Benutzer
Benutzername: 
Bories vom Berg
Wohnort: 
München
Über mich: 
Sämtliche von mir geschriebenen Rezensionen sind hier auf Buecher.de veröffentlicht und alle über diese Profilseite abrufbar. Meine eigene Website bietet zusätzlich Auswahlen nach Sterne-Bewertung, listet meine Rezensionen aller wichtigen Buchpreise übersichtlich auf und enthält ergänzend im Anhang viele Informationen rund ums Buch, besuchen Sie mich! Meine Website: ortaia-forum.de

Bewertungen

Insgesamt 929 Bewertungen
Bewertung vom 03.05.2013
Böttiger, Helmut

Die Gruppe 47


gut

Von literarischem Kannibalismus

Bei der Lesung Helmut Böttigers im Münchner Literaturhaus, mit der sein neu erschienenes Buch über die Gruppe 47 vorgestellt wurde, folgte das zahlreich erschienene Publikum gespannt den Ausführungen über eine literarische Epoche, die Vielen durchaus noch gut in Erinnerung war. Mich eingeschlossen, der ich mich seinerzeit zwar literaturfern mit ganz anderen Dingen beschäftigte, die nicht gerade seltenen Meldungen über diese Gruppierung aber am Rande durchaus registrierte. Jetzt war nun plötzlich Anlass und Gelegenheit, sich näher mit dieser Episode der Zeitgeschichte zu beschäftigen, das Thema für sich persönlich aufzuarbeiten, damals Versäumtes nachzuholen, den Mythen mal auf den Grund zu gehen.

Ohne Frage ist es dem Literaturkritiker Böttiger mit seinem informativen Sachbuch gelungen, die Entwicklungsgeschichte dieser literarischen Gruppierung, für die es kein Vorbild gab und auch keine vergleichbare Nachfolge, sehr anschaulich und detailreich darzustellen. Dem heutigen Leser dürften viele der teilnehmenden Schriftsteller bei den Treffen der Gruppe 47 vom Namen her weitgehend unbekannt sein, erst recht aber vom Werk, so kurzlebig ist Literatur in der Tat! Auch die Thematik der heftigen Diskurse ist heute kaum noch nachzuvollziehen, von einem für alle gültigen Konsens konnte jedenfalls kaum die Rede sein, vernünftig Argumentierende gehörten damals wie heute zu einer raren Spezies. Man staunt schon, was diese hochgeistige Elite sich gegenseitig an den Kopf geworfen hat, wie gnadenlos die Verrisse ausgefallen sind. Es war purer literarischer Kannibalismus, der da praktiziert wurde in den sogenannten Werkstattgesprächen, meist destruktiv statt konstruktiv, den beurteilten Autor somit oft total entmutigend. Mit der triumphalen Lesung der «Blechtrommel» hat Günter Grass eines der raren Gegenbeispiele geliefert, wo das ziemlich einhellige Lob und die unumstrittene Verleihung des Preises der Gruppe 47 dem späteren Erfolg auf dem Buchmarkt vorausgeeilt war.

Überhaupt hat sich die Entwicklung der Berufskritiker, die jedenfalls ziemlich komplett versammelt waren und untereinander sowie mit den Autoren die Klingen gekreuzt haben, zu einem maßgeblichen Teil in der Gruppe 47 vollzogen. Walter Jens, Joachim Kaiser, Walter Höllerer, Marcel Reich-Ranicki und Hans Mayer saßen da in der ersten Reihe auf der «Kritikerbank» und nutzten ihre Anwesenheit zu persönlicher Profilierung. Sie wurden ihrerseits grandios verspottet, als «Großkritiker» regelrecht auseinander genommen von niemand Geringerem als Martin Walser, und zwar in einem Zeitungsartikel, dessen Text «zu den besten gehört, die er jemals geschrieben hat», und den Böttiger deshalb genüsslich zitiert. Man kann also auch herzhaft lachen bei dieser Lektüre, und staunen obendrein, was für einen Nonsens diese sich klug wähnenden Herren, es gab ja noch keine Damen in der Riege, selbstgefällig abgesondert haben. Dem Rundfunk ist es zu danken, dass durch Mitschnitte bei den späteren Treffen heute vieles rekonstruierbar ist, was da so alles gesagt wurde, Walsers köstliche Satire teils wortwörtlich bestätigend.

Mit dem Datum war Helmut Böttiger beim Signieren meines Buchexemplars der wahren Zeit zwar einen Tag hinterher, sein ausgezeichnetes Buch ist fachlich aber anderen recht deutlich voraus, und brillant geschrieben ist es obendrein. Es zu lesen lohnt sich somit für Leute, die tiefer einsteigen wollen in die deutsche Literaturgeschichte mit Autoren, von denen einige inzwischen ja schon fast Denkmalstatus erlangt haben. Dieses Buch erweitert den Horizont jedenfalls ganz ungemein, und man kann ihm als seriösem Sachbuch sogar hin und wieder einen gewissen Unterhaltungswert attestieren.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.04.2013
Walser, Martin

Ein liebender Mann


weniger gut

So weit so gut, hätte Ulrike da wohl gesagt, s.w.s.g.

Walsers männlicher Protagonist, der 74-jährige Johann Wolfgang von Goethe, erschießt sich bekanntlich nicht, wie es seine berühmte Romanfigur, der junge Werther, aus Liebesgram getan hat, womit damals ja eine Aufsehen erregende Welle von Nachahmungstaten ausgelöst wurde. Gleichwohl leidet auch der greise Geheimrat im Sommer 1823 unsäglich an Liebeskummer, zum Ausdruck gebracht in der Marienbader Elegie, diesem Liebesgedicht aus «Glut, Blut, Mut und Wut». Martin Walser nutzt für den Stoff seines biografischen Liebesromans eine Informationslücke im ansonsten bestens dokumentierten Leben des großen Dichters, seine beim Kuraufenthalt in Marienbad aufgeflammte späte Liebe zu der 55 Jahre jüngeren Ulrike von Revetzlow. Altersunterschiede dieser Größenordnung waren und sind immer ein beliebtes Thema, denn nicht nur Charlie Chaplin ist ja im Opa-Alter noch Vater geworden, auch die Liste der Lustgreise unserer Tage ist ellenlang, in den bunten Blättern der Boulevardpresse stets süffisant kommentiert, die prominenten Namen setze ich mal als bekannt voraus. Im frühen Neunzehnten Jahrhundert hingegen ging es weitaus betulicher zu, wie wir bei Walser nachlesen können.

Der Roman ist dreiteilig aufgebaut und beginnt furios mit der Schilderung der Liaison, die sich da anbahnt, allerdings nur in der Wunschvorstellung des alten Herrn. Das ungleiche Paar versteht sich jedenfalls blendend und sprüht vor Lebensfreude, Walser erzählt das beinahe wie eine Komödie, mit Witz und Elan jedenfalls. Es gibt amüsante Dialoge zwischen den Beiden, überhaupt wird die Konversation zu jener Zeit und in diesen Kreisen als recht geistreich dargestellt, mit verschiedensten anspruchsvollen Themen befasst. Man gibt sich auch ganz genüsslich dem bei solchem Kuraufenthalte üblichen Reigen wiederkehrender Zerstreuungen hin, lange Spaziergänge auf der Promenade, gegenseitige Besuche, kleine Landausflüge, Dinner-Einladungen und pompöse Bälle. Und unser Lustgreis, der Geheimrat Goethe, geht dann doch tatsächlich so weit, seinen ebenfalls kurenden Landesherren zu bitten, für ihn bei der verwitweten Mutter um die Hand der nichtsahnenden 19-jährigen Ulrike anzuhalten. Und das läuft, man ahnt es gleich, gründlich schief!

Es folgt die übereilte Abreise der angehimmelten Jungfrau, von der wir so gut wie nichts erfahren, die der Autor jedenfalls wie einen unbedeutenden Kometen an der strahlenden Sonne namens Goethe vorbeifliegen lässt. Sicher ist nur ihr weiblicher Status, die Jungfräulichkeit also, denn über ein überschwängliches, völlig unschuldiges Küsschen auf die geschlossenen Lippen ist es nicht hinaus gegangen zwischen den Beiden, wie Walser uns erzählt. Wobei er sich, ohne Not allerdings, denn das alles ist ja nur Fiktion, streng an die Tatsachen hält, Ulrike von Levetzow hat sich dazu später nämlich sehr eindeutig erklärt. Der Autor beginnt nun zu schwadronieren im zweiten Teil seines Romans, Goethes Liebeskummer, diese seitenlange Rührseligkeit, oft in inneren Monologen oder fiktiven Briefen ausgedrückt, ist schwer zu ertragen. Man fühlt sich als Leser nach der erfrischenden Oase des ersten Teils plötzlich in einer öden Wüste und kämpft sich durch, begegnet Seite um Seite einer unsäglichen Larmoyanz, die regelrecht peinlich ist und langweilig obendrein.

Im dritten Teil greift Walser auf die Technik des Briefromans zurück und schildert so die langsam einsetzende Erkenntnis seines Protagonisten, dass er diese ja nur imaginierte Liebschaft aus seinen Gedanken streichen muss. Aber das gelingt nicht, lässt der Autor uns wissen, denn in Walsers vulgärer Pointe ganz am Ende des Romans wacht der Herr Geheimrat morgens auf und hält seinen Morgensteifen in den Händen, wir wissen also genau, wovon der 74-Jährige geträumt hat. So weit so gut, hätte Ulrike da wohl gesagt, s.w.s.g.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.04.2013
Mann, Thomas

Die Entstehung des Doktor Faustus


gut

Genese eines großen Romans

Äußerst selten bekommt man ja als Leser mal Gelegenheit, vom Autor höchstselbst ganz detailliert und mit der denkbar größten Kompetenz über das Erschaffen eines bedeutenden literarischen Werkes ins Bild gesetzt zu werden. Thomas Mann hat sogar eigens einen Roman geschrieben über die Entstehungsgeschichte seines Alterswerkes, das allein wäre schon Grund genug, dieses Buch zu lesen. Wer zudem aber den «Doktor Faustus» gelesen hat, wie ich das mit Vergnügen tat, den wird vermutlich schon die pure Neugier treiben, diese einmalige Chance zu einem Blick hinter die Kulissen zu ergreifen, in der Schreibstube des Dichters also dabei zu sein beim kreativen Akt des Schreibens, hier besser gesagt in dessen Arbeitszimmer. Denn dieser Poeta laureatus, hochgeschätzter Dichter zu seinen Lebzeiten und bis in die Gegenwart andauernd, mutmaßlich aber auch bis weit in die Zukunft hinein fortdauernd, dieser Schriftsteller also hat bekanntlich sehr diszipliniert und mit festem Tagesrhythmus regelrecht gearbeitet, einem Buchhalter nicht unähnlich, der sein Pensum zu absolvieren hat. Wer dabei das berühmte Bild «Der arme Poet» von Moritz von Schwind im Hinterkopf hat, liegt natürlich völlig falsch, nicht nur was die Räumlichkeiten für die kreative Tätigkeit des Dichters anbelangt, sondern auch was die schöpferische Arbeitsweise selbst betrifft.

Thomas Mann, schon als Sechsundzwanzigjähriger früh erfolgreich und damit relativ wohlhabend, konnte sich in der Tat ein recht behagliches Leben einrichten und hat das offensichtlich auch sehr bewusst genossen, wie man im Roman eines Romans, «Die Entstehung des Doktor Faustus», authentisch nachlesen kann. Entstanden ist dieses späte Werk ziemlich bald nach Erscheinen des «Doktor Faustus», an dem der siebzigjährige Autor im amerikanischen Exil knapp vier Jahre, von 1943 bis 1947, gearbeitet hatte. Er selbst sprich von seinem «wildesten Buch», dessen Geschichte er «für mich und die Freunde» zu rekonstruieren suche. Dem autobiografischen Text über die Entstehung des Buches lagen Tagebucheinträge zugrunde, diverse Werknotizen, eine umfangreiche Korrespondenz und viele persönliche Erinnerungen an Gespräche, ein reicher Fundus also, den der geniale Fleißarbeiter Thomas Mann, geplant zunächst in essayistischer Form, dann aber doch in Romanform niedergeschrieben hat.

Man erfährt viel über die Arbeitsweise des Autors, der mit zwei Zeitebenen arbeitend seinen Roman collageartig aus den verschiedensten Themenkreisen und Motiven zusammengesetzt hat, das Faust-Thema dabei natürlich im Mittelpunkt stehend. Hier aber abgewandelt auf einen Protagonisten, der sich als Komponist, der Autor nennt ihn altmodisch «Tonsetzer», dem Teufel verschreibt. Vorlage für diese Figur ist Friedrich Nietzsche, was Genie und Syphilis anbelangt, für die avantgardistische Musik der Komponist Arnold Schönberg. Und so wird man vielfach Zeuge für die Konzeption und die Hilfsmittel zur Umsetzung der literarischen Ideen. Für mich am plausibelsten war dabei die unabdingbare Assistenz von Theodor W. Adorno bei den musiktheoretischen Exkursen, um nicht zu sagen Exzessen, die im Roman einen relativ breiten Raum einnehmen und ein entsprechendes Fachwissen des Lesers voraussetzen. Thomas Mann hat sich voll auf die Kompetenz von Adorno gestützt, von dem er mutmaßt, er würde in der klassischen Musik wohl jede Note kennen, die da irgendwo auf Notenlinien geschrieben steht. Hauptsächlich aber, das sei hier betont, ist dies eine themenbezogene Autobiografie, in der einem fast die gesamte Exil-Prominenz des Zweiten Weltkriegs in den USA begegnet, viele großen Namen sind da vertreten. Das alles ist äußerst interessant zu lesen und eröffnet tiefe Einblicke in das Wesen dieses bourgeoisen Autors, eines Großschriftstellers, wie Berthold Brecht ihn hämisch tituliert hat.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.04.2013
Mann, Thomas

Doktor Faustus


ausgezeichnet

Ich kann es kaum erwarten

Im Olymp der deutschsprachigen Dichtung hält Thomas Mann, völlig berechtigt und auch unangefochten, von niemand Jüngerem erreicht also seither, einen Spitzenplatz ein. Außer ihm tummeln sich dort oben noch, meiner ganz persönlichen und sicherlich anfechtbaren literarischen Rankingliste zufolge, der ihm zeitlich vorausgehende, von ihm hochgeschätzte Theodor Fontane, und natürlich Goethe als literarischer Gigant. Während sich Manns Ruhm weitgehend, im Falle des Nobelpreises von 1929 sogar explizit, auf die 1901 erschienenen «Buddenbrooks» gründet, wurde sein als leichter lesbar beurteilter und damit von einer größeren Leserschar goutierbarer Roman «Der Zauberberg», 1924 erschienen, von der schwedischen Jury ganz bewusst nicht geehrt. Beide Romane habe ich vor vielen Jahren mit großer Freude gelesen, den Autor dann aber aus dem Blick verloren, bis ich kürzlich auf den «Doktor Faustus» stieß, das letzte bedeutendere Werk von Thomas Mann, sein im Jahre 1947, also gut viereinhalb Jahrzehnte nach den «Buddenbrooks» erschienenes großes Alterswerk.

Es hieße Eulen nach Athen tragen, wollte ich der Fülle von gescheiten, fachkundigen Analysen und Besprechungen dieses großartigen Romans etwas hinzufügen. In diversen Essays und Aufsätzen, in literaturwissenschaftlichen Magisterarbeiten und Promotionen ist alles gesagt, natürlich auch zum Inhalt, all das leicht nachlesbar im Internet und in jeder gut bestückten Bibliothek. Meine Absicht ist vielmehr, dem heutigen Leser Mut zu machen, sich an diesen gewiss sehr anspruchsvollen Lesestoff heranzuwagen. Und, das muss besonders betont werden, dann auch durchzuhalten, die Lektüre also nicht nach fünfzig Seiten schon wieder abzubrechen, wie das der zeitgenössische, folglich also schnell ungeduldige, weil total reizüberflutete Romanleser nicht gerade selten tut, was ich den allenthalben veröffentlichten Laienkritiken immer wieder erstaunt entnehme. Action nämlich bietet dieser Faustroman nicht, wobei in der Handlung eine gewisse Dramatik und eine sich zum Ende hin stetig steigernde Spannung sehr wohl vorhanden ist. Aber auch hier ist wie so oft der Weg das Ziel, so gekonnt wie in diesem Buch ist noch kein mir bekannter Prosa-Autor mit der deutschen Sprache umgegangen, sprachsensible literarische Gourmets dürften ihre helle Freude daran haben.

Bei mir kam noch die Ehrfurcht hinzu, die der mystische Fauststoff generell auslöst, und dann natürlich auch die Neugier, wie denn Thomas Mann das Thema variiert hat. Vor allem im Vergleich mit Goethes Dichtung, dessen «Faust», stark von Dante beeinflusst und ihn teilweise plagiierend, ein sprachliches Fest ist für jeden empfindsamen Geist, für mich der Gipfel der deutschsprachigen Dramatik, auf Augenhöhe mit dem großen Shakespeare. Im «Doktor Faustus» nun geht ein junger Komponist den Pakt mit dem Teufel ein und wird dadurch zum musikalischen Genie, was der Autor in sprachlich unübertrefflicher Weise und mit einem genial konstruierten Plot in Prosa umgesetzt hat. Wer wie ich musiktheoretisch absolut unwissend ist, wird hier aber bald total überfordert und braucht nun einiges an Geduld, um durchzuhalten, wird jedoch nicht dümmer dabei, ganz im Gegenteil! Wie überhaupt mit diesem Roman durchgängig ein intellektuell äußerst anspruchsvoller Lesestoff vorliegt, der den Leser genau dadurch aber ohne Ende bereichert, en passant gewissermaßen, auch wenn er nicht immer alles bis in den letzten Wortsinn hinein versteht. Es wimmelt neben dem Musikalischen nämlich von kaum gebräuchlichen Fremdwörtern und epochebezogenem Vokabular, von Fachbegriffen verschiedenster Disziplinen, von philosophischen und historischen Anspielungen. Alles das, ich wiederhole es bewusst, macht den Leser nicht dümmer, spornt ihn vielmehr, wenn er sich seine Aufnahmefähigkeit denn bewahrt hat und geistig rege ist, seinen Horizont erweiternd zum Nachforschen, zum Mitdenken, aber auch zum Grübeln an.

5 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.03.2013
Roth, Philip

Nemesis


weniger gut

Ein Roman aus dem Klischee-Baukasten

Als hoch gepriesener US-amerikanischer Schriftsteller liefert Philip Roth mit «Nemesis» seinen, wie er selbst beteuert hat, letzten Roman ab. Die Idee dazu kam ihm durch eine Freundin, die Filmschauspielerin Mia Farrow, die als junges Mädchen an Kinderlähmung erkrankt war. Aber auch die Lektüre von «Die Pest», dem grandiosem Roman von Albert Camus, hat ihn wohl inspiriert. Schon lange als nobelpreiswürdig angesehen, ist ihm, wie auch vielen seiner erfolgreichen nordamerikanischer Kollegen, diese höchste Ehrung bisher versagt geblieben, und zwar wegen der Trivialität ihrer Literatur, so der pauschale Vorbehalt der Jury. Ist diese Kritik denn zutreffend, fragen wir uns.

Die Rachegöttin Nemesis dient dem Miesepeter aus New Jersey, wie der Autor wegen seiner eher trübsinnig machenden Romane mal genannt wurde, als aussagekräftiger Titel für seine düstere Geschichte einer Polio-Epidemie, die zur Zeit des Zweiten Weltkriegs spielt, als man der heimtückischen Krankheit also noch weitgehend hilflos gegenüberstand. Durch eine raffinierte Konstruktion in drei Kapiteln gelingt es Roth, seiner eher langweiligen Story eine gewisse Dramatik zu verleihen, die vermutlich manche Leser zu fesseln vermag. Arnie Mesnikoff, der Ich-Erzähler und überzeugte Atheist, steht dabei in krassem Gegensatz zur jüdischen Hauptfigur Bucky Cantor, einem blitzsauberen, hehren Sportmenschen, der leibhaftige Idealtypus des American Hero. Beide erkranken an Poliomyelitis, gehen aber, wie man in einer Art Showdown erst ganz am Ende der Geschichte erfährt, völlig unterschiedlich mit ihrem Schicksal um

Warum lässt Gott uns leiden, warum lässt er grausame Kriege zu, warum überzieht er uns mit solch verheerenden Epidemien? Alles Fragen, an denen sich die Theologen aller Religionen seit Jahrhunderten abarbeiten, ohne auch nur ansatzweise eine überzeugende Antwort zu finden. An genau dieser Frage scheitert auch der gläubige Romanheld, der nicht nur mit seinem Schicksal hadert, sondern, schlimmer noch, an seinen Selbstzweifeln leidet und sich eine Mitschuld an der Ausbreitung der Epidemie einredet. Was für den lebensklugen Ich-Erzähler die Tyrannei der Umstände ist, aus denen man pragmatisch das Beste machen muss, das ist für den vor lauter Moral- und Ehrgefühlen geradezu mystisch überhöhten Helden die pure Theodizee. Er steht der unheilvollen Melange von Schicksalsschlägen und nicht verifizierbaren Selbstvorwürfen jedenfalls völlig ratlos gegenüber.

Ein Abgrund des Trivialen tut sich auf in diesem Roman, Klischees im Übermaß jedenfalls, vom kriminellen Vater, im Kindbett gestorbener Mutter, wahren Gutmenschen als Großeltern, makellosem Doktor als Schwiegervater, bösen Italienern und guten Juden, idyllischem Indianercamp, selbstlosem Liebesverzicht bis hin zum göttergleichen Speerwerfer, der uns am Ende des Buches vorgeführt wird. Hollywood lässt grüßen! Schade eigentlich, denn der Stoff gäbe einiges her, erinnert in seiner Tragik ja durchaus an griechische Dramen. Erzählt ist diese holzschnittartige Geschichte von Idealen, Moral, Verantwortung, Vorurteilen, Schuld und Sühne in einer einfachen, knappen, humorlosen Sprache ohne Raffinesse und Esprit. Lesevergnügen sieht anders aus! Und was die künstlerische Qualität solcher literarischen Produkte anbelangt, hat das Nobelkomitee wohl ausgesprochen weise geurteilt.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.03.2013
Wood, James

Die Kunst des Erzählens


gut

Wer hat da nicht drauf gewartet als eifriger Romanleser! Es gibt jetzt endlich ein Buch, das uns die schwierige Frage beantworten will, «was unterscheidet einen guten Roman von einem schlechten», wie es im Klappentext heißt. Geschrieben von dem englischen Kritikerpapst James Wood, bisweilen tatsächlich als berühmtester Literaturkritiker der Welt apostrophiert, zugleich Professor für Literaturkritik an der Harvard-University, was reichlich vorhandene Fachkompetenz erwarten lässt, aber selbstverständlich keine Unfehlbarkeit wie bei den echten Päpsten in Rom.

In einer präzisen Sprache ohne akademische Attitüde erfahren wir viel Wissenswertes zum Thema Erzählen in Schriftform, als Prosa natürlich. Bei seinem Bemühen, die verborgenen Geheimnisse der hohen Schreibkunst offenzulegen, führt uns Wood tief hinein in die Methoden der Textanalyse. Er erklärt kenntnisreich und an vielen Beispielen alle Aspekte der Erzähltechnik: Sprachstil und Ausdruck, erlebte Rede, Dialog, deskriptive Pause, Perspektive, runde und flache Figuren, Detailauswahl, Metaphern und Konventionen. Auffallend ist, dass dabei der Plot als essentieller Bestandteil einer Geschichte nahezu unbeachtet bleibt, was in ziemlichem Gegensatz zur Erwartungshaltung, ja zum Kennzeichen der persönlichen Lesebiografie der allermeisten Romanleser stehen dürfte. Stattdessen solle der Leser sein «drittes Ohr» sensibilisieren für subtile Anspielungen und historische Bezüge des Erzählten!

Was denn auch prompt einigermaßen schwerfällt angesichts Woods einseitiger Orientierung zum literarischen Realismus hauptsächlich des 19. Jahrhunderts, womit er sicherlich viele Leser ausgrenzt bei seinen klugen Erläuterungen, was «hohe» Literatur ist. Er beschäftigt sich besonders intensiv mit Flaubert, wenn er uns erklären will, worauf es sich zu achten lohnt. Zeitgenössische Autoren hingegen werden recht stiefmütterlich behandelt bei Wood, nur David Foster Wallace wird häufiger erwähnt. Der deutsche Leser gar wird sich verwundert die Augen reiben, Goethe, Fontane, Mann führen nur ein Schattendasein in Woods literarischem Kosmos, kaum der Rede wert. Warum das so ist, kann jeder leicht nachvollziehen, der in einer Londoner Buchhandlung mal nach Büchern dieser Autoren fragt, er wird nur erstaunte Rückfragen auslösen. Goethe what? Can you spell it out, please!

Womit das ewige Problem der Fremdsprachen deutlich wird, die unsere Literaturwelt in viele Sprachinseln aufteilen. Es werden also Übersetzungen erforderlich, bei denen dann manches, wie am Beispiel eines französischen Wortklangs demonstriert wird, einfach unübersetzbar ist. Die recht einseitig hauptsächlich Woods englischer Muttersprache zugewandte Buchauswahl hat jedenfalls zur Folge, dass vieles nicht nachvollziehbar ist, weil man die Konventionen nicht kennt, die dem Text zugrunde liegen. Aber auch, weil man die Autoren und ihre Romane nicht kennt, von manchen noch nie gehört hat, manches auch gar nicht in deutscher Übersetzung vorliegt. Damit fehlt, mir jedenfalls, häufiger mal die Verständnisgrundlage, ein ziemliches Manko für dieses ambitionierte Werk.

Das euphorische Vorwort von Daniel Kehlmann ist ein deutliches Indiz für die eigentliche Zielgruppe dieses Buches, für Leute die schreiben nämlich, die hier dann auch einen üppig bestückten literarischen Werkzeugkasten vorfinden samt detaillierter Gebrauchsanweisung. Reine Leser hingegen ziehen ihren Nutzen en passant, indem sie den Schriftstellern über die Schulter schauen quasi. Warum wir lesen und was das Lesen bewirkt, das findet man ziemlich versteckt in einer der vielen Anmerkungen im Anhang des Buches. Was aber gut ist als Roman, das müssen wir uns selbst zusammenreimen, das kann man nämlich nicht generell und für jeden passend definieren, da ändert auch dieses interessante Buch nichts dran. Insoweit ist die im Klappentext gleich mit dem ersten Satz versprochene Aufklärung für den erwartungsvollen Leser nichts weiter als ein Marketing-Trick des deutschen Verlegers.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.03.2013
Buselmeier, Michael

Wunsiedel


schlecht

Metamorphose eines Miesepeters

Das Theater in der kleinen, fränkischen Stadt, nach der dieser Roman benannt ist, eine saisonale Sommerbühne im Luisenburg-Felsenlabyrinth, auf der man im Rahmen jährlich stattfindender Festspiele den »Götz von Berlichingen« und ähnlich Volkstümliches spielt, nennt Michael Buselmeier »abstoßend, heruntergekommen, eine subventionierte Abgeschmacktheit«. Starker Tobak also, was der Autor da so schreibt in seinem als Theaterroman deklarierten Werk mit unverkennbar autobiografischem Hintergrund, kaum camoufliert jedenfalls. Bisher nur von Wenigen hauptsächlich als neoromantischer Lyriker wahrgenommen, ist er durch seine Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2011 nun auch einem breiteren, zur Prosa hin orientierten Publikum bekannt geworden, zu dem ich mich ausdrücklich auch selber zähle.

In diesem Roman wird die Geschichte eines jungen Theatermenschen geschildert. Der Ich-Erzähler Moritz Schoppe, Schauspieler und Regieassistent, scheitert grandios - unpragmatisch wie er ist - bei seinem ersten Engagement, teils an den selbstgesetzten Ansprüchen, aber auch an seiner Unbelehrbarkeit. Als Misanthrop schimpft er nicht nur auf fast alles, was mit Theater zu tun hat, auch an der Stadt Wunsiedel und an seinen Bewohnern lässt er kaum ein gutes Haar. Nur die fränkische Natur und einige wenige Lichtgestalten des Theaters wie Gustav Gründgens lässt der Außenseiter gelten, bewundert außerdem fast grenzenlos Wunsiedels Dichtersohn Jean Paul. Bei einer Aufführung von Goethes »Torquato Tasso« fühlt er inniglich mit Will Quadflieg, «da litt ein Dichter, ein Fremder genauso wie ich, an der Welt und an den Menschen«.

Nach 44 Jahren kehrt der Gescheiterte, inzwischen als Schriftsteller (sic!) tätig, an die Stätte seiner Niederlagen zurück. Und findet wieder nur Negatives, die Verödung des Bahnhofs in Wunsiedel, die Trübsal des Kurortes Alexandersbad mit Konzerten im Musikpavillon vor einem größtenteils debilen Publikum. Alles ist ein einziges Scheitern, ein Desaster in diesem Roman, der Frust ist riesengroß. Sogar Ulla, ehemalige Freundin, »notorisch erfolglos, so gut wie nichts gelang ihr«, wie er anmerkt, die Frau also, die ihn damals verlassen hatte, stirbt einsam einen schlimmen Krebstod und wird, obwohl aus begütertem Hause, in einem anonymen Grab beigesetzt. Ich dachte an dieser Stelle, da fehlt jetzt eigentlich nur noch eine schadenfrohe Anmerkung im Sinne von »selber schuld, wäre sie damals mal lieber bei unserem Romanhelden geblieben«!

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier ein ausgewiesener Solipsist vorgeführt werden soll, das literarische Alter Ego des Autors vermutlich, der fast gar nichts gelten lässt neben sich. Benutzt man den Begriff Kritik im kantschen Sinne für Analyse und Prüfung, schlägt die Rundum-Schelte voll auf den Autor zurück. In einer holperigen, unbeholfen wirkenden Sprache, ja im Stile eines Schüleraufsatzes wird die belanglose Geschichte eines unsympathischen Außenseiters erzählt, ohne irgendwelche Höhepunkte, ohne jede sprachliche Finesse, ohne einen Funken von Humor, üppig angereichert nur mit kitschiger Naturromantik. Das alles ist wegen seiner miesepetrigen Stimmung sehr unerfreulich zu lesen, es ist auch nicht wirklich bereichernd, man erfährt kaum Neues in diesem langweiligen Plot. Positiv ist eigentlich nur, dass man nach lediglich 158 Seiten das Buch erleichtert zuklappen kann.

Bewertung vom 17.03.2013
Kirchhoff, Bodo

Die Liebe in groben Zügen


gut

Nichts für faule Leser

Ein schwieriges Unterfangen, auf das sich Bodo Kirchhoff mit seinem gewichtigen Roman eingelassen hat, der Titel schon eine Untertreibung. Denn nicht in groben Zügen wird hier über die Liebe erzählt, das ewige Thema wird vielmehr in vielen Facetten sehr detailliert beschrieben, in unserer Zeit spielend, alles hochaktuell. Aber nicht nur die Liebe ist ein Thema, auch unsere Nöte mit dem Altwerden sind scharfsichtig geschildert, und das Sterben einer noch jungen, krebskranken Frau schließlich ist hier so eindringlich dargestellt, wie ich es noch nie erlebt habe in einem Buch. Der Autor ist ein sprachgewaltiger Erzähler, der manch Autobiografisches verarbeitet hat und dem man gerne folgt durch seine lange, ausführlich geschilderte Geschichte, denn der Weg ist das Ziel, und dieser Weg ist einfach immer wieder schön.

Protagonisten sind ein Ehepaar mittleren Alters mit erwachsener Tochter, beide beim Fernsehen tätig, durchaus wohl situiert mit großer Altbauwohnung in Frankfurt am Main, Haus am Gardasee, mit eigenem Boot natürlich, und auch der Jaguar V8 darf nicht fehlen. Man lebt also gut, immer nach dem Motto: Was lacostet die Welt, Geld spielt keine Rolex. Renz, einige Jahre älter als seine Frau, hat öfter Affären, und Vila ist auch kein Kind von Traurigkeit. Aber man findet sich immer wieder, hat sich fugenlos angepasst an den Partner, lebt fast schon symbiotisch miteinander. Bis beide einen Jüngeren kennenlernen, er eine agile Kollegin vom Fernsehen, sie einen vergeistigten ehemaligen Lehrer, der ein Buch über Franz von Assisi schreibt.

Der historische Stoff über Franz, ganz aktuell durch den neugewählten Papst, der bekanntlich dessen Namen angenommen hat, und die heilige Klara, 1958 von Papst Pius XII zur Schutzpatronin des Fernsehens (sic!) erklärt, dieser Stoff also bildet einen zweiten Handlungsstrang, der einen unüberbietbaren Gegensatz darstellt zu den Helden unseres Alltags. Köstlich zu lesen ist dazu Kirchhoffs beißende Gesellschaftskritik, Talkshow-Politiker, die gegen ihr fieses Gesicht anreden, ein Ministerpräsident und späterer Bundespräsident mit Schulsprecherhabitus, das absurde Völkchen der Fitnessstudios mit Porsche und Pulsmesser, und vieles andere mehr.

Das alles aber nur am Rande. Dieser Roman beleuchtet nüchtern, sachlich, klug und detailreich, aber auch feinfühlig und unterhaltsam die Liebe von den frühen Stadien der prickelnden Verliebtheit bis zur abgeklärten, wohligen Gemeinsamkeit zweier Partner, deren verborgene Bindungskräfte immer wieder obsiegen, allen Versuchungen zum Trotz. Die ewige Jagd nach dem berauschenden Liebesglück mit dem dazugehörigen tollen Sex, in unserer nimmersatten Gesellschaft kräftig angeheizt von den Medien, wird behutsam zwar, aber unerbittlich und zwingend als letztendlich unhaltbare Illusion vorgeführt. Jüngere werden das womöglich nicht akzeptieren wollen, Ältere werden eher verständnisvoll nicken, sich tatsächlich wiederfinden in dieser Beschreibung. Allen aber sei gesagt, dieser ausschweifende Gegenwartsroman ist nichts für faule Leser, eher für geschichtensüchtige Genießer.

2 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.03.2013
Lewitscharoff, Sibylle

Blumenberg


ausgezeichnet

Verwirrung in der Gelehrtenstube

Literatur und Philosophie existieren ja nicht selten in symbiotischer Form, meist in Person eines geistigen Schöpfers, als Dichter und Denker bezeichnet, der alle beiden Kulturgattungen bedient, Nietzsche sei als Beispiel genannt. Eng verbunden sind diese Disziplinen aber auch dadurch, dass alle Denkergebnisse irgendwie fixiert werden müssen, sollen sie für die Nachwelt erhalten bleiben, und damit werden sie zwangsläufig zu Literatur. Im vorliegenden Roman bildet die philosophische Wissenschaft den reizvollen Hintergrund für eine raffiniert aufgebaute, komplexe Geschichte, die schon durch ihren Titel als Hommage an den Professor gleichen Namens gedeutet werden darf.

Die Autorin bindet einen Löwen in ihre Handlung ein, den der Gelehrte zunächst als Hirngespinst oder Studentenulk ansieht, der sich in seiner Symbolträchtigkeit jedoch immer mehr als Trostspender und gedanklicher Ruhepol erweist. Mit viel Komik und gekonntem Sprachwitz wird munter fabuliert in diesem ungewöhnlichen Roman mit seinem gewagten Titel, der ja suggeriert, hier stehe der gleichnamige Philosoph und sein Denksystem im Mittelpunkt, was manche Leser mutlos machen könnte. Keine Sorge! Äußerst elegant und schwungvoll führt Lewitscharoff durch ihre originelle Geschichte, und auch wenn man, wie ich, nicht jeden Hintersinn, jede Andeutung versteht als blutiger Laie in Sachen Philosophie, liest man dieses Buch gleichwohl mit geistigem Gewinn, vom geradezu königlichen Lesespaß ganz abgesehen.

Im Milieu professoraler Gelehrsamkeit erleben wir Blumenberg in seinem Arbeitszimmer und in der Vorlesung, einer, der fleißig seine Wissenschaft betreibt und hohe Anerkennung genießt bei seinen ehrfürchtigen, von ihm aber kaum wahrgenommenen Studenten. Vier von ihnen, ergänzt um eine wundersame Nonne, sind die anderen Protagonisten, die ihn in einer Collage von kunstvoll verschachtelten Geschichten umkreisen. Alle Figuren sind liebevoll und eindringlich beschrieben, sie stehen dem Leser beinahe plastisch gegenüber, sind greifbar nahe in dieser zweiten Erzählebene. Ergänzend sind zwei köstliche Kapitel eingeschoben, in denen der Erzähler auf sehr unterhaltsame Weise über Inhalte und Konstruktion seines Textes nachdenkt. «Ob der Erzähler wirklich wissen kann, was einem Selbstmörder zuletzt in den Sinn kommt, ist fraglich» heißt es da. Das Buchstabenleben des Romans und seine Gedankenwelt wird hier verschmitzt hinterfragt. Aber dass man einen Selbstmord so absolut unpathetisch schildern kann hat mir denn doch den Atem verschlagen.

Nach dem Tode aller Protagonisten treffen sie im Jenseits wieder zusammen, auch der Löwe ist zur Stelle. Mit ihrem rätselhaften Bericht aus einer Höhle (wem dämmert da was?) eröffnet die Autorin reichlich Raum für Interpretationen, mit denen man noch beschäftigt ist, lange nachdem man das Buch zu Ende gelesen hat. Was dem Atheisten Blumenberg und den anderen Figuren widerfährt, das langsame Verlöschen ihrer Existenzen, deutet für mich jedenfalls darauf hin, dass dieser Ort eine Vorstufe zum Nirwana ist, Himmel und Hölle existieren ja nicht. Dieses Buch ist ein meisterhaft geschriebener, wunderbar geistreicher Roman, der im wahrsten Sinne des Wortes bereichernd ist, ein selten zu findendes, intellektuell anspruchsvolles Lesevergnügen obendrein.

6 von 7 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.03.2013
Ruge, Eugen

In Zeiten des abnehmenden Lichts


sehr gut

Vergänglichkeit war noch nie ein vergnügliches Thema

Es ist erfreulich, dass immer wieder neue Autoren mit ihren Debütromanen renommierte Literaturpreise erringen, auf Anhieb also gleich in den Olymp der Literatur aufsteigen. So auch Eugen Ruge, der 2011 mit seinem Erstling eine Familien-Saga ablieferte, die jenen deutschen Staat widerspiegelt, der den real existierenden Sozialismus zu höchster Blüte getrieben hat, nach eigenem Verständnis jedenfalls. Als „gelernter Ossi“ hat der Autor manch Autobiografisches in seinem Roman verarbeitet, die Befindlichkeiten seiner Protagonisten, die vier Generationen repräsentieren, sind jedenfalls stimmig dargestellt in seiner kunstvoll aufgebauten Geschichte. Die mit ihren diversen Kapiteln und einer Geburtstagsfeier im Zentrum übrigens ans Theater erinnert, - wen wundert’s!

«Ich hab eigentlich genug Blech im Karton» oder «Bring das Gemüse zum Friedhof» lässt Ruge den senilen Patriarchen der Familie, Altkommunist und Betonkopf zugleich, bei seiner Geburtstagsfeier immer wieder sagen, wenn ihm wertloses Ordensblech und heuchlerische Blumen überreicht werden. Wir lesen von all den Unzulänglichkeiten des täglichen Lebens, da wird überzähliger Kaviar gegen fehlende Dachfenster getauscht, die Suche nach einer akzeptablen Gaststätte gerät zur Odyssee in klirrender Kälte und endet in einer Imbissbude. Mit subtiler Ironie wird das Alltagsleben in jenem dem Untergang geweihten deutschen Staate geschildert, dessen Ideologie keinesfalls absurder war als die des Turbokapitalismus, wie wir ihn heute im wiedervereinigten Deutschland zelebrieren.

Eugen Ruges DDR-Saga ist übrigens weder mit den Buddenbrooks noch mit Tellkamps «Der Turm» vergleichbar, wie verschiedentlich behauptet. Hier geht es um die Lebenswelt einer zunächst weitgehend systemkonformen Familie, bei Tellkamp um eine eher oppositionell eingestellte systemferne Bourgeoisie. Und bei Thomas Mann ist die Familie kein Vehikel, mit dem eine Staatsordnung vorgeführt wird, sondern alleiniges Thema, bei ihm geht die stolze Familie unter, nicht der Staat.

In den nicht chronologisch angeordneten zwanzig Kapiteln wird alternierend jeweils aus Sicht eines der Protagonisten erzählt, oft in Form innerer Monologe und als kleine, in sich abgeschlossene Geschichten. Mit Abstand die Beste war für mich das liebeswerte Kapitel über die geradezu archaisch wirkende russische Großmutter, für die «schon jedes Haus aus Stein eine Kirche war». Diese aufgefächerte Erzähltechnik sorgt einerseits für Spannung, erfordert andererseits aber auch viel Aufmerksamkeit, denn alle diese Mosaiksteine formen sich erst im Kopfe des Lesers zu einem kompletten Panorama, er muss also aufmerksam sein und mitdenken. Macht er sich diese Mühe, wird er mit einem großartigen Gesellschaftsbild einer vergangenen geschichtlichen Epoche bestens unterhalten. Ihm wird außerdem je nach Herkunft - als „Wessi“ aber ganz bestimmt - der Horizont erweitert, und zwar auch ideologisch. Dass man nicht gerade in Hochstimmung gerät bei Ruges melancholischem Text, das liegt in der Natur der Sache, in Zeiten des abnehmenden Lichts also, im Herbst des Lebens, denn die Vergänglichkeit war noch nie ein vergnügliches Thema.

8 von 9 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.