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Benutzername: 
MarcoL
Wohnort: 
Füssen

Bewertungen

Insgesamt 228 Bewertungen
Bewertung vom 25.07.2024
Appius und Virginia
Trevelyan, G. E.

Appius und Virginia


ausgezeichnet

Ein Pageturner! Trauriges und gut erzähltes „Experiment“, das an Abgründen des menschlichen Wissensdurstes kratzt.

Das Original erschien 1932 und liegt nun als deutsche Erstübersetzung vor.
Die Soziologin Virginia Hutton startet ein Experiment, das sehr schnell zeigt, wie verstörend und egoistisch ihr Grundgedanke im Prinzip ist. Sie möchte einen Orang-Utan wie ein Menschenkind erziehen, ihm denken, sprechen, lesen und all die sonstigen Dinge beibringen, die Menschen vorbehalten sind. In ihren Visionen träumt sie sogar davon, ihre Studien soweit zu bringen, dass ihr Zögling, der den Namen Appius bekommt, sogar ein weltberühmter Akademiker wird.
Schnell stellt sich heraus, dass Virginia so etwas wie Muttergefühle für Appius entwickelt. Um ihr „Experiment“ ungestört durchführen zu können, kauft sie sich ein kleines Cottage und kapselt sich völlig ab. Sie pflegt keinerlei soziale Kontakte, sperrt sich und Appius quasi komplett von der Gesellschaft aus. Ein kleiner Garten mit einer hohen Mauer grenzt ihr Exil ab.
Was als (pseudo)wissenschaftlicher Versuch beginnt, rutscht sehr bald in eine Absurdität ab. Das Gespann Viriginia-Appius rückt in den Vordergrund, die frommen Wünsche, sich in den Akademikerkreisen zu behaupten, sehr bald ins Abseits.
Appius lernt im Laufe der Zeit tatsächlich ein paar Worte, scheint auch Lesen zu können. Manchmal bekommt man allerdings den Eindruck, dass er nur Gehörtes nachplappert, und Gesehenes aus Büchern wiedergibt, weil Virginia es ihm minutiös eingetrichtert hat. Aber er kann denken, und entdeckt, was vor ihm hätte verborgen werden sollen.
Er wird angezogen wie ein Mensch, mit Hosen und Schuhen. Er mag das nicht, es stört ihn in seinen Bewegungsabläufen, aber er duldet es. Denn Virginia kann sehr streng und herrisch sein. Sie redet Appius ständig ein, er sei ein Mensch. Doch Bilderbücher zeigen ihm etwas anderes … und ein großer Konflikt, der sich durch den ganzen Roman zieht, nimmt Gestalt an.
Trotz Virginias Wunsch, Appius als Menschen zu erziehen, behandelt sie ihn dennoch wie eine Sache. Sie möchte von ihm geliebt werden, zieht ein abstruses Mutter-Sohn Gespann heran, erklärt ihm pausenlos, nur Menschen sind gut, und Tiere böse …

Die Autorin zieht die Leserschaft gekonnt in ihren Bann. Man möchte mehr als hundert Mal in die Erzählung eingreifen, die Protagonistin wachrütteln. Allein die Beschreibungen, wie sich Appius entwickelt, was er fühlt und in ihm vorgeht, ist eine Lektüre dieses Romans wert.
Sein Ausflug durch die Bäume des Gartens, als sich seine Instinkte melden und er sich voller Freude von Baum zum Baum schwingt, sind derart lebendig und authentisch beschrieben, dass man sich richtig gut in Appius‘ Gefühle hineinversetzen kann (Seite 54, die Zeilen eine Wucht).
Sprachlich ist der Roman ein Genuss, und mutiert sehr schnell zu einem richtigen Pageturner. Und ich ziehe auch in einem gewissen Rahmen Vergleiche mit Mary Shelleys „Frankenstein“. Beide Bücher vereinen für mich die Grundthematik Mensch versus Schöpfung.
S.266: „Ich wollte, dass du etwas bist, was sogar mehr wäre als ein Kind, etwas, was ich durch meinen eigenen Geist aus dem Nichts erschaffen und nach meinem Willen geformt und dem ich beim Wachsen zugesehen hätte.“
Der Roman vermittelt sehr gut die Anmaßung der Menschen, alles beherrschen zu wollen. Auch spielen andere gesellschaftskritische Aspekte eine Rolle im Buch, wie zum Beispiel die Unterdrückung der Frauen in der Wissenschaft. Das umfangreiche Nachwort von Ann Cotten und die editorische Notiz der Übersetzerin Renate Haen (ganz großes Lob für ihre Arbeit)

Bewertung vom 20.07.2024
Kleine Monster
Lind, Jessica

Kleine Monster


ausgezeichnet

Gefühlvoller und spannender Roman um Kindheitsfragen und verdrängte Traumas.

Jessica Lind geht mit einer derartigen Sprachgewandtheit zu Werke wie es nur wirklich ganz große AutorInnen schaffen. Ihre Worte kommen derart flüssig daher, ohne Ruckeln und Zögern, sie reißen einen mit in einen Erzählstrom, der einen fortträgt in ihre Welt und in dem man sich vertrauensvoll treiben lassen kann. Und dabei sind es nicht gerade einfache Themen, mit denen sich die Autorin beschäftigt. Sie setzt sich mit viel Empathie und Wissen damit auseinander.
Pia und Jakob werden in die Schule bestellt. Es gab einen Vorfall mit ihrem siebenjährigen Sohn Luca und einer Mitschülerin. Doch was es war, oder sein sollte, bleibt vorerst im Dunkeln. Luca verschließt sich, und eine Verunsicherung macht sich bei den Eltern breit. Vor allem bei Pia, der Ich-Erzählerin, schwappen die Emotionen hin und her, von liebevoll besorgt bis beinahe hysterisch ist alles dabei. Und schon bald wissen wir, da befindet sich mehr in Pia, ein Abgrund, der verschüttet war, und nach und nach freigelegt wird.
Die Autorin führt uns geschickt mal hier hin, mal dort hin. Sind es wirklich „Kleine Monster“, durchtrieben und böse, durchschauen ihre Eltern bis ins Letzte, oder sind es einfach nur Kinder, die sich in der Welt, die um sie tobt mit all ihren Facetten, bestätigen und ihren Platz finden müssen?
Es dreht sich natürlich auch um die Frage, was der Kern einer guten Erziehung ist, bewusst oder unbewusst, getrieben von alteingesessenen Mustern im Mix mit der bedingungslosen Liebe und dem Wunsch, alles richtig zu machen.
Die Verunsicherung kommt spürbar durch, Schuldgefühle und eine traumatisierte Kindheit wirbeln nur so herum.
In Rückblenden entblättert Pia ihre Vergangenheit, erzählt nach und nach von ihren Erlebnissen, von ihren Schwestern und Eltern, und ihren spärlichen Erinnerungen an ein schreckliches Ereignis. Sie spannt den Bogen langsam, bis er auf die Jetztzeit mit Luca trifft. Und das entwickelt einen unglaublichen Sog zwischen all den „Sorgen“ um ihren Sohn.
Nach ihrem Debüt „Mama“ ist dies ein weiteres Highlight aus der Feder von Jessica Lind und somit eine ganz große Leseempfehlung.

Bewertung vom 17.07.2024
Hirn und zehn Finger
Kersh, Gerald

Hirn und zehn Finger


ausgezeichnet

Heftige Bilder einer kurzen Episode im Jugoslawischen Widerstand von 1943

Ohne Triggerwarnung kann ich diese Rezension nicht starten, denn es werden Gräuel von Menschen an Menschen erwähnt, wie sie nur Menschen erfinden und ausüben können. Ob Krieg oder nicht ist da beinahe schon irrelevant.
Eine Gruppe von Widerstandskämpfern macht sich 1943 im ehemaligen Jugoslawien auf, um den verfeindeten italienischen Faschisten ein Waffendepot mit Dynamit zu plündern. Im Schutze des Regens und der Nacht scheint der Coup zu gelingen, doch sie werden entdeckt, erleiden bittere Verluste und müssen fliehen. Die anhaltenden Regenfälle ließen den Fluss Bistrica anschwellen, die rettende Brücke wurde fortgerissen. Die verbliebenen neun Männer saßen in der Falle, hatten maximal eine Stunde Vorsprung. Klemen, der zwar nicht das Kommando hatte, forderte seine Mitstreiter auf, mit ein paar Baumstämmen einen Behelfsübergang zu bauen.
S.77: „Es war eigenartig, wie Klemen uns von seinem Platz aus über den Strom hinweg zu verstehen gab, wie die Sache nach seiner Vorstellung angepackt werden sollte. Alles arbeitete mit ihm zusammen. Ein Hirn und zehn Finger, das kam einem in den Sinn.“
Obwohl sich alle sicher waren, dass dies wohl die einzige Rettung sein dürfte, regte sich in manchen Gemüter der Wille trotz des Überlebenskampfes, bis zum bitteren Ende zu kämpfen und noch ein paar der verhassten Faschisten mit in den Tod zu reißen. Was wird wohl gelingen?
Was teilweise wie ein Abenteuerroman anmutet, ist bitterster Ernst mitten im Gewimmel des Zweiten Weltkrieges. Ganze Dörfer wurden in Jugoslawien von den Italienern ausradiert. Menschen, ob Greise oder Babys, niedergemetzelt.
Die Widerstandskämpfer hatten schon genug gesehen und erlebt, waren allesamt stark traumatisiert, aber sie waren eine Truppe von Slowenen, Serben, Kroaten, die für eine einzige Sache wie ein Mann einstanden.
Kersh lässt abwechselnd mehrere Männer der Truppe erzählen. Der junge, siebzehnjährige Andrej erzählt, genauso wie der erfahrene Klemen. Oder Jeriza, eine junge Frau, die auf der anderen Seite der weggespülten Brücke auf die Truppe wartet.
Trotz all der schwere des Themas, der Brutalität des Krieges (und ja, manchmal muss man tief durchatmen dabei) kommt die Erzählung leicht, flüssig daher, und vor allem sehr bildhaft. Die Ansichten der verschiedenen Charaktere mit all ihren Ängsten, Sorgen, Nöten, aber auch Hoffnungen und Blicke auf ihre Vergangenheit sind stilistisch ein perfektes Zusammenspiel. Während des Lesens ist man selbst an der Brücke, kennt seine Mitstreiter in und auswendig, packt an, hilft mit und hört die Kugeln um den eigenen Kopf pfeifen, während der Fluss sich zu einem brüllenden Monster aufbäumt. Ganz große Erzählkunst ist das. – und somit eine ganz große Leseempfehlung trotz oder vielleicht gerade wegen des Themas.

Bewertung vom 11.07.2024
Miserere
Adler, Helena

Miserere


ausgezeichnet

Drei intensive Texte der leider viel zu früh von uns gegangenen Autorin.

Die Bestürzung war groß, als uns Anfang Januar 2024 die erschütternde Nachricht vom Ableben der Autorin erreichte. Mit „Die Infantin trägt den Scheitel links“ und „Fretten“ hat sie uns literarische Weltklasse-Romane hinterlassen.
In diesem schön gestalteten Buch dürfen wir nochmals in ihre Welt eintauchen, ihren Zeilen und Gedanken lauschen. Drei abgeschlossene Texte voller Tiefsinnigkeit und sprachlicher Stärke warten hier auf die LeserInnen.
Im ersten Text „Ein guter Lapp in Unterjoch“ nimmt sie erneut ihren Kampf gegen das eingesessene Patriarchat auf. Das Leben, ihre Liebe zum Leben, und ihr starkes Engagement für den Feminismus spiegelt sich hier wider, geht sie doch hart mit einem alles bestimmenden Bürgermeister in einem Gebirgsdorf ins Gericht. Es sind sprachliche Gewitter, die Helena Adler mehr denn je losbricht. Und dennoch bleibt trotz des Sturms die grobe Zärtlichkeit für jene zurück, die sich gegen das System und Unterdrückung stemmen.
„Unter der Erde“ ist ein kurzer Text und ein Sprachspiel sondergleichen.
Den dritten Text „Miserere Melancholie“ wollte die Autorin im Sommer 2023 beim Bachmann-Wettbewerb vortragen. Leider ist es krankheitsbedingt nicht mehr dazu gekommen. Diese Geschichte widmet sich einer sehr intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema der Todsünde „Trägheit“. Sie entstand im Rahmen einer Auftragsarbeit. Ihre Passion für die Kunst und Malerei findet hier erneut (wie auch bei Infantin, Fretten) ihren Einzug. Das Coverbild dieses Büchleins ist ein Ausschnitt aus dem Dritten Wandbild des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald - die Versuchung des Heiligen Antonius. Der Text ist eine Zwiesprache mit dem fast ständig anwesenden und übermächtigen Dämon der Schwermut. Die Zeilen sind zugegebenermaßen schwierig zu lesen, detailreich im Inhalt und an Metaphern. Ich habe mich anfangs schwer getan, hineinzufinden, so komplex jongliert hier Adler mit Sätzen, Fragen und Antworten. Aber letztendlich, nach erneutem Lesen, setzt sich ein Bild im Geiste zusammen, welches den Kampf gegen diesen Dämon sehr eindrucksvoll darstellt und das Gemälde mehr als widerspiegelt.
Ganz große Erzählkunst ist das, wenn auch nicht leicht im Zugang.
Gerne gebe ich für dieses Büchlein und das komplette Werk der Autorin eine absolute Leseempfehlung. In der Welt der Gegenwartsliteratur hat sie sich unsterblich gemacht.

Bewertung vom 30.06.2024
RAUCH
Sigurdardóttir, Yrsa

RAUCH


ausgezeichnet

Thriller vom Feinsten, atmospärisch, nordisch düster. Mit einem genialen Ende!

Manchmal muss es ein Thriller sein. Und wenn, dann am liebsten was Nordisches. Diese sind meistens herrlich düster. Genau so wie dieser Roman hier von der preisgekrönten Autorin.

Fünf Menschen, um die 30 Jahre alt, waren zu Studienzeiten eine mehr oder weniger verschworene Clique. Sie treffen sich nach Jahren wieder, um am Begräbnis einer ehemaligen Freundin teilzunehmen. Diese findet auf den Westmännerinseln vor der Südküste Islands statt. Es ist Jänner, das Wetter kurzzeitig gnädig für die Überfahrt.
Man merkt sehr schnell, dass sich die Gruppe entfremdet hat. Die Harmonie von früher, wenn es denn eine gab, ist verschwunden. Die „Freunde“ sind anders geworden – viel trägt auch ein gewisser Vorfall von damals dazu bei – der alle etwas nervös werden lässt. Insbesondere dann, als sie eine grausigen Fund machen.
Gekonnt zeichnet die Autorin für jedes Mitglied der Truppe ein Psychogramm, das keine Fragen offen lässt. Die Nervosität, das Uneins der Truppe, schlägt sich durch die Zeilen durch. Am liebsten würde man regulierend eingreifen. Hauptprotagonist ist Trausti, der noch in den Staaten studiert, sein letztes Geld für diese Reise geopfert hat und so ziemlich der Einzige ist, der noch halbwegs rational handelt.
Parallel dazu gibt es einen zweiten Erzählstrang, der einige Tage später spielt und die Ermittlungen zum Fund zweier Leichen im Mittelpunkt hat. Nach und nach verknüpfen sich beide Stränge, doch als Leser wird man an der sehr kurzen Leine gehalten. Viel Augenmerk legt die Autorin auch in diesem Teil auf die Charaktere der handelnden Personen. Im Zentrum steht die Pathologin Idunn. Sie stammt von den Inseln, und ihre traumatischen Familienverhältnisse holen sie ein. Das machte ihre Arbeit nicht gerade leichter. Sie möchte so schnell wie möglich wieder weg, aber der Fall …
Der Thriller ist sehr spannend aufgebaut. Der Wechseln zwischen Tathergang, Vergangenheit und Ermittlungen ist brillant in Szene gesetzt. Alles ist sehr atmosphärisch und nordisch düster. So muss Spannungsliteratur! Große Leseempfehlung für diesen neuen Roman der Autorin.

Bewertung vom 27.06.2024
Eine liebe Frau
Lenel, Laetitia

Eine liebe Frau


ausgezeichnet

Die Erwartung der Gesellschaft an die Frau, eingepackt in einen gefühlvollen Roman.

Sprachlich brillant, einfühlsam und dennoch manchmal sehr direkt, verpackt hier Laetitia Lenel die Geschichte von Generationen, die Sehnsüchte von Frauen und die Macht der Kunst in nicht mal 160 Seiten.
S.128: „Was uns erstickt, ist das, was wir nicht tun dürfen. Nicht denken, nicht studieren, nicht reisen, nicht träumen. Nicht frei sein.“
Mariannes einziger Lebenssinn schien darin zu bestehen, zu funktionieren. Als Frau. Für ihren Mann, ihre Familien, Gesellschaft, Vaterland. Sie hatte Pflichten, eigene Bedürfnisse mussten zurückgestellt werden.
Das war für sie immer schon so. Wie gerne hätte sie als Mädchen mehr am Flügel geübt, ihr Klavierspiel, für das sie großes Talent hatte, zu intensivieren. Aber das Leben bestand nur aus Kompromissen. Ihre Freundin Lotte war da anders, sie lebte ihre Kunst als Malerin aus.
S.37: „Und wehe, man wage es, Gefühle und Ambitionen zu entwickeln, die nicht von den Eltern vorgesehen seien!“
S.38: „Wir haben so gut gelernt, unsere eigenen Gefühle zu unterdrücken! Aber ob nicht auch Frauen das Recht hätten, zu leben und das Leben in der Kunst noch einmal zu schöpfen, intensiver, lebendiger vielleicht als zuvor.“
S. 39: „Lotte ließ nichts davon gelten. Ehe und Kunst schlössen einander aus, das wisse Marianne so gut wie sie.“
Während Marianne im Alter durch London schlendert, auf der Flucht vor unliebsamen Konversationen und auf der Suche nach sich selbst, erzählt die Autorin Mariannes Leben in Rückblicken. Sie streift ihre Kindheit, erzählt ausdrücklich von ihrer Ehe mit Paul. Paul ging in den Ersten Weltkrieg voller Überzeugung. Es entwickelte sich ein Briefverkehr zwischen den beiden, der, je länger der Krieg dauerte, keinen Hehl daran ließ, welche Prioritäten Paul setzte. Der Kampf ums deutsche Vaterland war im wichtiger als alles andere. Er fiel, kurz bevor der Wahnsinn sein Ende hatte. Marianne durchtauchte die Zeit. Die Nationalsozialisten erstarkten, als Halbjüdin hatte sie es schwer. Aber sie überlebte auch diesen zweiten großen Wahnsinn, kümmerte sich um ihre Mutter und den Vater ihres verstorbenen Ehemanns.
Sie samt ihren Wünschen und Begehren bleibt auf der Strecke. Erst im Alter entdeckt sie noch einen Anflug zum Mut der eigenen Selbstermächtigung.
Laetitia Lenel zeichnet mit ihrem Debütroman ein starkes Bild der Erwartungen an Frauen über einen großen Zeitraum. Als Basis für diesen wirklich sehr eindringlichen Roman dienten ihr der Briefwechsel ihrer Urgroßeltern. Sehr gekonnt setzt sie ihre Protagonistin in den Strudel der Zeit. Politische Details dürfen da genauso wenig fehlen wie der Blick auf die Kunst. Sie beschäftigt sich mit dem Thema der sogenannten Entnazifizierung, die nie wirklich stattfand. Plausible Erklärungen, warum nie darüber gesprochen wurde, sind nur ein kleines Detail dieses Buches, aber man merkt, dass es der Autorin ein Bedürfnis war, dies einzuflechten. Zu recht, wie ich anmerken möchte.
Dennoch, im Mittelpunkt steht das Thema Frau und ihre erwartete, zugedachte Rolle in der Gesellschaft. Marianne und Lotte bilden hier die beiden Pole.
S.125: „Sie [Anm.:Marianne] war eine liebe Frau. Das würde man sagen. Eine liebe Frau. Mehr würde von alldem nicht bleiben.“

Ich bin sehr begeistert von diesem Buch, dem ich sehr viele LeserInnen wünsche. Ganz große Leseempfehlung und ich hoffe, in Zukunft noch viele Bücher der Autorin lesen zu dürfen.

Bewertung vom 23.06.2024
Geister weinen nicht
Riel, Ane

Geister weinen nicht


ausgezeichnet

Viel mehr als ein Thriller. Eine tief gründende Geschichte voller Gefühl.

Alma lebt alleine in einem kleinen Häuschen am Rande der Siedlung. Sie führt ein zurückgezogenes Leben, meidet jeglichen Kontakt mit anderen Menschen. Die Post wird in den Briefschlitz gesteckt, ihre Lebensmittel und was sie sonst für den täglichen Bedarf benötigt wird einmal in der Woche vom Krämer in einer Kiste vor der Haustüre abgestellt.
Überall in ihren Räumen hängen Zettel mit wichtigen Hinweisen, wie zum Beispiel „Essen“ oder „Trinken“. Denn Alma leidet sehr an der Demenz. Und sie ist taub. Sie kann sich an sehr wenige Dinge erinnern. Oftmals gibt es Tage, an denen sie sehr verwirrt ist und nicht mal mehr weiß, wer sie ist. Den Namen ihres Mannes vergisst sie aber nie. Otto. Und auch die Tatsache, dass sie jeden Abend vor dem Schlafen gehen die „Frau“ aufziehen muss. Die „Frau“ ist eine Bornholmer Uhr. Die Einzige, die sie damals bei der Tragödie in der Stadt retten konnte. Wenn sie die Uhr eines Abends nicht mehr aufziehen würde, dann wäre alles vorbei, und auch sie selbst würde nicht mehr aufwachen. Das war ihre feste Meinung, die ihr auch damals Otto eingetrichtert hat.
Eines Tages, der Winter fast vorbei, sieht sie einen Jungen mit seinem Hund am Haus vorbei gehen. Mit Vanillekringel versucht sie Tag für Tag das muntere Gespann zu ihr ins Haus zu locken. Sie wollte ein wenig Gesellschaft. Auch erinnert sie sich, selbst mal einen Hund gehabt zu haben. Ihr Vorhaben gelingt, und es entwickelt sich eine Freundschaft zwischen Alma und dem Jungen, noch nicht im Schulalter, und dem Hündchen. Mit der Zeit beginnt sich Alma, unterstützt durch ihre Nachmittage mit dem Jungen, wieder etwas mehr an früher zu erinnern. An ihr Leben, ihre Liebe, gute und schlechte Dinge.
S.122: „Ihr Leben war zu einem Zustand geworden, einem stillen Sammelsurium von Erinnerungen, Verdrängtem und gewöhnlichen Vergessen. Von Momenten ohne Gedanken. Von Gefühlen ohne Anker.“
Irgendetwas ist da im Schuppen und hat mit Otto zu tun … ein Geheimnis, etwas Schreckliches … aber Alma kann sich nicht daran erinnern … Mehr wird nicht verraten.

Die Autorin schildert hier in sehr einfühlsamen und sanften Worten das Leben von Alma. Sie kämpft tapfer gegen die Demenz an und versucht, sich an ihre stille Welt zu gewöhnen. Sie war ja nicht immer taub, aber das Alter hat es mit sich gebracht. Es ist ein ruhiges Buch. Eigentlich. Denn die Autorin Ane Riel spielt hier äußerst gekonnt mit der Erwartung der LeserInnen, dass sich die dunklen Wolken am Himmel in ein enormes Gewitter entladen. So entsteht eine gewaltige Spannung, die sich bis zum Schluss immer mehr aufbaut. Und dennoch bleibt der Roman tiefgründig, beinahe sanft, spielt mit Begriffen wie Neuanfänge, Tod, Verlust oder auch die Unterdrückung durch patriarchal geprägte Strukturen.
Und das Ende … hach … lest es! Ganz große Leseempfehlung für diesen wunderbaren Roman, der als Thriller betitelt ist, aber in Wirklichkeit so viel mehr ist. Auch gebührt der Übersetzerin Julia Gschwilm ein ganz großes Lob für diese wirklich ausgezeichnete Umsetzung. Bin voll begeistert.

Bewertung vom 16.06.2024
Die Tage des Wals
O'Connor, Elizabeth

Die Tage des Wals


ausgezeichnet

Bildhafter Roman über das karge Leben auf einer Insel. Große Leseempfehlung!

Das Leben auf der Insel vor der walisischen Küste ist hart und entbehrungsreich. Wenige Familien leben dort. Es sind fast ausschließlich Fischer, die der rauen See mühsam ihr täglich Brot abringen. Keiner kann Schwimmen, nur so behält man den Respekt vor dem tosenden Meer. Selten kommt ein Versorgungsschiff vorbei, meistens müssen die Männer und Frauen selbst ans Festland rudern, um ihre Fänge zu verkaufen.
Die achtzehnjährige Manod lebt auf dieser (fiktiven) Insel, vom Alltag geprägt, der Tod lauert immer in der Nähe. Sie bewohnt mit ihrem Vater und ihrer jüngeren Schwester ein kleines Häuschen. Sie träumt von einem guten Leben am Festland, doch vorerst muss sie sich um ihre Schwester kümmern. Ihre Sehnsüchte und Begehren, das Reifen der Frau in ihr muss warten.
Die jungen Männer, keine zwanzig Jahre alt, zieht es einem nach dem anderen fort. Es ist 1938/1939 – der Krieg steht vor der Tür, und manche melden sich freiwillig.
In dieser Zeit wird ein Wal an die Küste vor dem Dorf gespült. Zuerst versuchen die Anwohner noch, das Tier zu retten und ins Meer zu ziehen. Doch der Wal schafft es nicht mehr, verendet am Strand und beginnt zu verwesen – eine schleichende Zersetzung – symbolhaft für das Leben auf der Insel.
Fast zeitgleich erscheint ein Forscherpaar auf der Insel. Sie machen Erkundungen über das Leben der Einheimischen. Alles soll festgehalten, dokumentiert, archiviert werden. Studien am lebenden Organismus namens Mensch. Gesänge und Stimmen werden aufgezeichnet, Manods Stickereien (hochgelobt) einkassiert.
Da Manod halbwegs gut Englisch spricht, und die beiden Forscher, Edward und Joan, kein Wort walisisch verstehen, wird sie als Gehilfin und Übersetzerin eingestellt. Der Lohn sind ein paar Münzen. Es entwickelt sich eine Art Dreiergespann – locker, unzusammenhängend. Die Forschungen gehen weiter, während Kriegsgeschrei und Faschisten (auch dort, wo man sie nicht vermutet) lauter werden.
Die Autorin erzählt ungeschönte Bilder von einer kargen, sterbenden Welt. Von der Einsamkeit, die Fluch und Segen sein kann.
Die Kapitel sind kurz, haben manchmal den Charakter eines Berichtes, um dann wieder in eine dichte Prosa zu wechseln. Es ist ein gekonnter Mix, komplett ohne Pathos, mit drüben Farben und wenig Lichtblicken. Der Sprachstil ist geschickt gewählt, um die Kargheit des Insellebens auf die Leserschaft zu projizieren. Im Nachwort klärt uns die Autorin über einige Inseln auf, welche sie stellvertretend in ihrem fiktiven Eiland zusammengefasst hat.
O'Conner schafft es perfekt, die Stimmung, das raue Klima, die Farben des Meeres, und vor allem das Leben der Menschen einzufangen. Man glaubt nach dem Buch wirklich, lange auf der Insel gewesen zu sein, spürt die Kälte und den drohenden Untergang am eigenen Leib.
Ganz große Leseempfehlung für diesen herausragenden Roman. Großes Lob auch an die Übersetzerin Astrid Finke.

Bewertung vom 13.06.2024
Die allerletzte Kaiserin
Diwiak, Irene

Die allerletzte Kaiserin


ausgezeichnet

Ein raffinierter Mix aus historischen Fakten und Fiktion, mit viel Charme verpackt.

Was für ein toller Ritt durch die letzten einhundert Jahre doch dieses Buch ist. Amüsant, skurril, voller Charme. Und auf das Genaueste recherchiert!

Claudia Hendl strotzt nicht gerade vor Selbstbewusstsein. Ihr Äußeres findet sie unattraktiv, ihrem Intellekt traut sie auch nicht viel zu, was sie ihrer Deutschlehrerin von damals zuschreibt. Denn immer diese Aufsätze nach dem Ferienende … Sie jobt im Wirtshaus ihrer Eltern, das seit dem siebzehnten Jahrhundert von Mutter zu Mutter weitergegeben wurde, also wird wahrscheinlich auch Claudia in diesen Genuss kommen, denkt sie sich.
Ihr ganzes Leben ändert sich, als plötzlich eine alte Dame in der Wirtschaft auftaucht. Johanna Fialla. Sie trinkt und isst jeden Tag das selbe, und vom ersten Tag an lässt sie sich immer an den gleichen Tisch „geleiten“. Mantel und Hut müssen ihr abgenommen werden, denn die Dame, die sich ziemlich herrschaftlich gibt, ist niemand anderes als die Enkelin von Kornprinz Rudolf - der sei nämlich damals in Mayerling gar nicht gestorben, alles nur fingiert. Sie ist somit die Urenkelin der Kaiserin Elisabeth und des Kaisers Franz Joseph.
Johanna erzählt nun Claudia ihre komplette Lebensgeschichte. Die Worte werden am Smartphone aufgezeichnet, Claudia tippt sie ab, die Chance, diese Geschichte als Buch zu veröffentlichen, ist riesengroß. Auch ihre ehemalige Schulfreundin, die in einem Verlag arbeitet, wittert eine Sensation. Also wird erzählt und getippt und gesprochen. Vom Hofe, über viele historische Personen, aber vor allem von Frau Fiallas Leben, das sich 90 Jahre lang über die Zeitgeschichte spannt und tiefe Einblicke in die Gesellschaft dieser Zeit gibt. Auch berichtet sie viel Privates. Vor allem mit der Wahl ihrer Männer hatte sich nicht immer so ein gutes Händchen. Diese waren allesamt … naja … Männer eben, wie sie halt so sein können und nicht wie sie sein soll(t)en.
Claudia zweifelt natürlich an den Ausführungen, doch es bedarf nur einiger Clicks im Internet, um all die erzählten Details bestätigt zu bekommen. Also was steckt wirklich dahinter?
Ist Frau Fialla einfach nur eine alte, resolute Dame, die das Leben gezeichnet, teilweise verbittert hat, und nur ein wenig Fantasie das triste Leben lebenswerter macht? Was machen Hoffnungen und Wünsche mit Menschen? Können die gebauten Luftschlösser einmal der langersehnte Palast werden?
Mit viel Charme, österreichisch geprägten Ausdrücken und Wortspielen überzeugt Diwiak mit diesem herrlich konstruierten Roman voller historischer Begebenheiten und fiktionalen Freiheiten. So wie Frau Fialla alles erzählt hätte es durchaus sein können. Warum auch nicht, und wer weiß? Obwohl die Autorin am Ende schon zugibt, die künstlerische Freiheit ziemlich ausgelebt zu haben.
Der Roman beinhaltet eine spannende Adaption der Tragödie von Mayerling. Verschwörungstheorien gibt es derer viele. Diese hier klingt, wenn es denn eine wäre, plausibel.
Sehr gerne gebe ich eine ganz große Leseempfehlung für diesen raffinierten Mix aus historischen Fakten und Fiktion.

Bewertung vom 11.06.2024
Seltsame Sally Diamond
Nugent, Liz

Seltsame Sally Diamond


ausgezeichnet

Spannung pur! Ein Thriller der literarischen Extraklasse!

Sally wächst behütet, beinahe versteckt am Rande einer irischen Ortschaft auf. Ihre Eltern schützten, verstecken sie beinahe, denn bis zum Alter von sechs Jahren war Sallys Leben eine Katastrophe von ungeheuerlichem Ausmaß. Ihr Vater Tom, Psychologe, verbarg sie mehr oder weniger vor der Gesellschaft, war selbst ein wenig weltfremd, während seine Frau es lieber gehabt hätte, wenn Sally ihr großes musikalisches Talent auf einem College erweitert hätte. Als ihre Mutter starb blieben nur mehr Tom und die Ärztin Angela ihre einzigen Bezugspunkte zur Welt. Ihr Vater hatte immer beteuert, wenn er sterbe, so soll Sally seinen Körper einfach wie Müll entsorgen. Sie nahm das dann wörtlich und versuchte den toten Körper in der Feuertonne zu verbrennen. Damit nahm alles weitere seinen Verlauf. Sallys Leben und Vergangenheit, an die sie selbst keinerlei Erinnerung hatte, geriet erneut in die Schlagzeilen und den Fokus der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit.
Sie war 42 Jahre alt, als dies passierte – und nun musste sie das Leben neu erlernen. Sie selbst beschrieb sich als „sozial defizitär“, hasste Menschen, ließ sich nicht gerne anfassen, hatte ein Wut-Problem, riss sich in Stresssituation die Haare aus. Kurzum: Sally war zu tiefst traumatisiert.
Woher das kam: das kann hier natürlich nicht verraten werden. Auch alle weiteren Inhaltsangaben wären nur gespoilert, trotz der sehr komplexen und vielschichtigen Geschichte.
Die Autorin baut hier einen Plot auf, der spannender wohl kaum sein kann. Im Mittelpunkt natürlich die „neue“ Sally, die ihre Vergangenheit weder in Ruhe lässt noch von ihr loskommt.
Der Storyaufbau ist brillant inszeniert, über Briefe ihres „
Dad erfährt die Leserschaft sehr bald, was Sache ist und war, aber der ganz Ballon an Handlung geht weit darüber hinaus.
Das ist Spannungsliteratur der Extraklasse. Ganz große Leseempfehlung für diesen ausnehmend guten Thriller.