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darkola77

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Insgesamt 104 Bewertungen
Bewertung vom 31.12.2022
Aramburu, Fernando

Die Mauersegler


sehr gut

Intensiv in Tiefe und Breite – „Die Mauersegler“ haben mir ein geradezu rauschhaftes Leseerlebnis geschenkt!
Tief bin ich in das (Seelen-) Leben von Toni ein- und abgetaucht, habe durch seine Augen die Jahre und Jahrzehnte in der Rückschau sowie das Jetzt in seiner Einsamkeit gesehen und durchlitten, erlebe seine Verzagtheit, Freudlosigkeit, Fatalismus.
Breit ist die Geschichte dabei mit über 800 Seiten in der deutschen Übersetzung angelegt, genügend Raum, Zeit und Lebensereignisse, um für mich eine starke Verbindung zu Toni aufzubauen, der weiß Gott kein Held im klassischen Sinne ist. Und aus diesem Grunde sind die Figur, sein Erleben und Empfinden auch so glaubhaft, nachvollzieh- und nachfühlbar für mich und damit mit einer Nähe zu mir als Leserin, wie ich sie nur selten erleben durfte.
Tragisch ist die Geschichte, aber nicht traurig, ernüchtert vom Leben ist Toni, doch nicht verbittert. Und so habe ich auch das Leseerlebnis wahrgenommen, mit einer gewissen Resignation, jedoch ohne Schwere und – wer hätte das gedacht! – mit viel Witz und feinem Humor, mal zwischen den Zeilen, mal direkt in diesen zu finden. Denn auch das Leben selbst hielt neben den Tiefen Momente voll Liebe, Glück und Dankbarkeit für Toni bereit, die ihn in seiner Rückschau zufrieden mit dem Erlebten und Erfahrenen stellen und ja, auch immer wieder zu amüsieren vermögen. Der Abschied vom Leben, das Sterben über 365 Tage mag auch zu erfreuen!
Nicht nur mit Blick auf meine Finger und Hände, die bei knapp einem Kilo Literatur und dem stundenlangen Abtauchen in diese schwer wurden, hätte der Geschichte durchaus ein paar Seiten weniger gut zu Gesicht gestanden. Tiefe plus Breite muss nicht zwingend gleich Länge sein. Doch wer weiß, ob meine Augen nach der letzten Zeile dann genauso groß erstaunt, mein Herz so voll und mein Kopf so wunderbar leicht gewesen wäre.

Bewertung vom 18.12.2022
Belfrage, Ixta

MEZCLA


sehr gut

Fusionküche at its best! Denn die Kombination verschiedener Esskulturen, Kochstile und Traditionen ist häufig für mich eine Blackblox, die viel verspricht, mit einem unklaren Ergebnis.
Ganz anders bei Ixta Belfrage! Ihr Rezepte bringen so viel Geschmackreiches aus den Küchen v. a. Brasiliens, Italiens und Mexikos zusammen, sind eine Kombination mit ganz eigenem Schwerpunkt und Charakter und verstehen sich ganz besonders als Fest: auf die Freude am Essen, Genießen und die Einflüsse verschiedener Kulturen und Stile. Die Ergebnisse überzeugen dabei mit intensivem Geschmack, teils ungewöhnlichen Kombinationen und intensiven Farben und Gerüchen, die Tisch und Raum füllen.
Zugänglich werden die Rezepte in den verschiedenen Kategorien „Für jeden Tag“, „Entertaining (irgendwie)“ und „Zu guter Letzt“ – die ersten beiden Kapitel jeweils unterteilt in „Vegetarisch“, „Fisch“ und „Fleisch“. Übersichtlich, nachvollziehbar. Doch nicht immer konsequent, denn die vegetarischen Gerichte sind häufig eher Gemüsegerichte, in der Option auch vegetarisch zuzubereiten, wie etwa die „Gerösteten Auberginen mit Koriander-Sardellen-Salsa“, S. 77. Die Sardellen sind hier auf Wunsch durch grüne Oliven zu ersetzen. An sich völlig problemlos, doch andersrum wäre es stimmig und auch für Vegetarier*innen zugänglich – und ein Genuss.
Und um diese aromatischen Speisen auch sättigend genießen zu können, lohnt sich ebenfalls ein genauer Blick in die Zutatenliste mit ihren Mengenangaben. Denn sonst könnte der Magen auch mal knurrend und die Familie am Tisch noch hungrig bleiben. Die sehr geschmacksreichen „Spinat-Kräuter-Klöße mit Kirschtomatensauce“, S. 49, sind pro Person mit gerade mal 50 g TK-Spinat, 15 g Polenta und 70 g Tomaten berechnet – ohne Beilage. Möglicherweise ist das Gericht eher als eine Art Mezze gedacht, aber nicht entsprechend ausgewiesen?
Bis auf diese kleinen Abstriche war „Mezcla“ für mich ein ungewöhnlich geschmackvoller, zugänglicher und abwechslungsreicher Genuss und unser persönliches Fest des Essens und Schlemmens. Meine bisher liebsten Rezepte sind übrigens das „Piri-Piri-Tofu über Knusper-Knusper-Orzo“, S. 78, und der so schnell zubereitete wie raffiniert komponierte „Mango-Käse-Salat mit Jalapeno-Chilischoten und Limette“, S. 39 – unbedingt probieren! Und ich bin mir sicher, viele der Gerichte werden noch zu meinen All-time-Favorites werden!

Bewertung vom 13.12.2022
Thompson, Tade

Fern vom Licht des Himmels


ausgezeichnet

Millionen Lichtjahre entfernt von gewöhnlich, mit Überschall durch eine Geschichte voll Spannung und unvorhersehbare Wendungen – „Fern vom Licht des Himmels“ ist eine rasante Reise, ein Abenteuer, pures Vergnügen! Und in seiner Zusammensetzung schon sehr besonders.
Denn was die Leser entdecken dürfen, widersetzt sich der starren Genregrenzen, entzieht sich einer klaren Zuordnung, ist etwas Eigenes, Selbstkomponiertes. Ein Raumschiff als Ort eines unsagbaren Verbrechens, der Weltraum als die Leere, das Gefängnis, das einen Ausweg unmöglich erscheinen lässt. Und mittendrin ein junger Captain wider Willen, auf ihrer ersten Mission, urplötzlich vor die Aufgabe gestellt, das Leben ihrer schlafenden Passagiere zu retten.
Unterstützt wird sie hierbei von einer Schicksalsgemeinschaft, einem Querschnitt des neuen, galaktischen Lebens, die sie im weiteren Verlauf liebevoll „ihre Crew“ nennt. Doch trotz des messerscharfen Verstandes der künstlichen wie auch biologischen Crewmitglieder nimmt das Unheil schier unaufhaltsam seinen Lauf, Schiff und Leben kommen zunehmend zu Schaden, der Verfall erscheint rätselhaft und unerklärlich.
Wer mit Thompson in dieses interstellare Kammerspiel einziehen möchte, sollte keine schwachen Nerven haben und sich auch nicht vor dem einen oder anderen Moment des Ekels, der Häufung von Körperteilen oder des Verlustes derselbigen fürchten. Doch neben den Horrorelementen kommen auch die Freunde der Science-Fiction und gar des guten, klassischen Krimis auf ihre Kosten. Denn wo Morde sind, ist auch ein Mörder nicht weit, ist auch ein Ermittler ganz nah.
Hört sich alles kompliziert an? Ist es aber nicht. Das einzige, was anstrengend ist: Das Buch aus der Hand zu legen, sobald die Geschichte einmal begonnen hat, ihr Netz zu weben. Und in diesem verfangen sich nicht nur außerirdisches und künstliches Leben, ein Wolf – wer hätte dies im Weltraum gedacht! –, sondern auch die Leser, die diesem Pageturner nicht entkommen können.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.11.2022
Aster, Alex

Lightlark Bd.1


ausgezeichnet

Ein Fluch, der eine gesamte Welt zu zerstören droht, eine junge Herrscherin, die ihr Reich verzweifelt zu retten versucht, ein Geheimnis, das im Dunkeln verborgen bleiben muss – Alex Aster schafft mit „Lightlark“ eine Geschichte von Liebe, Verzweiflung und Verrat, ein Universum der Zauberei und Magie, eine Heldin, welche die Herzen ihrer Leser berührt.
Die Elemente und Motive, denen Aster sich hierfür bedient, haben teils Tradition, sind teils neugeschaffen oder -gedacht und entstammen ebenso der Welt der Fantasy wie auch der der Märchen. Die Geschichte erhält so einen ganz eigenen Klang und einen Sog, der sie gleich einer Sirene unwiderstehlich werden lässt.
Auch Isla Crown ist eine Verführerin, der Wildling, der den Kopf verdreht und die Sinne betört, die „Herzverschlingerin“ – in so vielfacher Hinsicht und Bedeutung. Selbst jung, unerfahren und vermeintlich unterlegen, sind Mission und Verantwortung doch von der Größe ihres Reiches und der Anzahl der Angehörigen ihres Volkes, welches sich seit hunderten von Jahren im Exil befindet. Von Islas Sieg hängt deren Überleben ab, der Fortbestand ihrer Sippe. Und auch ihre ganz eigene, persönliche Freiheit,
Bislang eingesperrt in einem goldenen Käfig und ausschließlich auf den Centennial, den Wettbewerb der Herrscher, trainiert, ist die Zeit auf Lightlark ebenso ein Ausbruch aus den begrenzten Mauern ihres bisherigen Daseins wie die Entdeckung eines Lebens der Abenteuer, Möglichkeiten und Gefühle und einer unbekannten Welt, die zugleich dem Untergang geweiht ist. Umgeben von Lügen und Verrat, Liebe und Hass und auf einer Mission, die alles entscheidet, gilt es nicht nur, das eigene Herz zu beschützen sondern zugleich auch das vieler Menschen zu retten – und damit den Fortbestand der sechs Reiche zu sichern.
Mit Isla hat Alex Aster eine ebenso ungewöhnliche wie liebenswerte Heldin geschaffen, vermeintlich schwach und doch voll ungeahnter Stärke, zunehmend selbstbewusst und mit einem Verstand, der ihrer Schönheit in nichts nachsteht. Eine Identifikationsfigur für wohl viele ihrer Leser und diejenigen, die eine Geschichte voll Magie und Fantasy ebenso schätzen wie eine starke Frauenfigur als Mittelpunkt und Triebfeder des Geschehens.
Dass das Ende dann so voller Überraschungen, Enthüllungen und Ungeahntem ist, macht „Lightlark“ rund, im wahrsten Sinne des Wortes „wunder-bar“ und lässt es als Versprechen auf eine Fantasy-Reihe erscheinen, die in ihren weiteren Bänden ebenfalls die Herzen im Sturm erobern wird – und uns durch Sternenpfützen und Portale zwischen den Buchdeckeln, Seiten und Zeilen ganz sicher in Welten voll Spannung, Abenteuer und Liebe entführen wird.

Bewertung vom 07.11.2022
Mathieu, Nicolas

Connemara


ausgezeichnet

Intelligent, intensiv und mit beißendem Humor – „Connemara“ hat mich immer wieder staunen lassen und mir viele Momente des Wiedererkennens und des kräftigen, zustimmenden Nickens beschert. „So, genau so ist es!“ Und dank der treffenden Beobachtungen und scharfen, pointierten Dialoge mit viel Witz und klugem Humor waren Überraschung und Verwunderungen ob der Ähnlichkeiten und Parallelen in der realen Welt für mich häufig ebenso mit einem kräftigen Lachen verbunden – und einer schier königlichen Unterhaltung.
Ein Roman, der nur für mich als Leserin geschrieben zu sein scheint, dieses Gefühl vermochte mir Nicolas Mathieu mit „Connemara“ tatsächlich zu vermitteln. Und das in vielerlei Hinsicht und auf so vielen Ebenen. Hélène, nicht gerade die klassische Heldin, ist doch eine Figur, in die ich mich sofort verliebt habe, dank und trotz ihrer Widersprüchlichkeiten und ihrer zunehmenden Abkehr von einem gesellschaftlich als perfekt geltendem Leben, einer Bilderbuchfamilie. Ja, ich glaubte, ich wünschte mich wiederzuerkennen – ebenso in ihrem beruflichen Werdegang und ihren Einsichten in eine Branche des schönen Scheins und des Verkaufs von Konzepten, Wünschen, Ideen. Und manchmal auch der eigenen Ideale und Träume.
Doch Mathieu nutzt den Markt des Business Consultings nicht nur, um den beteiligten Akteuren einen Spiegel vorzuhalten, dieser ist auch Ausgangspunkt für eine noch viel tiefergehende Spaltung, gesellschaftlich, sozial, wirtschaftlich. Das Klassensystem mag heutzutage in seiner ursprünglichen Form in der westlichen Gesellschaft überholt und von neuen Modellen und Klassifizierungen abgelöst worden zu sein, doch Fakt bleibt: Die feinen und weniger feinen Unterschiede bestehen fort, ebenso wie Formen der Abgrenzung den eigenen sozialen Status festigen, und die Klassen, Schichten, Milieus – wählt ein Gesellschaftsmodell! – und damit die Menschen voneinander trennen.
Und so treffen mit Hélène und Christophe nicht nur unterschiedliche Bildungsniveaus, Lebensstile und -konzepte aufeinander, sondern auch zwei Menschen, die nach dem sozialen Aufstieg der ehemals jungen Hélène heute noch weniger eint als zu Zeiten ihrer Jugend. Und doch sind da Anziehung, Verstehen und Verständnis füreinander – unter all den Unterschieden und diese nivellierend oder eher kaschierend. Zumindest für eine gewisse Zeit.
„Connemara“ ist so viel und so viel „so sehr“ – sehr klug, sehr intensiv und mich sehr berührend und mich erkennend. Und ich mich in der Geschichte. Doch vor allem ist Nicolas Mathieu mit „Connemara“ ein literarisches Werk von großer Präzision und Tiefe gelungen, ein Roman, der bestehen und fortdauern wird – nicht nur in den Köpfen seiner Leser – und der zum Immer-wieder-Lesen einlädt. Ein Meisterwerk.

Bewertung vom 31.10.2022
Terry, Teri

Black Night Falling (Bd. 3)


sehr gut

Da ist es endlich: Das große Finale! So sehr habe ich dem Abschluss der Trilogie um Tabby, den geheimnisvollen Kreis und den Fortbestand unseres Planeten entgegengefiebert – und es hat sich sehr gelohnt!
Teri Terry lässt den Leser*innen keine Atempause und keinen Moment zum Luftholen – und das wortwörtlich, denn: Das Meer und seine Tiefen und Weiten nehmen natürlich auch in diesem Band eine ganz besondere Bedeutung ein. Und ich fühle mich fast wie Jules Verne, wenn es ganz tief hinabgeht. Und was „1000 Meilen unter dem Meer“ auf Tabby wartet, hat mir den Atem stocken lassen… und wird an dieser Stelle natürlich nicht verraten!
Kein Geheimnis ist dagegen, wie gut sich die Autorin darauf versteht, die Spannung in ihrer Geschichte durch unvorhersehbare Wendungen und ideenreiche Einfälle durchgängig hoch zu halten und die Leser*innen in ihren Bann zu ziehen. Und so bin ich mit Tabby, ihren Freund*innen und Unterstützer*innen unter Wasser und über Land zu den verschiedenen Schauplätzen geeilt, um nicht nur Antworten auf so viele ungelöste Fragen zu finden sondern auch die Vernichtung unseres Planeten zu stoppen.
Und gerade die Klimadebatte und die fortschreitende Vernichtung unseres Lebensraumes durch Menschenhand sind es dann auch, die für mich in diesem Band noch stärker in den Mittelpunkt gerückt und in ihrer Eindringlichkeit verstärkt werden. Das Thema ist der Autorin ein sehr drängendes, da bin ich mir sicher. Und so scheint sie ihre Leser*innenschaft mit ihrer Geschichte nicht nur unterhalten sondern vor allem auch aufrütteln und für die bevorstehende Katastrophe sensibilisieren zu wollen – verbunden mit der Botschaft: Ihr seid der Schlüssel! Ihr könnt den Untergang noch abwenden!
Vor diesem Hintergrund sei Teri Terry auch verziehen, dass sie meiner Ansicht nach gerade im Finale zu viel will: zu viel Message, zu viel Action, zu viel Feuerwerk. Auch, wenn weniger für mich mehr gewesen wäre, so habe ich doch jede Seite genossen und bin Tabby atemlos in den großen Plot gefolgt. Und die Botschaft, ja, die ist bei mir angekommen! Und wird nicht vergessen.

Bewertung vom 23.10.2022
Theisen, Manfred

Crossing the Lines - Uns gehört die Nacht


gut

Köln gleicht einer Geisterstadt. Das Virus hat die Menschen in ihre Häuser verbannt, Kinder und Jugendliche zum Homeschooling und das Leben auf Eis gelegt.
Für Leon, Lilu, Chiara und Alexander ist diese Warteschleife nur schwer zu ertragen. Sie wollen weiter leben, lieben, feiern. Sie wollen sich als Clique treffen, Abenteuer erleben, Grenzen austesten. Und vor allem wollen sie wieder unbeschwert sein, Schmetterlinge im Bauch spüren, das Adrenalin in ihren Adern. Den Verstoß gegen Regeln, die nächtliche Katz-und-Maus-Jagd mit der Polizei, das Versteckspiel in den Straßen und auf den Plätzen Kölns nehmen sie dafür in Kauf.
Dass sie dabei immer weiter in die Krimininalität ihrer Handlungen abgleiten, scheinen sie zu akzeptieren. Und so ist der Verstoß gegen die nächtliche Ausgangssperre auch nur der Beginn einer Kette von Ordnungswidrigkeiten und Straftaten, die schließlich münden in Körperverletzung, Einbruch, Autodiebstahl.
Dynamik in diese Entwicklung bringt der geheimnisvolle Summer. Wie „magic“ ist er plötzlich in ihrem Leben erschienen, bringt das Gefüge ihrer Freundschaften und Liebe durcheinander, verschiebt ihre Grenzen und überschreitet diese mit ihnen. Jeden Tag einen gefühlten Schritt weiter.
„Crossing the Lines“ hat mich mit gemischten Gefüheln zurückgelassen. Einerseits hat mich die Darstellung the Lockdowns in „meiner Stadt“ geradezu schmerzlich berührt und in die erst gerade vergangenen Monate zurückversetzt. Das ist gut und spricht für die Geschichte.
Andererseits erscheint mir die unsagbar schnelle Entwicklung der Jugendlichen von einem Austesten ihrer Grenzen in Form von Mutproben und Ordnungsverstößen hin zu kriminellem, strafbarem Verhalten wenig glaubwürdig, nicht ausreichend überzeugend und bleibt dazu unreflektiert.
Eine schöne Diskussionsgrundlage und Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung mit sich selbst im Lockdown – das könnte der Roman meiner Ansicht nach sein. Möglicherweise auch direkt in den Schulen eingesetzt, diskutiert und besprochen. Und dabei hoffentlich nie wieder in einem notwendigen Homeschooling.

Bewertung vom 02.10.2022
Faye, Gaël

Kleines Land


ausgezeichnet

Burundi ist es! Das kleine Land, über das wir Europäer ganz häufig ganz wenig wissen. Und dass in seiner Geschichte in großen Teilen meiner Aufmerksamkeit entgangen ist. Denn: Burundi ist ein Nachbarland Ruandas. Und Ruanda mit seinem Leid, Bürgerkrieg und Völkermord dürfte wohl vielen ein Begriff sein. Und dessen Auswirkungen auf Burundi können da schnell aus dem Blick geraten.
Gael Faye rückt die Menschen in dem „kleinen Land“ in den Fokus – eine wichtige, großartige Leistung! Durch die Augen des Protagonisten Gabriel erleben wir Burundi als das Land der blühenden Mangobäume, der schier endlosen Tage und einer Kindheit, die auch aufgrund der materiellen Sicherheit der Familie, in Teilen wohlbehütet und glücklich ist. Wären da nicht die Streitigkeiten seiner Eltern, die Sehnsucht seiner Mutter und Großmutter nach einem Leben in Ruanda, aus welchem sie vertrieben wurden, und schließlich die zunehmende Verfolgung der Tutsi, der Terror, der Völkermord.
800.000 bis 1 Mio. Menschen fanden in annähernd 100 Tagen den Tod. So die Schätzungen. Die Zahlen sind so groß und unermesslich wie das Leid der Menschen, die Gräuel, Grausamkeiten, das Blutvergießen.
Und auch für Gabriel und seine Familie verändert sich alles. Alles zerbricht. Auch der Verstand.
Noch immer habe ich eine Gänsehaut, wenn ich über die Geschehnisse nachdenke – denen des Romans und deren Entsprechung in der Realität. Kann es nicht begreifen. Erst recht nicht, wie die Vertriebenen hier zu leben vermögen – wie der Kontrast des westeuropäischen Friedens sich in das vom Krieg zerbrochene Innere einzufügen vermag.
Und genau dieses Nicht-Begreifen-Können, meine Fragen und diese Bilder sind es, für die ich Faye dankbar bin. Diese Denkanstöße sind bitter nötig – gerade für uns hier in Europa. Gerade in Gesellschaften, deren Aufgabe und Verpflichtung es ist, geflüchteten Menschen eine neue Heimat zu bieten. Und ihnen Empathie und Verständnis entgegenzubringen – leider nicht immer eine Selbstverständlichkeit.

Bewertung vom 06.09.2022
Poznanski, Ursula

Stille blutet / Mordgruppe Bd.1


ausgezeichnet

Atemlos – nicht nur durch die Nacht sondern durch jede einzelne Seite und jedes Kapitel. Bis zum schaurigen Ende voll Überraschungen!
Der Thriller hält alles und noch viel mehr, was ich als treue Anhängerin von Ursula Poznanski von ihren Büchern kenne, erwarte und inzwischen auch gewohnt bin: Eine raffiniert und dabei gut nachvollziehbar und zugänglich konstruierte Geschichte, interessant und glaubhaft ausgearbeitete Figuren und vor allem ein Plot, bei dem mir regelmäßig und immer und immer wieder der Atem stockt.
Mit „Stille blutet“ stellt Poznanski uns ein neue Ermittlerin vor. Fina Plank ist nicht die typische Heldin. Von ihrem Kollegen gemobbt und selbst kritisch und unzufrieden mit ihrem Äußeren muss sie ihren Platz in dem Kommissariat erst finden und sich mit ihren Fähigkeiten und einem guten Instinkt unter Beweis stellen. Die aktuelle Mordserie bietet ihr hierfür Möglichkeiten und Herausforderung genug, denn die Fälle erscheinen in ihren Motiven und Zusammenhängen undurchsichtig, das Vorgehen des Täters mehr als rätselhaft.
Und diese Fragezeichen gepaart mit einer nicht enden wollenden Spannung und einem Lesevergnügen, das durch die Seiten treibt und über die Zeilen fliegen lässt, hält sich durchgängig und auf hohem Niveau bis zum großen Finale. Auch, wenn nicht alle Rätsel gelöst zu sein scheinen und zugleich Lust auf mehr und den Folgeband machen, steht eines für mich doch ohne Frage fest: Poznanski ist auch mit „Stille blutet“ ein Pageturner gelungen – und zugleich ein neues Lieblingsbuch für all diejenigen, die von ihren guten Geschichten verwöhnt sind und Nerven wie Drahtseile haben.

Bewertung vom 06.08.2022
Sagiv, Yonatan

Der letzte Schrei


ausgezeichnet

Schrill, fesselnd und mit viel Esprit und Wortwitz – Yonatan Sagivs „Der letzte Schrei“ ist ein Fest! Und sich gemeinsam mit dem Privatermittler Oded Chefer auf die Spur des Mörders zu begeben, gleicht einem wilden Ritt durch die Höhen und Tiefen der Tel Aviver Gesellschaft, deren oberen Zehntausend, ihre queeren Communitys und auch ihre sozialen und moralischen Abgründe.
Ein Popsternchen wieder zum Strahlen zu bringen und den Grund für ihre tiefe Traurigkeit zu ermitteln, ist denn schon als Auftrag durchaus ungewöhnlich für einen Detektiv. Chefer selbst ist dies ebenso mit wenig Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten, analytisch und chaotisch zugleich in seinem Vorgehen und mit einer Identität als queere Person, über sich selbst in der weiblichen Person sprechend. Emotionen, soziale Beziehungen und seine Rolle in diesen beschäftigen ihn sehr und lenken ihn kurzzeitig immer wieder von seinen Ermittlungen ab, lassen ihn sein Ziel jedoch nie aus dem Auge verlieren.
Fernab des üblichen ist auch das Milieu, in dem Chefer seine Ermittlungen aufnimmt. Im Dunstkreis eines PR-Moguls und einer alternden Popdiva stößt er auf allerlei Ungereimtheiten und darauf, dass viel zu viel Geld auch viel zu viele Schlupflöcher vor Recht und Gesetz und Raum für ein Wertesystem des Hedonismus und Selbstbezugs bietet.
Die Figuren und deren Umfeld des LGBTI* mag für einen Kriminalroman ebenso schillernd sein, wie es die Figuren zum Teil selbst sind. Auch heute ist Transsexualität noch mit vielerlei Klischees und Vorurteilen belegt, die Sagiv augenzwinkernd aufnimmt, verwirft und soziakritisch einen Blick hinter die Fassade aus Schminke und schönem Schein richtet. Die Dialoge und Ausführungen über Gendertheorie und die Möglichkeiten und Fragen, die sich auftun, gesellschaftlich geschaffene Zuweisungen als reines Konstrukt anzuerkennen, sind dabei ebenso klug wie humorvoll. Den mahnenden Zeigefinger erhebt Sagiv jedoch nie, Geschichte und Charaktere wirken für sich selbst.
„Der letzte Schrei“ hat auch bei mir seine Wirkung nicht verfehlt – gerade auch, weil er so viel mehr ist als ein gut konstruierter Krimi. Er ist ein Spiel mit den Geschlechtern und ihren Rollen, ein Blick auf das, was so selbstverständlich sein sollte. Und es doch häufig noch nicht ist. Vor allem aber ist er ungewöhnlich witzig, ungewöhnlich unterhaltsam und eine große Freude von der ersten bis zur letzten Seite.