sie sich zu Mördern hingezogen, schreibt ihnen Briefe ins Gefängnis. Von Van Wetter ist sie so fasziniert, dass sie sich mit ihm verlobt, obwohl sie ihn noch nie zuvor gesehen hat. Von seiner Unschuld überzeugt, engagiert sie zwei bekannte Reporter. Sie sollen den Fall aufrollen, Verfahrensfehler aufdecken und so letztlich für Hillarys Freilassung sorgen.
Soweit die Ausgangssituation. Worum es sich im Buch jedoch in erster Linie dreht, ist die Rolle der Presse. Die beiden erwähnten Reporter sind ein gewisser Yardley Acheman und sein Partner Ward James, der von seinem jüngeren Bruder Jack begleitet wird. Dieser Jack ist gleichzeitig der Erzähler. Der Vater der beiden ist Herausgeber der „Moat County Tribune“, der „einzigen liberalen Zeitung in den ländlicheren Teilen des Staates“. Alle vertreten sie die Presse und sind dabei doch total verschieden.
Der eine sammelt Fakten und recherchiert bis ins kleinste Detail. „Er hielt seinen Schreibtisch sauber und überprüfte zwanghaft jedes Detail. …. Eine Story besaß für meinen Bruder ihre eigene Autorität, und mithilfe dieser Autorität konnte er sogar vertrauliche Themen angehen, denen er sich aus eigenem Antrieb niemals genähert hätte.“
Der andere will in erster Linie eine gute Story schreiben. „Yardley Acheman fand im Blutbad jener Nacht, …, seine Berufung, in der Ungeheuerlichkeit des Entsetzlichen. Er wurde rot vor Aufregung, wenn er davon erzählte…“
Und der Vater? Er will ein guter Pressemann sein, sorgt sich aber gleichzeitig ungemein um sein örtliches Ansehen. „Die Zeitung war liberal, wenn auch auf eine hoffnungslose und harmlose Art, die keinem Menschen wehtun wollte.“
Schnell finden sich Anhaltspunkte auf grobe Fehler während der Verhaftung und des Verfahrens. Und jeder der beiden Reporter hat nun seine Gründe, den Fall aufzurollen. Aber welche Rolle kann die Presse in einem Fall wie dem um Hillarys Schuldfrage haben? Welchen Einfluss darf sie überhaupt haben und welche Position wird sich am Ende durchsetzen?
Meine Güte, was für ein spannendes Buch! Ich habe es glücklicherweise an einem freien Tag begonnen – so brauchte ich es nicht aus der Hand zu legen. Bis zum Schluss ist unklar, wie die ganze Sache ausgehen wird. Für jeden der Protagonisten gibt es Höhen und Tiefen und ich fragte mich, wie es mit ihnen wohl weitergehen wird, wer am Ende mit seinem Weg erfolgreich sein wird. Ob Hillary nun schuldig war oder nicht und ob man auch mit guten Absichten möglicherweise Schaden anrichten kann…
Wirklich empfehlenswert und total interessant, sich mal so mit der Rolle der Presse zu beschäftigen. Der Autor weiß, wovon er schreibt. Der Umschlagtext informiert darüber, dass Pete Dexter über fünfzehn Jahre als Zeitungsreporter in Philadelphia arbeitete. „Nachdem er im Zuge einer kontroversen Berichterstattung angegriffen und krankenhausreif geschlagen wurde, gab er seinen Beruf auf."
Ein paar Kleinigkeiten haben mich gestört. So wurde bei der Beschreibung des sozialen Umfelds von Hillary ganz tief in die unterste Schublade der gängigsten Vorurteile gegriffen und kein Klischee ausgelassen. Da wurden Kinder verprügelt, Frauen mussten sich ihren Männern total unterordnen und die Männer wurden in ihren Wohnungen häufig komplett nackt angetroffen. Das war für meinen Geschmack ein wenig zu dick aufgetragen.