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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 954 Bewertungen
Bewertung vom 04.11.2013
Steiner, Jens

Carambole


gut

Ein Roman mit Zugabe

«Die Idee eines Textes, der ästhetisch innovativ ist und ein kleines Stück Menschheitsgeschichte darstellt» ist für den Schweizer Autor Jens Steiner Grund des literarischen Schreibens, wie man auf seiner Homepage nachlesen kann. Beides findet sich in diesem neuen, seinem zweiten Roman, der soeben in seiner Heimat den Buchpreis 2013 gewonnen hat, von der Jury in der Laudatio als ein Werk « von großer poetischer Kraft« gewürdigt. Mich hat der artifizielle Sprachstil dieses eigenwilligen Romans, der aus zwölf nur vage ineinander verwobenen, episodenhaften Erzählungen besteht, unwillkürlich an Franz Kafka erinnert, weniger unheilschwanger und bedrückend zwar, aber ähnlich absurd und unergründlich.

Das in Indien und umgebenden Ländern als Volkssport betriebene Brettspiel Carrom wird in der Schweiz Carambole genannt, eine Art Fingerbillard für zwei oder vier Personen, das für diesen Roman nicht nur als bedeutungsschwerer Titel dient, sondern auch im Untertitel seine Spuren hinterlassen hat, «Ein Roman in zwölf Runden». Eigentliche Hauptfigur ist die in Lethargie versunkene Dorfgemeinschaft eines namenlos bleibenden Ortes, dessen Seele zu ergründen Ziel dieser Geschichte ist. Aus der Einwohnerschaft rekrutiert sich eine Vielzahl von Protagonisten, jeder für sich Teil eines Puzzles, dessen Lösung sich als nicht gerade einfach erweist. Mitdenken ist also angesagt bei dieser insoweit schwierigen Lektüre, die in einer allerdings klaren und unkomplizierten Sprache geschrieben ist, nicht unbedingt selbstverständlich ja bei jungen und kreativen Romanciers. Wir erfahren von teils tragischen Lebensgeschichten, von schuld- und schamvoll verborgenen Geheimnissen, von wichtigen und nichtigen Erlebnissen der Figuren, das alles berichtet in personaler Erzählform und aus ständig wechselnden Perspektiven. Verzweiflung und Verlorenheit allenthalben, die Figuren sind äußeren Kräften ausgeliefert, werden herumgeschubst wie die runden Steine bei titelgebenden Brettspiel, einem unergründlichen Plan folgend, der innerhalb weniger Tage vor einem nicht näher definierten zeitlichen Hintergrund abläuft, in dem Handy und Computer noch nicht vorkommen.

Die zwölf mit kurzen Titeln versehenen Kapitel, jedes eine separate Story, in der gelegentlich schon bekannte Protagonisten erneut auftauchen, haben ihre eigene Thematik, sie reihen sich zunächst ohne erkennbare Bezüge aneinander. Man begegnet darin Figuren wie den drei Schülern, auf die die Leere der Sommerferien zukommt. Da ist der Außenseiter Schorsch, nach dessen Tod festgestellt wird, dass er sich von Katzenfutter ernährt hat, da ist der Rollstuhlfahrer am Fenster, der mit gleich drei Fernrohren und zwei Spiegeln das Dorfleben beobachtet, zwei Söhne sind sich spinnefeind wegen des Streits um das Erbe des Vaters, es gibt viele andere skurrile Typen mehr. Die Stimmung bei allen Geschichten ist melancholisch, regelrecht düster, lähmend und deprimierend, es ist wahrlich unerfreulich, was man da liest.

«Er suchte im Gedächtnis nach einem frohen Gedanken» heißt es mal im Text. Ich fand den frohen Gedanken in diesem Roman nur im siebten Kapitel. Da trifft sich eine Troika aus drei Männern zum Carambole, jeder genießt seinen ganz speziellen Lieblingsdrink, man spricht über Antonio Gramsci und Epiktet. «Freut euch eurer Torheit, denn dahinter wartet das Unglück. Und hinter dem Unglück kommt nichts mehr», heißt es an einer Stelle. Hinter den zwölf Kapiteln kommt für den interessierten Leser dann doch noch was, eine erfreuliche Zugabe nämlich. Er findet, so er sucht, auf der Homepage des Autors ein nettes dreizehntes Kapitel, das geeignet ist, zumindest auf elektronischem Wege die Lektüre als weniger bedrückend ausklingen zu lassen. Man muss allerdings das Passwort kennen, also aufmerksam die zwölf papiernen Kapitel gelesen haben!

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Bewertung vom 01.11.2013
Haas, Wolf

Das Wetter vor 15 Jahren


gut

Silbersternchen

Ein Roman über einen Roman, das gab’s doch schon mal! Was für Thomas Mann mit «Die Entstehung des Doktor Faustus» recht war, kann für Wolf Hass nur billig sein, auch er hat einen Roman über einen Roman geschrieben, der nun allerdings nur fiktiv ist, anders als bei seinem weltberühmten Kollegen also. Und anders ist auch das literarische Niveau, einen Nobelpreis dürfte Wolf Hass wohl nie bekommen mit seinen Werken, jedenfalls mit denjenigen, die bis heute vorliegenden. Er schreibt vielmehr äußerst originelle und spannende Bücher, wen wundert’s bei einem erfolgreichen Krimiautor, und sein Markenzeichen ist der geradezu überbordende Sprachwitz, der die Lektüre für den Leser so kurzweilig und amüsant macht.

Ungewöhnlich ist schon die Form, in der seine Geschichte angelegt ist, vom ersten bis zum letzten Wort als umfangreicher Dialog nämlich, über nicht weniger als fünf Tage sich hinziehend. Es ist das fiktive Protokoll eines akustischen Mitschnitts vom Interview einer Feuilleton-Journalistin mit einem Autor namens Wolf Hass, das sie für eine Literaturbeilage führt. Autor und Rezensentin im Zwiegespräch also, in dem das besprochene «Werk» geradezu seziert wird, ein Liebesroman auch noch, den Plot zu erzählen spare ich mir aber an dieser Stelle, schon um die Spannung nicht zu mindern. Dass Autoren in ihren Romanen selbst auftreten, sich also nicht feige hinter einem der Protagonisten verstecken, ist zwar nicht neu, mir fällt da spontan aus meiner Leseliste Felicitas Hoppe oder Clemens J. Setz zu ein, originell ist es aber trotzdem, vor allem wenn es wie hier auch noch in einer Art literarischem Werkgespräch geschieht. Genau in den darin immer wieder vorkommenden Erörterungen von dramaturgischen Strategien, vordergründig als unwichtig erscheinenden Textdetails, von all den kleinen Tricks und bösen Fallstricken beim Aufschreiben einer komplexen Geschichte, gerade dort liegt denn auch für mich eine der Stärken dieses amüsanten Buches. Mit seinen kunstvoll ineinander verschachtelten Erzählebenen ist dessen Plot geradezu halsbrecherisch konstruiert, damit dann sogar ziemlich anspruchsvoll, was die Aufmerksamkeit des Lesers anbelangt, ganz ähnlich wie bei einem Krimi (sic!). Aber wer den Fehler macht, hier nach Widersprüchen oder Ungereimtheiten zu suchen, der bringt sich selbst um das Lesevergnügen, was ja eigentlich schade ist.

Ernsthaftes, gar Tiefschürfendes ist hier nämlich absolut nicht zu finden, schon der Titel des Romans deutet darauf hin. «Das Wetter vor fünfzehn Jahren», exakt diese Daten für einen beliebigen Tag in einem bestimmten österreichischen Urlaubsort zu kennen, das ist der am Anfang der Geschichte stehende Anlass für einen TV-Auftritt in «Wetten, dass…?» bei Thomas Gottschalk. Diese titelgebende Fähigkeit des Wettkandidaten und Protagonisten gibt also schon die ungefähre Richtung vor, und damit auch das Niveau des Geschehens. Man muss häufig schmunzeln über Ironie und Humor von Wolf Haas, seinen durchaus auch sarkastischen Wortwitz, die vielen kleinen Aperçus und virtuos eingefügten Kuriositäten. Und wo es trivial wird, ist stets auch ein Augenzwinkern nicht zu übersehen in dieser ebenso trivialen wie spaßigen Geschichte, die ich als Satire gelesen habe, eine Parodie allseits bekannter, typischer Figuren und Geschehnisse aus dem realen Leben, eine Screwballkomödie, würde man den Stoff textnah verfilmen.

Ob sich die Lektüre lohnt kann man nur individuell beantworten, es hängt ganz von dem Spaßfaktor ab, den man erwartet als lustvoller Leser. Die bierernste Sorte literarischer Rezipienten wird sich gelangweilt oder auch empört abwenden, denen sei als Alternative oben genannter Roman von Thomas Mann empfohlen. Auf hedonistisch veranlagte Leser hingegen warten ein paar vergnügliche Lesestunden, mit Silbersternchen sozusagen, mit denen auch schon mal ein besonders gelungener Orgasmus bewertet wird in diesem originellen Roman.

Bewertung vom 29.10.2013
Müller, Herta

Der Fuchs war damals schon der Jäger


weniger gut

De gustibus non est disputandum

Zugegeben, Herta Müllers Prosa ist gewöhnungsbedürftig, sehr sogar! Das Nobelkomitee spricht von einer Autorin, «die mittels Verdichtung der Poesie und Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit zeichnet». Im Jahr der Preisverleihung 2009 erschien der Roman «Atemschaukel», dessen Lektüre seinerzeit bei mir einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen hatte als sprachlich hochstehendes Werk einerseits, mit einer leider furchtbar düsteren Arbeitslager-Thematik andererseits, die so gar nichts beiträgt zum Lesegenuss, sofern man kein Masochist ist. Leider fand ich auch im vorliegenden Roman mit dem rätselhaften Titel «Der Fuchs war damals schon der Jäger» ein ähnliches Sujet, das Leben im Rumänien unter dem Diktator Ceausescu kurz vor bis zum Zusammenbruch dieses menschenverachtenden Regimes.

Der offensichtlich vorhandene Determinismus Müllers führt bei diesem siebzehn Jahre vor dem Nobelpreis erschienenen Roman zu einer sehr eigenwilligen sprachlichen Form, deren Poesie sich manchem Leser nur schwer erschließt. Sie ist alles andere als schön, versucht vielmehr, die Lebenszwänge und Ängste der Menschen durch eine häufig grotesk anmutende Wortwahl und Syntax auszudrücken. Das wirkt aufs Gemüt des Lesers und erzeugt eine durchgängig düstere Stimmung, die kaum je aufgehellt wird, selbst ein Witz über Ceausescu oder die tödliche Fahrt eines Parteikaders im Kettenkarussell ändert daran nichts. Mit kurzen, einfachen Sätzen, ohne Fremdwörter auskommend, weitgehend auch ohne direkte Rede, steht für Herta Müller wie bei einer Lyrikerin der Rhythmus ihrer Texte im Fokus, den sie nach eigenem Bekunden durch lautes Vorlesen überprüft und falls erforderlich korrigiert.

Der poetische Hintersinn dieser speziellen Prosa ist in der Regel zumindest nicht gleich offensichtlich, manchmal aber auch überhaupt nicht zu entschlüsseln, oft als Metapher für die Metapher sozusagen. Zitat: «Der Weg kennt sich selber, hat keine Entfernung. Die Schritte verwackeln und sind immer gleich. Dann beeilen die Schuhe sich, der Kopf ist leer, auch wenn der Fuchs im Kopf steht». Alles klar? Für Leser mit Freude an der Lösung solch kniffliger verbaler Rätsel sicherlich eine wahre Fundgrube, ruft Müllers Sprache bei anderen im günstigsten Fall nur Kopfschütteln hervor, aber auch krasse Ablehnung. Was schade ist, denn das Spektrum auch abseitiger sprachlicher Formen auszuloten ist zumindest bereichernd, selbst wenn es Mühe macht für literarische Warmduscher wie mich.

Der Plot ist banal und nicht weiter erwähnenswert, natürlich ist die Securitate allgegenwärtig, die wenigen Figuren sind nur schemenhaft beschrieben als typische Stellvertreter für ein unterdrücktes rumänisches Volk. Die Trostlosigkeit ihres Lebens wird emotionslos geschildert, wobei die simple Geschichte ab der Mitte des Buches Fahrt aufnimmt und dann auch etwas konventioneller erzählt wird. Am Ende gibt es mit dem Untergang des Regimes fast so etwas wie Optimismus, durchaus selten ja im Werk Herta Müllers, ein Licht am Ende des Tunnels jedenfalls. Auch wenn klar wird, dass die alten Kader schnell wieder Fuß fassen, sich der neuen Zeit scheinbar mühelos anpassen, was die positive Stimmung gleich wieder dämpft. So weit, so gut, wie für jede Kunst gilt auch für diesen Roman: Über Geschmack lässt sich nicht streiten!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.10.2013
Hoppe, Felicitas

Hoppe


ausgezeichnet

Auf eigene Gefahr!

Schon der Buchtitel weckt Neugier. Man stelle sich nur mal «Walser» vor als Romantitel bei Martin Walser, da reibt sich doch jeder Bücherfreund verdutzt die Augen. Originalität also schon auf dem Cover, - und die Geschichte? Ebenfalls originell, soviel sei vorab schon gesagt. Irritierend dürfte es jedenfalls nicht sein für den Leser, dass die Autorin über eine gewisse Felicitas Hoppe schreibt in ihrem Roman, den man ebenso als fiktionale Autobiografie bezeichnen könnte. Auch wenn Denis Scheck «vor Freude einen Flickflack» schlägt bei diesem Roman, wozu ihn sprachlich die Pose des Titelfotos animiert haben mag, erweist sich das Feuilleton doch als ziemlich gespalten, zwischen Jubel und Verriss, und nicht anders auch die Leserkritiker. Das macht einen doch neugierig, mich jedenfalls!

Nahezu schrankenlos wird fabuliert in diesem unkonventionellen Roman der Postmoderne, der gegen so ziemlich alle Konventionen verstößt als grandiose Parodie der literarischen Gattung Autobiografie, deren Prinzip hier total auf den Kopf gestellt wird. Eigentlich ist diese Eulenspiegelei nichts anderes als eine amüsante Suche nach der Identität der Protagonistin. Treffend hat die Jury des Büchnerpreises dazu bemerkt: «In einer Zeit, in der das Reden in eigener Sache die Literatur immer mehr dominiert, umkreist Felicitas Hoppes sensible und bei allem Sinn für Komik melancholische Erzählkunst das Geheimnis der Identität.» Sie lügt wie gedruckt in diesem Schelmenstück, das in vielem an Don Quijote erinnert, ein frecher Parforceritt dieser überaus kreativen Autorin durch ihre imaginierte Lebensgeschichte. «Ihre Phantasie vertextete erbarmungslos alles» schreibt sie über Hoppe, die «in die eigenen Zweifel verliebt» ist, aber auch ironisch anmerkt: «Kröne dich selbst, sonst krönt dich keiner».

In einem virtuosen Spiel mit Identitäten erlebt der Leser diese literarische Wunderwelt jenseits der Realität, folgt Hoppe als begnadeter Hockeyspielerin, Musikerin, Erfinderin, Komponistin und Schriftstellerin von Hameln nach Kanada, Australien und bis hin nach Las Vegas, in «die schönste und prächtigste Stadt der Welt». Dabei begegnet er unter anderem Glenn Gould, Franz Kafka, Pippi Langstrumpf, Pinocchio, und dem Zauberer von Oz, erfährt von Hoppes genialen Erfindungen wie dem «leuchtenden Puck» für Hockeyspieler oder dem «Lakenwender», mit dem sich ein uraltes Menschheitsproblem sehr einfach lösen lässt. All das wird erzählt in einem verblüffenden Mix aus eigener Erzählung, Tagebucheinträgen, Interviews und Gesprächsnotizen, ergänzt durch häufige Anmerkungen (der Autorin /fh) und fiktiven Zitaten kritischer Rezensenten, denen sie auf diese Weise elegant den Wind aus den Segeln nimmt. Was prompt einige der echten Rezensenten, wie man überall nachlesen kann, denn auch gehörig verärgert zu haben scheint, man kann also auch literarisch ein Eigentor schießen.

Authentizität, soviel dürfte klar sein, ist kein Thema in Hoppes ebenso intelligentem wie amüsantem Roman voller origineller sprachlicher Finessen, sie hat sich ironisch eine turbulente Lebensgeschichte zusammen fantasiert, die den Leser förmlich mitreißt, sofern er nicht zur Gattung der mit roter Tinte schreibenden Kritikaster gehört. Den aufnahmefähigen und sprachsensiblen Leser hingegen erwarten einige beflügelnde Stunden mit «Hoppe», die mancher sogar spontan mit einem richtigen Flickflack krönen dürfte (auf eigene Gefahr bitte /bo).

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Bewertung vom 17.10.2013
Stefánsson, Jón Kalman

Himmel und Hölle


sehr gut

Ein verlorenes Paradies?

Bestimmt liegt es am Klima der Insel, an der rauen Umgebung, an den harten Lebensbedingungen im Island vor etwa hundert Jahren, dass Menschen zu solchen urigen Typen geformt werden, wie Jón Kalman Stefánsson sie uns in seinem Roman vorstellt, sehr eigen jedenfalls, unverwechselbar, wahre Unikate der menschlichen Spezies. Für mich liegt die Stärke dieses Romans in der meisterhaften Figurenzeichnung, mit der es dem Autor gelingt, uns seine vielen Charaktere glaubhaft nahe zu bringen, uns vor allem ihr Innerstes, ihre Gedankenwelt, ja geradezu ihre Seele zu präsentieren. Protagonist der Geschichte ist ein namenlos bleibender junger Mann, «der Junge», wie er im Roman genannt wird, Jüngster in einer Gruppe von sechs Fischern, die aus ihrem Fjord im offenen Holzboot auf Dorschfang ins Polarmeer hinausrudern.

Die Substantive des Buchtitels finden sich in umgekehrter Reihenfolge im Roman wieder, der Leser erlebt also zunächst die «Hölle» im ersten Teil der Geschichte. Es ist eine äußerst realistisch geschilderte Fahrt zum Fischen, beginnend beim Aufstehen der kleinen Mannschaft mitten in der Nacht, spannend und detailreich beschrieben, ein für heutige Menschen unvorstellbar hartes Gewerbe, mit geradezu archaischen anmutenden einfachen Mitteln betrieben, das kaum so viel einbringt, um davon sein karges Leben bestreiten zu können. Der enge Freund «des Jungen» kommt dabei ums Leben, weil er vor dem Ablegen des Bootes unbedingt noch einen Blick in John Miltons Hauptwerk «Das verlorene Paradies» werfen muss, dessen Verse ihn geradezu verzaubern. Und so vergisst er in seiner literarischen Begeisterung, seinen wetterfesten Anorak mitzunehmen, was ihn das Leben kosten wird, ein heranziehender Sturm mit Schnee und eisigen Winden wird ihm zu Verhängnis. Literatur kann also zuweilen auch tödlich sein, zumindest indirekt! Dieses Motiv wiederholt sich sogar, an anderer Stelle wird eine Frau beim Lesen eines Buches vom Tode überrascht. Nebenbei bemerkt ist für Bücherwürmer ja eigentlich kaum eine idealere Art denkbar, diese Welt zu verlassen, wenn’s denn unbedingt sein muss.

«Der Junge» macht sich umgehend auf, das verhängnisvolle, nur ausgeliehene Buch seinem Eigentümer, einem erblindeten Kapitän, zurück zu bringen, danach will er nicht mehr weiterleben. Er denkt nur noch an Selbstmord nach dem Verlust des Freundes. Bei seinem nächtlichen Gewaltmarsch zum Nachbarort entgeht er nur knapp dem Kältetod, ist zeitweise im Delirium, welches der Autor als kurzen philosophischen Einschub dem zweiten Teil der Geschichte voranstellt. Der dann eher als «Himmel» bezeichnet werden könnte nach den kargen Maßstäben für das menschliche Wohlergehen, die der Leser im ersten Teil kennen gelernt hat. Auch hier im Dorf begegnet man wieder vielen Originalen, amüsant beschriebenen Figuren aus dem prallen Leben jedenfalls, einer skurriler als der andere. «Der Junge» aber gewinnt seinen Lebensmut zurück in dieser neuen Umgebung, denn als Fischer wird er nie mehr arbeiten, soviel steht fest für ihn. Und auch sein erfrorener Freund entschwindet am Ende aus seinen Fieberträumen, er wird ihm nicht ins Totenreich folgen.

Stefánsson erzählt seine nur wenige Tage dauernde Geschichte in einer eminent metaphernreichen, oft auch lyrischen Sprache, die den Leser regelrecht mitschwimmen lässt in einem Strom wohlgesetzter Worte, häufig als innerer Monolog und in wechselnden Tempora erzählt. In vielen kleinen, kunstvoll ineinander verwoben Episoden werden uns quicklebendige Figuren vorgestellt, und die grandiose Landschaft Islands ist anschaulich und gekonnt überall mit einbezogen in den Plot. Der Roman ist ein intensives Leseerlebnis für Leser mit Sinn für solch ein fremdartig anmutendes, karges Milieu, - ein verlorenes Paradies?

Bewertung vom 14.10.2013
Agus, Milena

Die Frau im Mond


gut

Realität und Fiktion

Welcher Zauber liegt doch in der Vorstellung vom Mann im Mond, dieser mythischen Gestalt auf unserem Erdtrabanten, deren Gesicht wir manchmal zu erkennen glauben! Mit dem Titel «Die Frau im Mond» wird an dieses Faszinosum erinnert in der Geschichte einer Frau auf Sardinien, deren Leben uns von ihrer Enkeltochter erzählt wird. «Ihr ganzes Leben lang hatte man ihr gesagt, dass sie wirke, als stamme sie von einem Dorf im Mond». Milena Agus wandelt mit ihrem zweiten Roman auf den Spuren ihrer großen Kollegin Grazia Deledda, «die das Leben ihrer väterlichen Herkunft schildert und allgemein menschliche Probleme mit Tiefe und Wärme behandelt», wie das Nobelkomitee 1926 befand. Nicht anders Milena Agus, die in ihrem kleinen Roman vom ziemlich unkonventionellen Liebesleben einer sardischen Bauerntochter berichtet, an Gabriel García Márquez erinnernd, so der aus dem Feuilleton zitierende Klappentext. Ihre Sprache ist schlicht, unkompliziert, geradezu karg, dem besonderen Flair dieser abgesonderten italienischen Insel und ihrer auf Eigenständigkeit bedachten Bewohner damit geradezu archetypisch entsprechend.

Die Protagonistin dieses Romans, von der Ich-Erzählerin stets nur als Großmutter bezeichnet, womit immer wieder die Erzählperspektive verdeutlicht wird, ist eine für ihre bäuerliche Umgebung ungewöhnliche Frau auf der Suche nach Liebe. Gleich im ersten der zwanzig Kapitel erfahren wir, wie es dazu kam, dass sie ihrer großen Liebe begegnete, im Roman der Reduce genannt, ein beinamputierter Kriegsheimkehrer. In etlichen Rückblenden erzählt die Enkelin, die mit ihr ein geradezu intimes Vertrauensverhältnis hat, die Lebensgeschichte ihrer innig geliebten Großmutter. Von den Eltern viel zu früh aus der Schule genommen reift sie zu einer schönen Frau, ist mit dreißig aber immer noch unverheiratet, weil sie als verrückt gilt, weil sie mit ihren Liebesgedichten, auch anzüglichen Inhalts, alle potentiellen Ehemänner vergrault. Nach versuchtem Selbstmord durch Sturz in den Brunnen und einigen Selbstverletzungen eine Kandidatin für die Psychiatrie, findet sie schließlich doch noch einen Mann, den sie zwar nicht liebt, mit dem sie sich aber auf ungewöhnliche Weise arrangiert in ihrer Ehe. Bis sie bei einer Kur dann auf den Reduce trifft, der ihre große Liebe ist, das erkennt sie sofort. Einer, der sie versteht wie niemand sonst, der sie in die schöne Welt der Musik einführt, der ihre geheimen Texte schätzt und sie ermuntert, weiter zu schreiben. Die wenigen Wochen dieses Kuraufenthaltes stellen den unvergesslichen Höhepunkt ihres Lebens dar. Beide aber sind verheiratet, und so sehen sie sich später nie wieder, auch wenn sie einmal naiv versucht, ihn in Mailand zu finden, ohne eine Adresse zu haben. Der sehr spät dann doch noch geborene Sohn entwickelt sich zu einem international gefeierten Pianisten, als Mutter förderte sie liebevoll sein ganz offensichtlich vorhandenes musikalisches Talent.

Geradezu als euphorische Hommage gerät der sardischen Autorin diese phantasievoll erzählte, pralle Lebensgeschichte einer unbeirrbaren Frau, die ihrer naiven Vision von der wahren Liebe anhängt. Aber ist es denn naiv, an die große, die einmalige Liebe zu glauben? Oder muss sie ein lebenslanger Traum bleiben, weil die Realitäten des Lebens anders sind? Denn auch davon ist zu lesen, wenn zum Beispiel in der Ehe der Protagonistin diverse Bordellspiele praktiziert werden, bei denen Liebe ganz ohne Tabu als rein sexuelle Lustbarkeit betrieben wird. Im Finale schließlich erlebt der Leser eine handfeste Überraschung, die zwar nicht jeden überzeugen wird, aber doch nachdenklich machen dürfte, und dieses Reflektieren lohnt sich allemal! Realität und Fiktion immer streng auseinander zu halten ist nämlich manchmal gar nicht erwünscht, und in einem Roman mit solch geheimnisvollem Titel erst recht nicht!

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.09.2013
Maugham, W. Somerset

Auf Messers Schneide


sehr gut

Mit ironischem Unterton

Seinen geheimnisvollen Titel verdankt dieser dem Spätwerk des berühmten Autors zuzurechnende Roman den Upanishaden, frühen philosophisch-theologischen Texten des indischen Brahmanismus also, wo es heißt: «Schwer ist es, auf des Messers Schneide zu wandeln». Das deutet in der Tat schon auf das äußerst anspruchsvolle Thema dieses Buches hin, die Sinnsuche des Menschen nämlich oder, wie William Somerset Maugham seinen Helden Larry sagen lässt, als er gefragt wird, was er suche: «Die Antworten auf meine Fragen». Gibt es Gott, gibt es das Böse, ist mit meinem Tod alles zu Ende oder habe ich eine unsterbliche Seele? Isabel, seine Verlobte, hält ihm lapidar entgegen: «Wenn man sie beantworten könnte, dann wären sie bestimmt schon beantwortet».

Maugham ist ein begnadeter Erzähler, der sehr erfindungsreich Geschichten konstruieren kann, die den Leser zu fesseln vermögen. So auch hier, man folgt der Handlung fasziniert bis zur letzten Seite, auf der, einem Nachwort ähnlich, Fazit gezogen wird vom Autor, welcher hier übrigens leibhaftig als Ich-Erzähler fungiert, oft als geduldiger Gesprächspartner seiner verschiedenen Protagonisten auftretend. Es handelt sich dabei um recht illustre, geradezu prototypische Figuren, wobei Larry den Vogel abschießt, um es mal etwas flapsig auszudrücken, denn er widersetzt sich allen gesellschaftlichen Erwartungen an einen jungen Mann und begibt sich unbeirrbar auf einen alternativen Weg, der schnöde Mammon reizt ihn nicht im Geringsten. Grotesker Gegenentwurf dazu ist Elliott, reicher Onkel seiner Verlobten und exaltierter Snob, eine Inkarnation geradezu jenes Menschenschlages, man kann ihn sich typischer kaum vorstellen. Elliots Tod aber deckt dann schließlich auf, wie armselig im Grunde sein pompös zelebriertes Leben in der High Society war, wie schnell er dort vergessen ist. Maugham führt uns viele sehr liebevoll, fast greifbar geschilderte Figuren vor, deren Lebenswege sich immer wieder kreuzen, die kunstvoll ineinander verwoben sind. Alle suchen ihren Weg, straucheln zuweilen, erleiden Rückschläge, finden manchmal ihr Glück - oder das, was sie dafür halten, sie bewegen sich also auf Messers Schneide.

Der Autor erwähnt im Vorwort sein Problem, sich in die amerikanische Mentalität hinein zu versetzen, fast alle Protagonisten stammen aus den USA. Aber wie hätte er glaubwürdiger die Geldgier, den nimmersatten Materialismus seiner Figuren, dem Börsenmakler, der Dollarprinzessin, dem eitlen Snob, verdeutlichen können? Nach geistreich und schwungvoll erzählter Geschichte, öfter angereichert durch eine nicht unbeträchtliche Prise britischen Humors, macht Maugham seine Leser am Anfang des vorletzten Kapitels darauf aufmerksam, man könne dieses Kapitel sehr wohl überschlagen, ohne den Faden der Geschichte zu verlieren, ein Scherz natürlich. Denn hier nun erfährt der Leser in einem Gespräch, was dem Helden auf seinem Weg zur Erkenntnis, an Hesses «Siddhartha» erinnernd, widerfahren ist, welche Weisheiten er in Indien erlangt hat. Dort nämlich kam ihm nach langen Jahren der Meditation die Erleuchtung und hat ihm die Richtung gewiesen für sein weiteres Leben. Larrys Erzählung und Maughams skeptische Anmerkungen und entlarvende Fragen bei diesem finalen Gespräch sind tiefgehende philosophische Betrachtungen, die ohne Pathos und wissenschaftlich verbrämte Arroganz vorgebracht werden, angenehm zu lesen deshalb, für nachdenkliche Leute interessant obendrein, durchaus geeignet nämlich, die eigenen Gewissheiten listig zu hinterfragen, dabei sogar zum Nachjustieren derselben anzuregen.

Die Lektüre bewirkte bei mir zuweilen eine gewisse Ermüdung, sind doch (gefühlt) mehr als fünfzig Besuche in Restaurants, Cafés, Einladungen zum Tee oder Dinner minutiös geschildert in diesem Roman, ständig wird da irgendwo gegessen und getrunken. Abgesehen von solchen Längen ist die Geschichte beschwingt erzählt mit einem ironischen Unterton, der dem Ganzen eine gewisse Würze gibt.

Bewertung vom 18.09.2013
Marías, Javier

Alle Seelen


ausgezeichnet

Ein Panoptikum mit viel Hintersinn

Wo er recht hat, hat er recht, unser Kritikerpapst Marcel Reich-Ranicki, und deshalb verzichtet auch kein Verlag auf jenen verkaufsträchtigen Satz, den auch mein Buchexemplar ziert: «Begeistert bin ich von diesem Marías, ich glaube, das ist einer der größten im Augenblick lebenden Schriftsteller der Welt». Vor etlichen Jahren habe ich «Mein Herz so weiß» von Javier Marías gelesen, der als sein bester Roman gilt und mich seinerzeit begeistert hat. Deshalb war ich nun sehr gespannt, ob sein drei Jahre vorher erstmals erschienener Roman unter dem rätselhaften Titel «Alle Seelen», der auch mit dem Untertitel «Die Irren von Oxford» herausgebracht wurde, ebenso lesenswert ist. Was ich an dieser Stelle schon mal bejahen kann.

Das einzige, was mich stört an diesem Buch, um es vorweg zu sagen, ist die Art, wie die verschiedenen Verlage es anpreisen, sei es im Untertitel, der suggeriert, es gehe um schrullige britische Figuren in diesem Roman, im Coverfoto mit einer aufreizenden weiblichen Pose, die in der Erzählung kaum Entsprechung findet, oder im Klappentext, der die Liebesaffäre ins Zentrum rückt und mit einem Zitat aufwartet, in dem von «offener sexueller Bewunderung» die Rede ist. All das kommt auch vor, aber es ist beileibe nicht das, was diesen Roman ausmacht, worauf ja schon der Buchtitel «Alle Seelen» deutlich hinweist. Der Autor ist ein Könner im Beschreiben von Menschen, denen er in seinem Roman tief in die Seele schaut, ihr Innerstes offenlegt, ihr Wesen erfasst, sich also nicht nur mit ihrem Äußerlichen, Sichtbaren begnügt. Und er ist ein Meister im Erfinden unterschiedlichster Figuren, die für uns sehr lebendig werden in seinen Schilderungen, allesamt markante Individuen, die in großer Zahl auftreten in seinem literarischen Panoptikum. Es sind wahrlich skurrilen Typen darunter, von denen uns einige gleich zu Beginn bei einem «high table» genannten Essensritual an der Universität von Oxford vorgeführt werden, vom Autor allerdings satirisch ziemlich überzeichnet. Marías hat sich da wohl einiges von der Seele schreiben müssen aus seinen Erfahrungen im Umgang mit Spinnern, Genies und Exzentrikern verschiedenster Couleur während seiner Zeit als Dozent an dieser berühmten Uni.

Die Rahmenhandlung ist schnell erzählt: Der Ich-Erzähler geht für zwei Jahre als Gastdozent für spanische Literatur nach Oxford (sic!) und bandelt schon bald mit seiner verheirateten Kollegin Clare an, von der er sich, das ist vorhersehbar, am Ende wird trennen müssen. Für ihn als Spanier ist und bleibt Oxford fremd und unwirtlich, sein Aufenthalt ist also nur ein berufliches Zwischenspiel, und seine Geliebte andererseits wird Mann, Kind und Oxford niemals verlassen. Eine Liaison auf Zeit also, auch wenn er das am Ende nicht wahrhaben will und versucht, ihr beim letzten Rendezvous eine gemeinsame Zukunft schmackhaft zu machen. Sie erzählt ihm daraufhin ein beklemmendes Erlebnis aus ihrer Kindheit, das sensiblen Lesern unter die Haut gehen dürfte. War in «Mein Herz so weiß» gleich zu Beginn der Selbstmord einer gerade erst von der Hochzeitsreise zurückgekehrten jungen Frau ein ziemlicher Schock, dessen Hintergründe dann in Rückblenden erzählt werden, so ist in Clares Erzählung ganz am Ende der ebenso überraschende Selbstmord ihrer Mutter der Schock. Von Marías sehr raffiniert konstruiert auch hier, denn Clare ist als kleines Kind völlig ahnungslos, als sie ihre Mutter vom Garten aus auf einer hohen Eisenbahnbrücke entdeckt und dann mit ansehen muss, wie sie sich hinunterstürzt in den Fluss. Auch dabei ging es um Ehebruch.

Die Stärken dieses Romans sind sein klug konstruierter Plot, seine wunderbar detailgenau beschriebenen Figuren, das universitäre Ambiente mit der Literatur im Mittelpunkt. Hinzu kommen viele kluge Gedanken philosophischer Art, so zum Beispiel auch Reflexionen über den Tod, die ein genialer emeritierter Professor äußert, - etwas sehr Weises zu diesem permanent verdrängten Thema.

Bewertung vom 23.08.2013
Tolstoi, Leo N.

Die Kreutzersonate


weniger gut

Leider keine Satire!

Die A-Dur-Sonate Opus 47 für Klavier und Violine hatte Ludwig van Beethoven dem französischen Geigenvirtuosen und Komponisten Rodolphe Kreutzer gewidmet, sie wird deshalb populär auch als «Kreutzersonate» bezeichnet. In Leo Tolstois gleichnamiger Erzählung bildet dieses Musikstück den Kulminationspunkt einer düsteren Geschichte um eheliche Treue, die mit einem Eifersuchtsmord endet. Die russische Erzählprosa des 19. Jahrhunderts erreichte mit Tolstoi und Dostojewski einen Höhepunkt, wovon auch dieses Buch zeugt. Offensichtlich ging es dem berühmten Autor hier vor allem darum, die verlogenen Konventionen seiner Zeit zu demaskieren, eine Absicht, die man ja auch in vielen anderen Werken der Literatur jener Zeit häufig antrifft, nicht nur in der russischen.

Während einer Bahnfahrt erzählt ein etwas verwirrt wirkender älterer Mann von seiner Ehe und ihrem tragischen Ausgang. Es handelt sich weitgehend um einen Erzählmonolog, sein Gegenüber, der Ich-Erzähler, fungiert ganz selten mal als Stichwortgeber, er bleibt fast imaginär. Ein Leitthema bei Tolstoi ist ja Liebe und Ehe mit ihren vielschichtigen Problemen, hier nun auf die Spitze getrieben durch eine rigorose Verurteilung der Geschlechterliebe als Wurzel allen Übels in der Beziehung zwischen Mann und Frau. Als Konsequenz aus dieser Erkenntnis sei die völlige sexuelle Enthaltsamkeit vonnöten, das Zölibat als Ziel für alle gewissermaßen, und die Arterhaltung ist dabei insofern sichergestellt, als ja nicht alle diesen idealen Zustand erreichen, nicht alle Paare wie Brüderlein und Schwesterlein zusammenleben werden. Starker Tobak, der da abgebrannt wird, aber ernst gemeint! Wie das alles geschildert wird, ist einfach meisterhaft, die Gedankenwelt eines eifersüchtigen Ehemannes wird geradezu seziert, seine Ansichten und Standpunkte zum Thema sind logisch aufeinander aufgebaut. Eine unglaublich detailreiche Beschreibung führt den Leser durch einen Plot, dessen Ende ihm zwar schon früh bekannt ist, ohne dass es dadurch jemals langweilig würde. Es entfaltet sich das Psychogramm eines verbitterten Mannes, der an seinen falschen Schlüssen scheitert, auch zwingend scheitern muss, da ihnen ein falsches Menschenbild, eine absurde Moralvorstellung zugrunde liegt. So weit, so gut!

Nicht gut aber ist die verbissene moralischer Verallgemeinerung, die Tolstoi seiner Geschichte als Leitfaden mitgibt, das, was Thomas Mann eine «Riesentölpelei« nannte im Werke seines russischen Kollegen. Auch wenn man Tolstois Geschichte als absolut zeitgebunden betrachtet, sind die von seinem Protagonisten vertretenen Ansichten nichts Abstraktes, keine philosophischen Reflexionen einer erfundenen Figur, der Autor identifiziert sich unzweifelhaft mit seinem Protagonisten, hat ein geradezu distanzloses Verhältnis zu ihm. Man könnte nun einwenden, diesen Schluss lasse der Text gar nicht zu, hätte Tolstoi seiner Geschichte nicht jenes unsägliche Nachwort hinzugefügt, in dem er seine abstrusen Thesen wiederholt und weiter verdeutlicht. Die zu diskutieren ich mir an dieser Stelle aber verkneife, solches Gedankengut war schon vor mehr als hundert Jahren jenseits aller menschlichen Erfahrungen und Erkenntnisse. Die «Kreutzersonate» ist also leider keine Satire und folglich ein äußerst ambivalentes Werk der Weltliteratur!

Und so bleibt als Motiv zum Lesen eigentlich nur der Spaß an der grandiosen Erzählkunst dieses Autors. Mancher mag vielleicht sogar Lust bekommen, mal wieder Beethovens «Kreutzersonate» zu hören, wie ich das gerade tue, während ich diese Rezension schreibe, um damit meinen Ärger über völlig ernst gemeinte Sätze wie «Kinder sind eine Plage» und die zugehörige, wortreiche Begründung dieser Weisheit wenigstens ein bisschen abzumildern.