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Ste

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Insgesamt 206 Bewertungen
Bewertung vom 07.07.2022
Leichdorf
Rauh, Wolfgang

Leichdorf


sehr gut

Inhalt: In Leichdorf treibt ein Serienmörder sein Unwesen. Er lauert seinen Opfern auf und häutet sie, da er ihr Inneres sehen möchte. Sein grausiges Werk konnte er lange Zeit unbemerkt durchführen, doch in letzter Zeit ist er fahrig, nicht ganz bei der Sache, sodass die Polizei das erste Mal eine reelle Chance hat, ihn zu fassen. Unberührt davon räumen Roland und seine Lebensgefährtin Sandra gemeinsam mit ihrem besten Freund Dwiggi das Elternhaus von Dwiggi auf – nicht ahnend, dass der Mörder, der gar nicht so weit entfernt wohnt, sie schon im Visier hat…

Persönliche Meinung: „Leichdorf“ ist ein Horrorroman von Wolfgang Rauh. Erzählt wird der Roman in mehreren Erzählsträngen aus verschiedenen Perspektiven. Neben Dwiggi, Roland und Sandra werden u.a. auch die Perspektiven verschiedener Dorfbewohner und diejenige des Mörders eingenommen. Eine große Stärke des Romans ist die Zeichnung der Figuren. Diese sind mit ihren Sorgen und Ängsten sehr authentisch und anschaulich dargestellt, sodass man stark mit ihnen fiebert. Ebenfalls sehr gut gelungen ist die lebendige Ausgestaltung des Beziehungsgeflechts der Figuren. Dies gilt besonders für die Freundschaft zwischen Dwiggi, Roland und Sandra und für eine Liebesbeziehung, die sich zart zwischen zwei Figuren entspinnt (welche Figuren dies sind, möchte ich nicht verraten). Die Identität des Serienmörders wird in „Leichdorf“ recht früh offenbart, was für mich zur Folge hatte, dass ein Stück weit Spannung aus der Handlung fiel. Auf der anderen Seite führte die frühe Offenbarung des Täters aber dazu, dass man einen detaillierten Blick in dessen verquere Gedankenwelt werfen kann. Der Horror in „Leichdorf“ ist eher subtil, geht in Richtung Mystery und kommt meist unblutig daher. Gerade aufgrund des subtilen Zugs gibt es einige Szenen, die wirklich gruselig sind und körperliches Unbehagen auslösen. Für Spannung sorgt außerdem, dass auf Leichdorf ein Fluch zu lasten scheint. Viele der Dorfbewohner leiden unter Alpträumen oder haben unheimliche Begegnung. Stellenweise weiß man während des Lesens nicht, was jetzt real und was Imagination der Figuren ist, wodurch einige schöne Irritationsmomente entstehen. Die Handlung, die mit einer Prise Humor gewürzt ist, hält die ein oder andere Überraschung bereit, hatte für mich allerdings auch ein paar Längen. Das Ende wiederum ist aber so toll, dass es die Längen mehr als ausgleicht (Zu dem Ende würde ich gerne viel mehr schreiben, weil es sehr gut gemacht und überraschend ist, aber jedes weitere Wort würde zu viel spoilern). Der Schreibstil von Wolfang Rauh lässt sich flüssig und angenehm lesen. Insgesamt ist „Leichdorf“ ein Horrorroman, der durch subtile Akzente, ein unvorhersehbares Ende und eine schöne Ausgestaltung der Figuren und ihrer Beziehungen besticht.

Bewertung vom 07.07.2022
ROTGOLD: Jung bis zum letzten Tag
Weber, Helena

ROTGOLD: Jung bis zum letzten Tag


ausgezeichnet

Ein spannender Reihenauftakt mit liebenswürdigen Figuren

Inhalt: Die beiden Journalisten Elijah und Beth haben es geschafft: Durch ihr Onlinemagazin „Der Schreibfuchs“ haben sie sich einen so großen Namen gemacht, dass „Die Tageszeile“, eine der renommiertesten Zeitungen, auf sie aufmerksam geworden ist und sie als Volontäre einstellt. Ihre erste Aufgabe ist ein Interview mit Marla Bates, dem neuen Werbegesicht von RotGold. Doch Marla wirkt beim Interview fahrig, gestresst und unter Druck gesetzt. Als sie Elijah zum Ende des Interviews dann auch noch einen versteckten Hilferuf sendet, steht für Elijah und Beth fest: Sie müssen Marla aus den Fängen von RotGold befreien…

Persönliche Meinung: „RotGold – Jung bis zum letzten Tag“ von Helena Weber ist der Auftakt einer neuen Trilogie. Erzählt wird der Roman im Wechsel aus verschiedenen personalen Erzählperspektiven (u.a. Beth, Elijah, Marla und Will, dem Bruder von Elijah), wodurch die Handlung ein schönes Tempo gewinnt. Die Figuren sind authentisch und dreidimensional ausgestaltet: Jede Figur hat eine eigene Persönlichkeit (inklusiver eigenem Kopf und kleineren Macken), die sie individuell macht und von den anderen Figuren unterscheidet. Sehr gut haben mir auch die lebendigen, häufig mit Witz gepaarten Dialoge zwischen den Figuren gefallen. „RotGold“ vereint Elemente verschiedener Genres in sich. Die Welt, die auf den ersten Blick unserer gar nicht so unähnlich scheint, offenbart – je weiter die Handlung voranschreitet – dystopische Züge: Dominiert wird die Welt durch das Unternehmen RotGold, das im Hintergrund als graue Eminenz arbeitet. Dieses Unternehmen hat ein Schönheitselixier entwickelt, das – zumindest äußerlich – ewige Jugend verspricht (originell fand ich übrigens, wie das Elixier hergestellt wird, aber das möchte ich hier nicht verraten). Es befürwortet allerdings nicht jede*r die Arbeit von RotGold, sodass die Gesellschaft gespalten ist. Wie weit der Einfluss von RotGold reicht und worin es noch verwickelt sein könnte, wird in „RotGold – Jung bis zum letzten Tag“ schon angedeutet, weshalb ich vermute, dass in den Folgebänden der Dystopieanteil weiter zunehmen wird. Daneben finden sich in „RotGold – Jung bis zum letzten Tag“ auch Krimi-/Politthriller-Elemente. Denn: Will, der Bruder von Elijah, arbeitet als Polizist und muss einen Mordfall aufklären, der ihn in den Dunstkreis von RotGold führt. Weiterhin sind auch Liebesgeschichten in die Handlung eingewoben: Dabei keimt eine Liebesbeziehung gerade auf; die andere wird neu entfacht. Durch diese Vermischung verschiedener Genres ist die Handlung abwechslungsreich, nicht leicht zu erahnen und spannend. Was mir ebenfalls sehr gut gefallen hat, ist, dass in „RotGold“ auch gesellschaftlich relevante Themen diskutiert werden (besonders das in Werbung häufig vermittelte Schönheitsideal „Jugendlichkeit“). Der Schreibstil von Helena Weber lässt sich angenehm und flüssig lesen. Abgerundet wird die Ausgabe durch schöne schwarz-weiß Illustrationen der Protagonisten, die dem Text vorangestellt sind. Insgesamt ist „RotGold – Jung bis zum letzten Tag“ ein spannender Reihenauftakt mit einer abwechslungsreichen Handlung und liebenswürdigen Protagonisten.

Bewertung vom 05.07.2022
Aya und die Hexe
Wynne Jones, Diana

Aya und die Hexe


sehr gut

Eine witzige Fantasygeschichte mit einer frechen Protagonistin

Inhalt: Die zehnjährige Aya lebt im St.-Morwald-Waisenhaus – aus dem sie nicht wegmöchte. Denn: Dort machen alle genau das, was sie sich wünscht – auch potenzielle Eltern, die Aya adoptieren wollen, folgen Ayas Wunsch und lassen sie im Waisenhaus. Eines Tages erscheint allerdings ein Paar, das gegen Ayas Wünsche resistent zu sein scheint und sie einfach so adoptiert. Als Aya in ihrem neuen Zuhause ankommt, stellt sich schnell heraus: Ihre Adoptivmutter ist eine Hexe. Wird es Aya trotzdem gelingen, ihre Wünsche durchzusetzen?

Persönliche Meinung: „Aya und die Hexe“ ist eine Fantasygeschichte von Diana Wynne Jones. Erzählt wird die Handlung von einem allwissenden Erzähler, der von Ayas Abenteuer im Hexenhaus berichtet. „Aya und die Hexe“ ist kein Fantasyroman im Umfang der Bücher der Howl-Saga, sondern eine ca. 100 Seiten umfassende Kurzgeschichte, die reich bebildert ist. Die Kürze nimmt der Geschichte allerdings nicht ihren Zauber: So trumpft „Aya und die Hexe“ einerseits mit einer selbstbewussten und frechen Protagonistin auf, andererseits ist die Zauberwelt von „Aya“ mit ihren Figuren und Zaubersprüchen fantasievoll ausgestaltet. Gewürzt ist die Handlung zudem mit einer Prise Humor. Der Schreibstil von Diana Wynne Jones ist lebendig und lässt sich angenehm lesen. Ergänzt wird der Text durch zahlreiche Illustrationen von Miho Satake. Diese sind meistens farbig, teilweise schwarz-weiß und erinnern an den typischen Ghibli-Stil. Aufgrund ihrer Kürze, den vielen Illustrationen und dem fantasievoll-witzigen Inhalt eignet sich „Aya und die Hexe“ auch als Lektüre für Kinder bzw. als Gute-Nacht-Geschichte zum Vorlesen. Insgesamt ist „Aya und die Hexe“ eine kurzweilige Fantasygeschichte, die vom Droemer Knaur Verlag in einer schönen Schmuckausgabe erstmals auf Deutsch präsentiert wird.

Bewertung vom 03.07.2022
Das Haus der stummen Toten
Sten, Camilla

Das Haus der stummen Toten


ausgezeichnet

Ein spannender Thriller mit einer tollen Atmosphäre

Inhalt: Als ihre Großmutter Vivianne ermordet wird, bricht für Eleanor eine Welt zusammen. Nicht nur muss sie mit dem Verlust zurechtkommen; gleichzeitig macht sie sich Vorwürfe: Sie konnte einen kurzen Blick auf den Mörder erhaschen, allerdings ist es ihr aufgrund ihrer Gesichtserkennungsschwäche unmöglich, sein Gesicht zu verbildlichen. Einige Zeit nach dem Tod von Vivianne erhält Eleanor einen Anruf von einem Notar: Ihre Großmutter hat ihr Solhöga, einen Gutshof, der schon lange in Familienbesitz ist, vermacht. Gemeinsam mit ihrem Freund, dem Notar und ihrer Tante möchte Eleanor den Nachlass verwalten – doch sie sind nicht die einzigen, die sich auf dem einsam gelegenen Gutshof befinden…

Persönliche Meinung: „Das Haus der stummen Toten“ ist ein Thriller von Camilla Sten. Es handelt sich um einen Stand-Alone-Roman, der sich unabhängig von Stens „Das Dorf der toten Seelen“ lesen lässt. Erzählt wird der Thriller von zwei verschiedenen Ich-Erzählerinnen auf zwei wechselnden Zeitebenen. In der Gegenwart begleiten wir Eleanor, die versucht, dem Geheimnis von Solhöga nachzuspüren. Hier führen besonders zwei Elemente zu einer schönen Spannungskurve: Einerseits geschehen auf Solhöga immer wieder mysteriöse Vorfälle: Dinge verschwinden, der Gutsverwalter ist nicht auffindbar, eine (unbekannte) Person scheint durch das Anwesen zu schleichen. Andererseits leidet Eleanor unter Prosopagnosie (Gesichtsblindheit): Sie kann Personen nicht intuitiv an ihrem Gesicht erkennen und ist dem Gegenüber dadurch immer bis zu einem gewissen Grad ausgeliefert. Dadurch steht Eleanor permanent unter Stress, was lebendig dargestellt wird. Aber auch auf der Handlungsebene führt die Gesichtsblindheit zu einem spannenden Umstand: Da sie das Gesicht des Mörders nicht erfassen konnte, kann jede Figur potentiell der Mörder sein. Der zweite Erzählstrang spielt in den 1960er Jahren. In Form von Tagebucheinträgen lernen wir Annuschka kennen, die aus Polen emigriert ist, um auf Solhöga als Hausangestellte zu arbeiten. Spannung entsteht besonders dadurch, dass beide Handlungsstränge zunächst losgelöst voneinander voranschreiten, sodass man sich permanent fragt, wie der Zusammenhang beider ist. Sukzessiv erfährt man aber immer mehr über Annuschka, sodass sich mosaikartig ein Gesamtbild ergibt. Sehr gut hat mir auch die atmosphärische Beschreibung von Solhöga gefallen. Das Gutshaus ist verwinkelt, verbirgt das ein oder andere Geheimnis und besitzt eine latent bedrohliche Aura. Hinzu kommt, dass während der Eleanor-Handlung ein Schneesturm einsetzt, sodass Solhöga immer mehr zu einer Falle für die Protagonisten wird. Zur Handlung möchte ich ansonsten gar nicht zu viel verraten. Nur: Sie ist spannend, wendungsreich und trumpft mit einem nicht zu erahnenden Twist auf. Der Schreibstil von Camilla Sten ist bildhaft, lebendig und lässt sich sehr flüssig lesen. Die spannende, atmosphärische Handlung, die vielen Wendungen und der tolle Schreibstil führen dazu, dass man „Das Haus der stummen Toten“ nur so verschlingt (Ich habe es an einem Tag fast am Stück gelesen

Bewertung vom 29.06.2022
Schallplattensommer
Bronsky, Alina

Schallplattensommer


sehr gut

Ein spannender Sommerroman - nicht immer luftig-leicht, gerade dadruch aber sehr reizvoll

Inhalt: Trotz Sommerferien verläuft für die fast siebzehnjährige Maserati jeder Tag ähnlich: Sie frittiert Pommes in der Gaststätte ihrer Oma, kellnert, versucht sich, über Wasser zu halten; manchmal besucht sie ihren Schulfreund Georg. Doch der Alltagstrott wird durchbrochen, als eine neue Familie mit zwei Jungen, beide in Maseratis Alter, in die verlassene Villa im Ortskern zieht. Denn: Theo, einer der Jungen, hat Maseratis Gesicht auf einer alten Schallplatte entdeckt, die weit vor ihrer Geburt erschienen ist – und möchte nun Maseratis Geheimnis auf die Spur kommen.

Persönliche Meinung: „Schallplattensommer“ ist ein Jugendbuch/Coming-of-Age-Roman von Alina Bronsky. Erzählt wird er aus der personalen Erzählperspektive von Maserati. Die Handlung dreht sich – grob gesagt – um die aufkeimende Freundschaft zwischen Maserati und den neu zugezogenen Cousins Caspar und Theo. Darüber hinaus werden aber auch viele Themen wie Mobbing, schwierige Verwandtschaftsverhältnisse, Liebe, Verlust, das Älterwerden und die Angst vor der Zukunft angesprochen, wodurch „Schallplattensommer“ zu einem vielschichtigen Roman wird. Auch hat jede der Hauptfiguren ein Geheimnis, eine Vergangenheit, die sie vor den anderen versteckt. Dadurch, dass lange Zeit offen ist, um welche Geheimnisse es sich handelt, durchzieht die Handlung eine latente Spannung. Stellenweise ist das, was dabei zu Tage tritt, harter Tobak, sodass „Schallplattensommer“ – anders als das Cover suggeriert – nicht durchweg eine luftig-leichte Lektüre ist. Mir haben diese tragischen, passend gewählten Hintergrundgeschichten der Figuren aber gerade aufgrund ihrer Ernsthaftigkeit sehr gut gefallen, da sie den Roman vom Mainstream abheben und ein Alleinstellungsmerkmal bilden. Abgesehen von diesen Hintergrundgeschichten blieben die Figuren für mich insgesamt aber etwas zu scherenschnittartig. Den Schreibstil von Alina Bronsky fand ich wiederum toll. Er ist nüchtern und gestochen scharf; die Geschichten der Protagonisten werden schonungslos erzählt. Darüber hinaus erschafft Bronsky aber auch immer wieder atmosphärische Szenen, in denen man die laue Sommernacht oder die Hitze des Sonnentages geradezu spüren kann. Am Ende der abwechslungsreichen und unvorhersehbaren Handlung werden zwar nicht alle Fragen restlos geklärt, allerdings ist der Plot dennoch stimmig: „Schallplattensommer“ ist der Roman eines Sommers, eine Momentaufnahme, die Luft für Interpretationen lässt. Insgesamt ist „Schallplattensommer“ ein spannender, kurzweiliger Sommerroman mit vielen atmosphärischen Szenen. Nicht immer ist die Handlung leicht – aber diese Diskrepanz zwischen den eigentlich für Sorglosigkeit stehenden Sommerferien und dem (tragischen) Schicksal der Protagonisten macht den besonderen Reiz des Romans aus.

Bewertung vom 27.06.2022
Der Mord in der Rose Street / Leo Stanhope Bd.2
Reeve, Alex

Der Mord in der Rose Street / Leo Stanhope Bd.2


ausgezeichnet

Inhalt: London, 1881. Als Leo Stanhope in der Apotheke seines Vermieters eine Frau mit zwei Kindern bedient, ahnt er noch nichts Böses. Doch kurze Zeit später wird er von der Polizei abgeholt und zu einem Anarchistenclub gebracht. Dort wurde eine notdürftig verscharrte Leiche gefunden – bei der es sich um jene Frau handelt, die kurz zuvor in der Apotheke war. Da sie einen Zettel mit Leos Adresse bei sich trug, rutscht er unfreiwillig in den Kreis der Verdächtigen. Damit allerdings nicht genug: Am Tatort begegnet Leo einer Person, die er noch aus Kindheitstagen kennt: John Thackery, ein junger Adliger, der sich nunmehr für die Interessen der Arbeiterschaft einsetzt – und der für die Mordnacht ein Alibi benötigt. Sollte Leo ihm dies nicht geben, droht er, Leos Geheimnis zu verraten…

Persönliche Meinung: „Der Mord in der Rose Street“ ist ein historischer Kriminalroman von Alex Reeve. Nach „Das Haus in der Half Moon Street“ handelt es sich um den zweiten Band der Leo-Stanhope-Reihe. Den ersten Band habe ich noch nicht gelesen, allerdings hatte ich keine Schwierigkeiten, der Handlung von „Der Mord in der Rose Street“ zu folgen. Der Krimi spielt vor dem Hintergrund der Industrialisierung Englands. Eine wichtige Rolle dabei nehmen die aufkeimende soziale Frage und die Formierung der Arbeiterbewegung ein. Erzählt wird „Der Mord in der Rose Street“ aus der Ich-Perspektive von Leo Stanhope, der eine tiefenscharf ausgearbeitete Figur ist. Leo ist ein Transmann, dessen Gefühlswelt glaubwürdig, lebendig und facettenreich ausgestaltet ist. Neben den Vorurteilen der viktorianischen Gesellschaft/seiner Familie belastet ihn auch die ständige Furcht davor, dass sein biologisches Geschlecht entdeckt wird – was einschneidende Konsequenzen für ihn hätte. Auch hat er permanent das Gefühl, seine Freunde zu belügen: Eigentlich möchte er ihnen von seiner Transidentität erzählen. Gleichzeitig sorgt er sich aber vor deren Ablehnung, weshalb er lieber schweigt. Alex Reeve gelingt es, diese Gefühle schön und stimmig in den Plot des Krimis einzuweben. Die Handlung von „Der Mord in der Rose Street“ ist insgesamt spannend, mehrfach wird man auf falsche Fährten geführt; das Ende trumpft mit einem überraschenden Twist auf. Zwischendurch gibt es einzelne, kleinere Längen, aber diese fallen für mich nicht so sehr ins Gewicht. Auch der Handlungsort des Krimis hat mir sehr gut gefallen: Das viktorianische London mit seinen Gassen, Kutschen und kantigen Figuren wird atmosphärisch dicht beschrieben. Der Schreibstil von Alex Reeve lässt sich flüssig und angenehm lesen. Die Wortwahl und der Satzbau wirken in Bezug auf die Handlungszeit authentisch. Insgesamt ist „Der Mord in der Rose Street“ ein atmosphärischer historischer Krimi mit einer wendungsreichen Handlung und einem Protagonisten, der eine große Tiefenschärfe besitzt.

Bewertung vom 24.06.2022
Liebesspiele
Mann, Heinrich

Liebesspiele


ausgezeichnet

„Liebesspiele“, herausgegeben von Christian Strich, versammelt acht Erzählungen von Heinrich Mann, die sich um das Thema „Liebe“ drehen. Im Folgenden stelle ich jede Erzählung kurz und spoilerfrei vor. Den Beginn macht „Der Unbekannte“. Im Mittelpunkt der Erzählung steht Raffael, ein Jüngling, der für seine ältere, verheiratete Nachbarin schwärmt. Erzähltechnisch schön gemacht ist, wie sich diese Schwärmerei sukzessiv steigert: Mehrmals deutet Raffael in seiner noch kindlichen Naivität Dinge falsch, erträumt sich so bereits die gemeinsame Zukunft mit der Nachbarin – was permanent durch den auktorialen Erzähler gebrochen wird. So sind die Lesenden Raffael immer einen Schritt voraus; seine Naivität liegt offen, was zur Tragik der Erzählung beiträgt. Die zweite Erzählung „Die Szene“ dreht sich um ein Liebespaar, das sich in einem Trennungsprozess befindet. Buchstäblich handelt die Erzählung von einer schauspielerischen Szene, die dem Trennungsprozess eine besondere Wendung gibt. Es folgt „Liebesspiele“, neben „Die Szene“ eine der kürzeren Erzählungen. „Liebesspiele“ fokussiert eine Dreiecksbeziehungen, in der es um Machtkämpfe geht. Wie auch „Die Szene“ endet „Liebesspiele“ mit einer schönen Wendung. „Gretchen“ ist eine humorige Erzählung, in der die titelgebende Figur mit ihrem Verlobten unzufrieden ist. Die Erzählung endet in einer kleinen Eulenspiegelei. „Suturp“, die fünfte Erzählung, behandelt erneut eine Dreiecksbeziehung: Der Rechtsanwalt Belling begibt sich in die finanzielle Abhängigkeit von dem Herrn von Elchem, um sich und seiner Frau Franziska eine standesgemäße Zukunft zu ermöglichen. Von Elchem allerdings strebt schon seit längerem eine Beziehung zu Franziska an, sodass die finanzielle Unterstüzung von von Elchem für Belling zu einem Teufelspakt wird. Es liegt an Franziska, Belling aus diesem zu retten. „Suturp“ ist insgesamt eine ausgefeilt komponierte Erzählung, die mehrere Wendungen bereithält. Neben dem großen Thema „Liebe“ verbirgt sich in den fünf bisher besprochenen Erzählungen – teils offensichtlicher, teils versteckter – ein weiteres Thema: die bürgerliche Moralvorstellung. Heinrich Mann arbeitet sich an dieser ab, geht mal leichtherzig und augenzwinkernd vor, mal ernst; immer entlarvt er sie als Doppelmoral. In den folgenden drei Erzählungen geht er sogar noch einen Schritt weiter: Hier werden nicht allein die scheinheiligen Moralvorstellungen kritisiert, sondern die Gesellschaft als gesamtes. So spielen in der sechsten Erzählung „Eine Liebesgeschichte“ nicht nur antiquierte Wertvorstellungen eine Rolle, sondern auch die sich schrittweise radikalisierende Kriegsgesellschaft des 1. Weltkrieges. Vor diesem Hintergrund entfaltet Mann eine Liebesgeschichte, die nicht tragischer enden könnte. Die vorletzte Erzählung „Der Verräter“ thematisiert die aufkeimende Arbeiterbewegung. Hier wird aufgeführt, wie die politische Sache für eine Liebesbeziehung missbraucht wird. Den Abschluss macht „Kobes“, die komplexeste der Erzählungen. Der Liebesaspekt rückt hier in den Hintergrund; im Fokus steht die Gesellschaftskritik: Allegorisch und satirisch wird hier der (bereits stark zum Nationalistischen tendierende) Herrschaftsapparat der 1920er kritisch durchleuchtet. Abgerundet wird der Band durch ein Vorwort des schweizerischen Schriftstellers Hugo Loetscher, der kurz in Leben und Werk Heinrich Manns einführt. Daneben finden sich in der Ausgabe des Diogenes Verlags vierundzwanzig Zeichnungen von George Grosz, dessen Darstellungen sich passend in die Gesellschaftskritik Manns einfügen. Insgesamt ist „Liebesspiele“ eine schöne Sammlung von (meist tragisch endenden) Liebeserzählungen, die mit einigen Wendungen auftrumpfen. Die Erzählungen gehen aber nicht allein in der Liebesthematik auf: Neben der Liebe spielen auch die gesellschaftlichen Umstände, in denen die Liebe gedeiht (oder eben nicht gedeiht) eine Rolle.

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Bewertung vom 24.06.2022
Die Spur - Er wird dich finden / Björk und Brand Bd.3
Beck, Jan

Die Spur - Er wird dich finden / Björk und Brand Bd.3


ausgezeichnet

Ein fesselnder, lebendig geschriebener Thriller

Inhalt: Kurz hintereinander werden in mehreren europäischen Metropolen Leichen gefunden – als makabre Kunstwerke an öffentlichen Plätzen ausgestellt. Um weitere Morde zu verhindern, sehen sich die beiden Europol-Ermittler Inga Björk und Christian Brand gleich mit mehreren Fragen konfrontiert: Nach welchem Muster werden die Opfer ausgewählt? Welche Verbindung haben sie? Und: Wo wird der Mörder als nächstes zuschlagen?

Persönliche Meinung: „Die Spur“ ist – nach „Das Spiel“ und „Die Nacht“ – der dritte Band der Björk und Brand-Reihe von Jan Beck. Da die Handlung von „Die Spur“ in sich abgeschlossen ist, lässt sich der Thriller auch ohne Kenntnis der Vorgänger lesen. Wie schon die vorherigen Bände wird auch „Die Spur“ aus verschiedenen Perspektiven und in mehreren Handlungssträngen erzählt, sodass sich eine temporeiche Handlung entwickelt. Die drei Hauptperspektiven dabei sind diejenigen von Inga Björk, Christian Brand (jeweils aus personaler Perspektive erzählt) und Amélie Leclerc (Ich-Perspektive). Während in den beiden Handlungssträngen um Björk und Brand die Ermittlungen im Mittelpunkt stehen, fokussiert der Strang um Amélie deren (Internats-)Leben. Besonders spannend am Amélie-Strang ist, dass man zunächst gar nicht genau sagen kann, welchen Bezug er zu den Morden hat. Man tappt lange im Dunkeln, fragt sich, wann der Strang überhaupt stattfindet und inwiefern Amélie im aktuellen Fall eine Rolle spielt. Aber auch über den Amélie-Strang hinaus ist die Handlung voller Spannung: Sie ist wendungsreich, unvorhersehbar und endet mit einem schönen Twist. Interessant ist zudem die individuelle Ausgestaltung der Morde: Die Inszenierung der Leichen ist eng mit den Motiven des Täters, dem jeweiligen Opfer und der Hintergrundgeschichte des Falls verwoben (etwas, was ich in der Form noch nicht gelesen habe). Was mir ebenfalls sehr gut gefallen hat, ist, dass man zum Schluss des Thrillers noch einen interessanten Aspekt aus der Vergangenheit von Christian Brand erfährt – zumal dies einen direkten Einfluss auf die Fallaufklärung besitzt. Der Schreibstil von Jan Beck ist gewohnt bildhaft und lebendig, sodass er sich sehr angenehm lesen lässt. Insgesamt ist „Die Spur“ ein fesselnder, temporeicher Thriller mit außergewöhnlich inszenierten Morden und einer spannenden Handlungskurve.

Bewertung vom 15.06.2022
Frische Wunden
Nähle, Kirsten

Frische Wunden


ausgezeichnet

Ein spannender Krimi mit toll ausgestalteten Figuren

Inhalt: Würzburg. Die Leiche einer jungen Frau wird im Stadtwald gefunden – zugedeckt mit einer Babydecke. Nach der Obduktion steht fest: Die junge Frau hat vor Kurzem entbunden. Doch von ihrem Baby fehlt jede Spur. Für die Kommissare Victoria Stahl und Daniel Freund beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit – in einem Fall, der sie emotional fordern wird.

Persönliche Meinung: „Frische Wunden“ von Kirsten Nähle ist der Abschluss der Krimi-Trilogie um die Würzburger Kommissare Stahl und Freund. Da die Handlung von „Frische Wunden“ in sich abgeschlossen ist, kann man den Krimi auch ohne Kenntnis der Vorgänger lesen. Noch größer ist das Lesevergnügen aber, wenn man die Reihe chronologisch liest: Wie bereits in „Zwölf Sünden“ und „Vertraute Qualen“ spielen auch im dritten Band die Gefühlswelt und das Privatleben der beiden Ermittlerfiguren eine große Rolle. Beides entwickelt sich über die Bände hinweg, sodass man sich besser in die Figuren hineinversetzen kann, wenn man die Reihe chronologisch liest. Erzählt wird der Krimi temporeich in vergleichsweise kurzen Kapiteln aus verschiedenen Perspektiven (neben die Ermittlerfiguren Victoria Stahl und Daniel Freund treten Jonas, der Freund der Verstorbenen, und Susanne, die Verlobte von Daniel). Die Figuren sind schön ausgestaltet: Ihre Gefühle, die Sorgen und Ängste, die sie mit sich herumtragen, aber auch ihre Hoffnungen sind lebendig und authentisch gezeichnet, wodurch man unweigerlich mit den Figuren leidet/fühlt. Auch die Handlung von „Frische Wunden“ hat mir sehr gut gefallen: Der Fall ist vertrackt und besitzt emotionalen Tiefgang; die Spannungskurve ist – durch viele potenzielle Täterfiguren, mehrere unerwartete Wendungen und einige clever eingebaute falsche Fährten – hoch. Überraschend ist dementsprechend auch das Ende des Krimis. Interessant fand ich außerdem, dass Kirsten Nähle in „Frische Wunden“ ein gesellschaftlich relevantes Thema diskutiert, mit dem man zu Beginn nicht gerechnet hätte (welches dies ist, kann ich leider nicht verraten, da es die Auflösung der Handlung zu sehr spoilert). Der Schreibstil von Kirsten Nähle lässt sich sehr angenehm und flüssig lesen. Insgesamt ist „Frische Wunden“ ein spannender und wendungsreicher Thriller mit schön ausgestalteten Figuren.

Bewertung vom 02.06.2022
Die Silberkammer in der Chancery Lane / Peter Grant Bd.9 (eBook, ePUB)
Aaronovitch, Ben

Die Silberkammer in der Chancery Lane / Peter Grant Bd.9 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Inhalt: In den Londoner Silver Vaults wird eine Leiche gefunden: ein Mann, dem das Herz brutal herausgerissen worden ist. Die Umstände deuten auf ein magisches Verbrechen hin, sodass Peter Grant, Polizist und Zauberlehrling in Personalunion, zum Tatort gerufen wird. Doch auch für ihn ist der Mord unerklärbar und schnell stellt sich heraus: Auf ein solch starkes Wesen ist Peter noch nie getroffen. Und als hätte er nicht beruflich schon alle Hände voll zu tun, bahnt sich auch eine private Veränderung an…

Persönliche Meinung: „Die Silberkammer in der Chancery Lane“ ist ein Urban-Fantasy-Roman von Ben Aaronovitch. Es handelt sich um den 9. Band der „Die-Flüsse-von-London“-Reihe, die sich um den Polizisten/Zauberlehrling Peter Grant dreht, der in London magische Verbrechen aufklärt. Die Handlung von „Die Silberkammer in der Chancery Lane“ ist in sich abgeschlossen, sodass man mit diesem Band auch quer in die Reihe einsteigen kann. Aufgrund der Beziehungen der Figuren (im 9. Band treten einige alte Bekannte auf) ist es allerdings sinnvoll, die Reihe chronologisch zu lesen. Außerdem entfaltet sich so auch der besondere Charme der Reihe besser. Zu der Handlung selbst will ich nicht zu viel vorwegnehmen: Sie dreht sich, wie der Inhaltsteaser vermuten lässt, um die Aufklärung des Silver-Vaults-Mordes (der, so viel kann ich verraten, nicht der einzige bleiben wird). Spannung entsteht dadurch, dass man lange Zeit nicht weiß, was es mit dem Täter (und seinen Motiven) auf sich hat. Neben krimitypischer Ermittlerarbeit kommt durch magische Artefakte, Zauberei und phantastische Wesen eine schöne Portion Fantasy in die Handlung. Was mir bei den Fantasy-Elementen besonders gut gefallen hat, ist, dass die magische Welt des „Die-Flüsse-von-London“-Universums in „Die Silberkammer in der Chancery Lane“ weiter ausgebaut wird. Sowohl in der Gegenwart als auch in der Vergangenheit erhält die magische Welt eine größere Breite (womit konsequent der im Vorgängerroman eingeschlagene Weg fortgesetzt wird). Das Ende des Romans deutet ebenfalls einige interessante Veränderungen für den Fortgang der Reihe an. Erzählt wird „Die Silberkammer in der Chancery Lane“ aus der Ich-Perspektive von Peter Grant. Peter erzählt mit viel Humor – mal beißend, mal trocken, immer mit selbstironischem Ton. Auch baut er die ein oder andere popkulturelle Referenz ein. Daneben hat Peter ein Faible für Architektur und kommentiert häufig den baulichen Charakter der verschiedenen Handlungsorte, sodass man – neben Krimi und Fantasy – eine kleine Stadtführung durch London erhält. Der Schreibstil von Ben Aaronovitch lässt sich gewohnt flüssig und angenehm lesen. Insgesamt ist „Die Silberkammer in der Chancery Lane“ ein humorvoller und spannender Urban-Fantasy-Krimi, der außerdem die Weichen für kommende Romane stellt.