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hasirasi2
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Dresden

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Insgesamt 1252 Bewertungen
Bewertung vom 10.03.2019
Gunnis, Emily

Das Haus der Verlassenen


sehr gut

Es beginnt 1959 mit einem Brief, den Ivy der 8jährigenn Elvira auf der Flucht aus dem St. Margaret's Heim für ledige Mütter mitgibt. Darin steht u.a., dass Elvira eine Zwillingsschwester – Kitty – hat und wo diese lebt.

Fast 60 Jahre später ist Elviras Zwillingsschwester Kitty berühmt. Sie hatte 20 Jahre lang eine Talkshow im Fernsehen, zieht sich aber gerade aus der Öffentlichkeit zurück. „Menschen faszinieren mich. Was sie von sich zeigen, ist meist nicht das, was sie im Innersten bewegt.“ „Natürlich bin ich traurig, diese wunderbare Bühne zu verlassen, aber ich gehe lieber freiwillig, als dass ich hinunter gestoßen werde.“(S. 31)
Parallel dazu findet die Journalistin Samantha unter den Unterlagen ihres verstorbenen Großvaters einen anderen Brief von Ivy von 1956, in dem sie den Vater ihres Kindes anfleht, sie zu heiraten. Nach und nach findet Samantha noch weitere Briefe Ivys. Woher hatte Samanthas Großvater diese?! Sie beginnt zu recherchieren und stößt auf Ivys Geschichte und die des St. Margaret's. Außerdem stolpert sie über das Verschwinden des ehemaligen Priesters des Heimes im Jahr 2000 und dem Fund seiner Leiche 2016 ...

Ich fand bereits den Einstieg in das Buch erschütternd. Die Art und Weise, wie Ivy Elvira zur Flucht verhilft und ihr eigenes Leiden im St. Margaret´s beendet ist sehr extrem und zeigt, wie groß ihre Verzweiflung gewesen sein muss. Die Nonnen gingen ziemlich brutal mit den ledigen Schwangeren, aber auch den Babys und Kleinkindern um. Das Leben der Heimbewohner war von harter Arbeit, Schweigen und Angst geprägt. Durch Ivys Briefe erfährt der Leser ihren jeweiligen Gemütszustand ungefiltert aus erster Hand.„Ich weiß nicht mal, ob Du meine Briefe überhaupt liest, aber ich kann Dich nicht loslassen. Wenn Du mich noch liebst, dann hole mich bitte hier weg.“ (S. 119)

Samantha und ihr Mann legen gerade eine Beziehungspause ein. Ihm passt nicht, dass sie als Journalistin so viel arbeitet. Also zieht sie mit ihrer Tochter zu ihrer Großmutter. Ihr Kind jetzt allein aufzuziehen ist für Samantha zwar auch schwer, heute aber fast selbstverständlich. Zu Ivys Zeiten hingegen wurde den unverheirateten Schwangeren erzählt, dass es unmöglich ist. Sie wurden in Heime wie das St. Margaret´s abgeschoben und zur Adoptionsfreigabe ihrer Babys gezwungen.

Bücher, die auf mehreren Zeitebenen spielen und deren Fäden oft erst am Ende verknüpft werden, sind immer wieder spannend. Hier kommt noch das besondere Setting dazu – ein altes Haus (das St. Margaret's), dass schon vor 60 Jahren eine unheimliche Aura umgab: „Von Weitem sah es aus wie ein verbranntes Pfefferkuchenhaus ...“ (S. 53). Genau dieses Haus soll jetzt abgerissen werden. Nachdem Samantha Ivys Briefe gelesen hat, will sie sich selbst ein Bild von dem Haus machen. „Dieser Ort ist total verrückt. Man hat das Gefühl, die Mädchen seien hier immer noch gefangen.“ (S. 75) Ihr journalistischer Ehrgeiz ist geweckt.

Das Buch wechselt kapitelweise zwischen den verschiedenen Zeitsträngen und ich musste mich beim Lesen sehr konzentrieren, um die Handlung immer wieder einordnen zu können. Die Beziehungsgeflechte unter den Protagonisten sind ziemlich komplex und zum Teil verwirrend, auch wenn mir schon recht früh klar war, was mit Kitty und Elvira passiert ist. Trotzdem blieb die Spannung bis zur endgültigen Aufklärung am Ende erhalten. Im Großen und Ganzen hat es mir sehr gut gefallen, nur das Ende fand ich etwas überstürzt und nicht ganz logisch.
Am meisten erschüttert haben mich die Szenen im St. Margaret´s. Sie klingen, wie aus dieser Zeit gefallen, als wären sie nicht in den 1950ern sondern Jahrzehnte früher passiert. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass eine solche Vorgehensweise zu dieser relativ modernen Zeit noch möglich und üblich war.
Ich würde den Roman eher als Krimi oder fast schon Thriller einordnen.

Bewertung vom 01.03.2019
Lunding, Anne-Sophie

Ein schwerer Fall von Liebe


gut

Elvira ist eine wirklich nette Person. OK, sie ist mit ihren knapp 150 kg etwas dicker als es auf Dauer gut ist und wehrt sich beim Jobcenter gegen alle Maßnahmen, die sie ihr verordnen, aber sie hat immer ein Lächeln auf den Lippen und ist höflich zu ihren Mitmenschen. Außerdem geht sie ja arbeiten, aber eben schwarz, meist nachts, im Bordell. Dort putzt sie und passt auf die Mädchen auf. Außerdem hilft sie immer wieder ihrem Zwillingsbruder aus, wenn er Geld für den nächsten Schuss braucht und bezahlt seine Schulden. Sie hat immer etwas zu Essen für ihn da und saubere Kleidung. Schließlich haben sie nur noch sich. Ihre Mutter ist früh gestorben, sie wurden von einer Pflegefamilie zur nächsten durchgereicht, bis sie in einer betreuten WG landeten. Neben ihrem Bruder gibt es noch Køster, dessen ehemals besten Freund, der ihr diesen Job gegeben hat. Køster ist Polizist und betreibt das Bordell nebenher. Und er ist ja auch viel netter zu den Mädchen als andere Zuhälter, lässt ihnen den größten Teil ihrer Einnahmen. Sagt er. Und Elvira glaubt ihm. Bis eines der Mädchen, Candy, von einem Tag auf den anderen verschwindet und Køster sie bittet, sie zu finden. Und die gutgläubige Elvira macht, worum er sie bittet ...

Elvira tat mir unsagbar leid. Sie ist nicht dumm, aber sie stellt sich gern so. Nur nicht auffallen. Sie kümmert sich wirklich aufopferungsvoll um ihren Bruder, gibt fast ihr ganzes (Schwarz-)Geld für ihn aus. Aber sie versteckt sie sich hinter ihrem Gewicht, verarbeitet sämtliche Emotionen mit Essen. Bis sie Candys Stammfreier Henry kennenlernt. Henry ist genau so einsam wie sie. Sie kommen sich näher und er bricht ihre Schale auf. Erstmals fasst sie Vertrauen und erzählt jemandem, warum sie so geworden ist wie sie ist.

Nie, wirklich noch nie, ist mir eine Rezension so schwer gefallen wie die zu diesem Buch. Was erwartet ihr, wenn ihr euch das Cover anseht und den Klappentext durchlest? Ich hatte mich auf eine ungewöhnliche Liebesgeschichte gefreut. Mir war klar, dass es dabei am Rande auch um Prostitution geht, aber es klang doch alles eher leicht, locker und vor allem humorvoll. Stattdessen geht es um Kindesmissbrauch, Zwangsprostitution und Drogenmissbrauch. Eine Geschichte, die mich bis an meine Grenzen gebracht hat. Mehr als einmal wollte ich sie abbrechen, und habe sie am Ende doch ausgelesen. Nicht dass ihr denkt, sie wäre schlecht geschrieben. Nein das ist sie nicht. Sie ist wirklich gut, wenn man sich auf dieses Thema einlässt. Mein Problem war nur, dass ich etwas komplett anderes erwartet hatte und mir nie ein Buch zu diesen Themen ausgesucht hätte. Und lächeln oder gar lachen konnte ich bei diesen schweren Themen leider auch nicht.

Bewertung vom 28.02.2019
Lamballe, Marie

Eine neue Zeit / Café Engel Bd.1


sehr gut

Luisa wächst als uneheliche Tochter des Gutsherren auf einem Gut in Ostpreußen auf. Ihre Eltern lieben sich, aber die herrische Großmutter hat ihrem Sohn die Ehe mit der kleinbürgerlichen Mutter verboten. Als ihr Vater stirbt, müssen sie das Gut verlassen und bauen sich in Stettin eine neue Existenz auf. Doch 1945, kurz vor Ende des 2. Weltkrieges, müssen sie auch von dort fliehen – die Russen kommen und rächen sich gnadenlos für das Leid der letzten Jahre. Luisa und ihre Mutter wollen nach Wiesbaden, wo Onkel Heinz hoffentlich noch das „Café Engel“ betreibt. Allerdings weiß Heinz bisher nichts von Luisas Existenz, da er und ihre Mutter sich aus den Augen verloren hatten.
Das „Café Engel“ hat den Krieg wirklich überstanden. Heinz betreibt es zusammen mit seiner Frau Else und Tochter Hilde. Allerdings wird auch er in den letzten Kriegstagen zum Volkssturm eingezogen und an die Front geschickt, wo er bald in Kriegsgefangenschaft gerät. Doch Else und Hilde sind sehr patent und halten das Café am Laufen. Zu ihren Stammgästen gehören viele Künstler, da sich die Oper direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite befindet und auch das Theater nicht weit weg ist. Durch den Krieg blieben immer mehr Gäste weg. Die jüdischen sind vor Jahren ausgewandert, die anderen wurden nach und nach eingezogen.

Ich durfte das Buch im Rahmen einer Leserunde bei Lesejury vorablesen und einige Mitleser bemängelten, dass die Geschichte aus zu vielen verschiedenen Perspektiven erzählt wird. Aber genau das hat für mich den Reiz des Buches ausgemacht. Man erlebt abwechselnd aus der Sicht des jeweiligen Protagonisten die Flucht, Gefangenschaft oder Kriegs- bzw. Nachkriegszeit. Allerdings ist m.E. auch der Klappentext etwas ungünstig gewählt. Es geht (wie dort beschrieben) nicht vorrangig um die Differenzen zwischen Hilde und Luisa – die machen nur einen kleinen Teil der Handlung aus.

Marie Lamballe schreibt sehr fesselnd und lässt die damalige Zeit lebendig werden. Vor allem mit Luisa und Julia habe ich sehr mitgelitten. Julia ist eine Jüdin, welche Hildes Familie und die anderen Hausbewohner während der Naziherrschaft verstecken. Während die anderen bei den Bombenangriffen in den Keller oder Luftschutzbunker fliehen, kann Julia ihr Versteck nie verlassen. Wie lange hält sie dieses Leben noch durch? Die dauernde Angst vor Entdeckung? Und was wird, wenn der Krieg wirklich mal vorbei ist? „
Auch Luisa erleidet auf ihrer Flucht in Richtung Westen unsägliche Dinge, an denen viele andere zerbrochen wären und die mir das Blut in den Adern gefrieren ließen. Trotzdem hat sie sich ihre Menschlichkeit bewahrt und immer wieder anderen Flüchtlingen geholfen. Mir hat gefallen, dass die Autorin hier nichts beschönigt oder verschwiegen hat, sondern auch die besonders grausamen Seiten des Krieges zeigt.
Heinz ist ein sehr eigener Charakter. Er sieht sich als Kunst-Mäzen, hält seine alten Freunde weiter aus, als sie selbst kaum noch Nahrungsmittel haben. Er ist extrem gutmütig und würde Haus und Hof verschenken, wenn Else und Hilde ihn nicht bremsen würden.
Vor allem Hilde hat es nicht leicht, sich gegen ihren Vater zu behaupten. Sie träumt seit ihrer Kindheit davon, das Café zu führen. Als dann Luisa zu ihnen kommt und von Heinz sofort ins Herz geschlossen wird, reagiert Hilde stutenbissig. Diesen Wesenszug an ihr konnte ich nicht verstehen. Er machte sie mir zum Teil recht unsympathisch. Dabei sind sich die beiden Frauen eigentlich recht ähnlich. Es sind starke Persönlichkeit, Macherinnen. Auch wenn Hilde eher (vor-)laut und gern etwas frecher vorgeht und Luise stiller. Beide geben nicht so schnell auf sondern kämpfen für ihre Visionen und Ziele.
Was mich ebenfalls etwas gestört hat, war das Ende. Es war mir zu glatt und happy, dafür dass der Weg bis dahin sehr dramatisch war. Auch Hildes plötzlichen Sinneswandel im Bezug auf Luise konnte ich nicht nachvollziehen und fand ihn zu plötzlich und unmotiviert.

3 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.02.2019
Goldammer, Frank

Großes Sommertheater


ausgezeichnet

Der schöne Schein

Familienoberhaupt Joseph lädt seine Familie für ein Wochenende an die Ostsee ein. Sie sollen sich endlich alle aussöhnen. Doch wo so viele Menschen und Generationen aufeinandertreffen, ist Krach quasi vorprogrammiert. Zumal sie alle vom jüngsten Familienmitglied auf Trab gehalten werden. Rocco ist erst 4 aber: „...ein unerzogenes, verwöhntes und vor allem unberechenbares Ekel.“ (S. 22). Auch an diesem Wochenende beweist er, dass er seinem Ruf gerecht wird.

Dass Frank Goldammer Krimis schreiben kann, hat er schon bewiesen. Aber kann er auch einen Familienroman? Ja, er kann. Zwar ist „Großes Sommertheater“ ganz anders als erwartet, aber sehr unterhaltsam. Und so ganz kann er es dann doch nicht lassen – das Buch endet mit einem filmreichen Showdown inklusive großem Knall.

Dabei fängt alles so idyllisch an. Sommer an der Ostsee: „Es ist zu heiß, zu laut, zu eng, zu teuer, zu sandig, aber genau das ist es! Man möchte da sein. Man möchte immer wieder kommen. Man möchte gar nicht mehr weg.“ (S. 9)
Die Familie trudelt nach und nach in Josephs Villa ein. Ach was heißt Villa – Schloss trifft es eher. Hat er etwas das ganze zu erwartende Erbe dafür verprasst?!
Der erste Akt kann beginnen, die einzelnen Personen werden vorgestellt. Da wäre z.B. Erwin, der aalglatte korrupte Politiker, dem seine Bestechlichkeit gerade zum Verhängnis wird. Seine Tochter Regina ist die ständig überforderte Mutter des kleinen Teufels Rocco. Womit Erwins Habbruder Harald sein Geld verdient, weiß keiner so genau, aber es scheint nicht auf legalem Weg zu passieren. Noch schlimmer ist nur Uwe, Hartz-IV-Empfänger: „Lieber setzt er seine Ausdauer und seinen Ehrgeiz dafür ein, keine Ausdauer und keinen Ehrgeiz haben zu müssen.“ (S. 90) Die anderen sind geschockt - der abgewrackte Typ hat eine echte Traumfrau dabei. Und dann ist da noch Agnes, Josephs Pflegerin, die sich wie die Hausherrin aufspielt. Welche Rolle wurde ihr zugedacht? „Etwas liegt in der Luft. Jeder spürt, dass dieses Wochenende ganz anders werden würde als gedacht.“ (S. 66)
Insgesamt kommen mehr als 30 Personen vor, aber man behält den Überblick. Sehr gut gefallen hat mir, dass sie alle ihre Eigenarten haben und direkt aus dem Leben gegriffen sind. Auch die eine oder andere Situation habe ich so ähnlich schon bei diversen Familienfesten erlebt. Aber Frank Goldammer lässt uns auch hinter die Masken seiner Protagonisten schauen. Denn kaum einer ist, was er zu sein scheint.

In Rückblicken erfährt man zudem Josephs Vergangenheit. Seine Geschichte ist auch die Geschichte Deutschlands. 1923 geboren, erlebt er den 2. WK, die Teilung und die Wiedervereinigung. Und fast immer schwimmt er oben auf. Diese Kapitel erinnerten mich an die Max-Heller-Reihe, ich hätte mich nicht gewundert, wenn Heller hier einen Gastauftritt gehabt hätte. Stattdessen hat sich der Autor selbst ins Buch geschrieben, etwas versteckt, aber man erkennt ihn – na, neugierig geworden?!

Ohne zu viel zu verraten: So ganz ohne Krimi geht es dann doch nicht. Mit einem Augenzwinkern lässt er alle in die große Katastrophe schliddern. Wenn ich das Buch einordnen müsst, würde ich es wohl als dramatische Komödie bezeichnen – sehr lustig und vor allem zum Ende hin immer spannender.

Bewertung vom 27.02.2019
Holenstein, Alexandra

Das Heinrich-Problem


ausgezeichnet

„Alberta, in den letzten 10 Jahren war unsere Beziehung, unser … Bündnis, wie ein Paar alter Pantoffeln. Bequem meinetwegen, aber ausgetreten und abgenutzt.“ (S. 10) Berti fällt aus allen Wolken, als ihr Mann Heinrich ihr mit diesen Worten das Ende ihrer Ehe mitteilt.
Berti ist Coach für Lebens- und Beziehungsfragen und hat schon einigen Frauen (und Männern) geholfen, ihrem Leben eine Wendung oder neuen Sinn zu geben. Aber dass sie selbst auch mal vor diesem Problem stehen würde, hätte sie nie gedacht. Berti vermutet natürlich, dass Heinrich längst eine neue, jüngere, Frau gefunden hat. Er ist nicht der Typ, der allein lebt. Dazu lässt er sich viel zu gern umsorgen und bekochen.
Kurz darauf lernt Berti sie auch schon kennen – die Neue. Und stellt fest, dass sie nicht die Einzige ist, die Heinrich all die Jahre betrogen hat. Ganz im Gegenteil. Seine Sekretärin Martha könnte Geschichten erzählen ... „Wieviel Wahrheit können sie denn vertragen?“ (S.77) Aber will Berti wirklich alles wissen? Ist sie schon bereit dafür? Ja! Sie beginnt sich Verbündete im Kampf gegen Heinrich zu suchen und einen totsicheren Plan auszuarbeiten. Nein, sie will ihn nicht umbringen, nur mit seinen eigenen Waffen schlagen und an seiner empfindlichsten Stelle treffen ... „Es ist immer gut, seinen Gegner zu kennen.“ (S. 22)

Heinrich ist ein Mann, den man so richtig schön hassen kann. Ein Mann in den besten Jahren, Anwalt, mit allen Wassern gewaschen, der seine Frau jetzt über den Tisch ziehen will und sich für sehr schlau hält. 20 Jahre lang drehte sich alles nur um ihn. Berti hielt ihm den Rücken frei und die Wohnung sauber, das Essen stand stets pünktlich auf dem Tisch. Um Geldangelegenheiten hat sie sich nie kümmern müssen. Leider wollte er leider keine Kinder mehr – Juliane, seine Tochter aus erster Ehe, war störend genug in ihrer Zweisamkeit, fand Heinrich.
Und Berti war zufrieden. Ihre Coaching-Tätigkeit war mehr ein Art bezahltes Hobby, die Einnahmen deckten gerade mal die Miete für die Praxis. Nach Heinrichs Eröffnung kommt das böse Erwachen. Erst glaubt sie an einen blöden Scherz, dann daran, dass er es sich noch mal überlegt – und kurzzeitig sieht es auch wirklich so aus. Aber nicht mit ihr! Berti wächst über sich hinaus und hält sich endlich mal an die Ratschläge, die sie sonst ihren Kund(in)en gibt: „Wenn sie nichts tun, haben sie bereits verloren.“ (S. 142)

Ich habe mich selten so über die Rache einer betrogenen Ehefrau an ihrem Mann amüsiert, wie bei diesem Buch. Alexandra Holenstein schreibt sehr erfrischend, rasant, und mit einer ordentlichen Portion Situationskomik.
Alle Protagonisten (über die ich hier nicht zu viel verraten möchte) sind sehr treffend ausgearbeitet. Meine Lieblingsnebendarstellerin ist dabei Bertis Dauerkundin Rosa. Am meisten gewundert habe ich mich über Heinrichs Tochter Juliane, die sehr lange gebraucht hat, um hinter dessen Fassade zu schauen. Dafür hätte ich sie mehrfach gern mal ordentlich durchgeschüttelt.
„Das Heinrich-Problem“ ist von Beginn an tolles Kopfkino und ich kann es mir sehr gut verfilmt vorstellen.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.02.2019
Naumann, Kati

Was uns erinnern lässt


ausgezeichnet

73 Jahre hat Familie Dressel im Hotel Waldeshöh im Dressels Forst gewohnt. Das kleine Hotel mitten im Wald in der Nähe des Rennsteiges beherbergte zuerst gutbetuchte Kurgäste und bot im 2. WK Frankfurter Schülern einen sicheren Unterschlupf. Nach 1945 durften nur noch die Dressels dort wohnen. Das Haus lag jetzt in einer militärischen Sperrzone. Aber jede Woche putzten die Frauen der Familie die Gästezimmer in der Hoffnung, dass bald wieder Wanderer oder FDGB-Urlauber zu ihnen kommen. 32 Jahre lang. Bis 1977.

Als Milla 2017 auf dem Gebiet der ehemaligen innerdeutschen Grenze auf der Suche nach einem Lost Place (verlassenen Ort) eine unter Schutt begrabene Falltür entdeckt, kann sie nicht widerstehen und öffnet diese. Sie ist überrascht, als sie einen komplett eingerichteten Keller entdeckt und den Hinweis, dass er früher zum Hotel Waldeshöh gehörte. Sie findet u.a. Schulhefte von Andreas und Christine Dressel, die letzten sind auf 1977 datiert. Was ist damals passiert? Milla ist von dieser Frage und dem verwunschen wirkenden Ort so fasziniert, dass sie Christine ausfindig macht und von ihrem Fund erzählt. Aber Christine will den Ort nicht sehen: „Ich kann dort nicht mehr hin. Es ist noch in meinem Kopf, so wie es davor war. Und das will ich nicht ändern.“ (S. 85)

Abwechselnd erzählt Kati Naumann die Geschichte der Dressels von 1945 bis 1977 und Millas Bestreben, ihnen nachträglich zu Gerechtigkeit zu verhelfen. Denn diese versuchen seit der Wende erfolglos, Dressels Forst zurückzubekommen. Obwohl Milla und Christine sehr verschieden sind – immerhin trennt sie eine ganze Generation und eine unterschiedliche Vergangenheit – verstehen sie sich gut.
Milla fühlt sich verloren, seit der Vater ihres Sohnes sie verließ. Damals fing sie an, Lost Places zu suchen. An ihnen fühlt sie, dass sie nicht die Einzige ist, die verlassen wurde. Außerdem sie trennt sie sich seither regelmäßig von Dingen, die sie nicht mehr braucht – auch von unliebsamen Erinnerungen.
Christine hingegen hat ein ganzes Zimmer voller Unterlagen der Familie, die bis 1904 zurückreichen. Ein Zimmer voller Andenken. „Ich glaub, ich könnte mit all diesen Erinnerungen nicht leben.“ „Und ich vermutlich nicht ohne sie.“ (S. 227)
Durch das gemeinsame Aufarbeiten der Familiengeschichte ändert sich ihre jeweilige Sicht auf das Leben und bringt ein lang gehütetes Geheimnis ans Licht.

Da ich selber in der DDR aufgewachsen bin, war ich sehr neugierig auf das Buch. Mir war bis jetzt nicht wirklich bewusst, dass die innerdeutsche Grenze am Rennsteig verlief und jahrzehntelang ein recht großer Teil militärisches Sperrgebiet war.

Von Beginn an entwickelt das Buch einen unglaublichen Sog. Kati Naumann schreibt sehr komplex und verwendet eine dichte Erzählsprache.
Ich war fasziniert von der Familiengeschichte, wie die Dressels all die Jahre allein da oben im Wald ausharren und hoffen, obwohl sie immer größeren Repressalien ausgesetzt werden. Am Anfang dürfen sie noch Besuch von Freunden bekommen, bald brauchen sie selbst einen Passierschein, um das Gelände zu betreten oder zu verlassen. Ihnen wird das Telefon abgestellt, der Krankenwagen darf nicht mehr zu ihnen hochfahren, die Post müssen sie sich 8 km entfernt im nächsten Ort abholen. Sie stehen unter der dauernden Beobachtung der Grenzsoldaten. Auf ihren jahrzehntealten Wegen werden Stolperdrähte gespannt, damit sie nur den Hauptweg benutzen. Sie hören nachts immer wieder Schüsse, hochgehende Mienen, Schreie – und wissen nie, ob es ein Reh erwischt hat oder einen Republikflüchtling. „Du kannst Niemanden halten, der nicht bleiben will. Nicht mit Liebe und auch nicht mit Stacheldraht und Tretminen.“ (S. 343)
Ich glaube nicht, dass ich das ausgehalten hätte.
Aber sie lieben ihren Wald. Dressels Forst ist ihre Heimat, ihre Wurzel. Sie leben sehr naturverbunden, halten zusammen und hoffen, dass sie das Waldeshöh wieder als Hotel betreiben können. Um diese Hoffnung und den Zusammenhalt habe ich sie beneidet.

Bewertung vom 21.02.2019
Stolzenburg, Silvia

Die Salbenmacherin und der Engel des Todes / Die Salbenmacherin Bd.4


ausgezeichnet

„Die Salbenmacherin und der Engel des Todes“ ist bereits der 4. Teil der historischen Krimireihe um Olivera und spielt im mittelalterlichen Nürnberg. Ich würde empfehlen, die Bücher der Reihe nach zu lesen, weil die sich Handlung und Personen immer weiterentwickeln.

Olivera ist eine starke, gebildete Frau und sehr hilfsbereite Frau. So behandelt sie auch Patienten, die sie nicht bezahlen können. Leider muss sie immer noch gegen die Vorurteile und Missgunst ihrer Neider und Feinde kämpfen. Im letzten Band „Die Salbenmacherin und die Hure“ hatte sich vor allem der Stadtmedicus auf Olivera eingeschossen. Er verteufelt sie und ihre Arzneimittel bzw. Behandlungsmethoden immer noch und versucht ihr zu schaden, wo es nur geht.
Zum Glück hat Olivera auch schon neue Freunde gefunden, wie z.B. den Henker Jacob, die Hebamme Brida und die frühere Hure Gerlin, welche jetzt im Spital arbeitet und zu Olivera aufsieht.
Der ehemalige Straßenjunge Jona ist inzwischen Götz’ Lehrjunge in der Apotheke. Leider trauen Götz und sein Knecht Mathes ihm nicht. Sie glauben, dass er in Oliveras Offizien eingebrochen ist um Arzneimittel zu stehlen und zu verkaufen. Dabei hat sich Jona nichts zu Schulden kommen lassen, sondern auf einen Neuanfang gehofft. Das Misstrauen der Männer setzt ihm zu: „Gott lässt nicht zu, dass es Dieben wie uns gutgeht.“ (S. 156)

Ich bin immer wieder fasziniert, was für Medikamente und Arzneimittel damals in welcher Form angewendet wurden bzw. was man alles für die Heilkunst benutzte.

Sehr interessant sind auch die Schilderungen, wie im Mittelalter Verbrechen aufgeklärt wurden. Ermittlungen, so wie wir sie kennen, gab es kaum. Stattdessen setzte die Gerichtsbarkeit auf peinliche Befragungen. Diese werden genau so facettenreich geschildert wie die damaligen Lebensumstände.

Silvia Stolzenburg erzählt die Geschichte wieder extrem spannend und temporeich. Man mag das Buch eigentlich kaum aus der Hand legen, weil man um Olivera bangt und mit ihr mit mitfiebert. Leider war das Buch viel zu schnell ausgelesen und ich hoffe auf eine baldige Fortsetzung.

Bewertung vom 19.02.2019
Glaesener, Helga

Das Seehospital


ausgezeichnet

Frida studiert 1920 gegen den Willen ihrer Familie in Hamburg Medizin. Ihr Großvater, das Familienoberhaupt, hat ihr deswegen sogar den Geldhahn zugedreht. Als er stirbt fährt Frida zur Beerdigung nach Hause nach Amrum – obwohl sie die Enge, Einschränkungen und Konventionen auf der Insel hasst. Eigentlich will sie schnell zurück nach Hamburg, aber dann erklären ihre Mutter und ihr Stiefvater, dass das Erbe ihres Großvater viel kleiner ausfällt als erwartet – sie müssten das Inselhospital schließen, welches ihr Großvater für lungenkranke Waisenkinder errichtet hat. Das wollen Frida und ihre Schwestern Louise und Emily vermeiden, denn in Hamburg herrschen schlimme Zustände, die Kinder kamen halb verhungert aus dem Waisenhaus bei ihnen an. Da das Personal bereits entlassen wurde, kümmern sich die drei jungen Frauen um die Kinder, bis ihnen hoffentlich eine bessere Lösung einfällt. Frida pausiert sogar mit ihrem Studium.

Frida, Louise und Emily sind sehr verschieden. Frida wirkt oft kühl und diszipliniert, aber sie brennt für die Medizin und will unbedingt Ärztin werden. Alles Neue, wie z.B. die Röntgenuntersuchungen, fasziniert sie. Sie will den Menschen helfen und scheut sich nicht, auch andere um Hilfe zu bitten.
Die kecke Louise hat noch keinen Plan für ihr Leben, liebt aber Amrum und will auf jeden Fall hierbleiben. „... spürst Du nicht auch die Freiheit? Ein Blick übers Meer und Du kommst zur Ruhe.“ (S. 68) Sie träumt von einer Ehe aus Liebe. Als ihre Mutter ihr vorschlägt, einen 50jährigen Jagdfreund ihres Vaters zu heiraten, verschwindet sie. Hat sie sich etwas angetan?
Emily träumt vom eigenen Fotoatelier in Hamburg oder Berlin, ordnet sich aber dem Willen ihrer Mutter und ihres Stiefvaters unter – schließlich geht nichts über die Familie. Nicht einmal das eigene Glück? „Einer muss doch dafür sorgen, dass alles weiterläuft.“ (S. 253)
Christian, der Halbbruder der Schwestern, ist erst 13, sehr verzogen und wird permanent bevorzugt. Er war mir extrem unsympathisch, weil er eine widernatürliche Freude daran hatte, hilflose Tiere und schwächere bzw. kleinere Kinder zu quälen. Ihm hätte ich mehrfach gern „den Hosenboden stramm gezogen“.
Luises Mutter ordnet sich ihrem Mann komplett unter – was er sagt ist Gesetz und wird nicht hinterfragt. Auch das Wohl ihrer Töchter scheint ihr leider nicht wirklich am Herzen zu liegen. Hauptsache, der schöne Schein wird gewahrt. Ich konnte ihre Beweggründe nicht immer verstehen, aber sie war als Figur trotzdem in sich stimmig.
Rudolf, der Stiefvater, tut nach außen so, als würde ihm die Familie über alles gehen, dabei will er nur nicht seinen Lebensstil aufrechterhalten. Er war mittellos und ist erst durch die Hochzeit zu Geld gekommen ...

Das Setting ist in sich stimmig. Die Autorin beschreibt die gegensätzlichen Lebensweisen auf der rauen Insel und der vom Krieg in Mitleidenschaft gezogenen Großstadt, von arm und reich sehr bildlich. Sie geht auch auf die Zustände in den Hospitälern und Waisenhäusern ein, die zum Teil erschreckenden Behandlungs- und Forschungsmethoden, das Elend in den Gängevierteln und die sich verbreitenden Heroinsucht so kurz nach dem 1. WK.

„Das Seehospital“ hat mir sehr gut gefallen. Helga Glaesener beweist wieder einmal, dass sie eine ganz große Könnerin ihres Fachs ist. Ihr Buch hebt sich positiv von der Masse der „Insel-Arzt-Romane“ ab. Sie verwendet keine stereotypen Charaktere, die Personen und deren Handlungen passen genau in die damalige Zeit. Sie erspart ihren Lesern vorhersehbare Liebesgeschichten und unnötige Happy Ends. Es muss nicht alles gut ausgehen, das tut es im wirklichen Leben doch auch nicht.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.02.2019
Wilkes, Johannes

Der Fall Fontane


ausgezeichnet

Karl-Dieter hat seinen Lebensgefährten Mütze endlich zu einer Fahrradtour auf Fontanes Spuren durch die Mark Brandenburg überreden können, allerdings endet die Tour schon am ersten Tag auf dem Ribbecker Friedhof unterm Birnbaum. Dort finden sie eine männliche Leiche mit einer Axt im Schädel. Mütze ist Hauptkommissar und bietet dem zuständigen Polizisten Treibel sofort Amtshilfe an, denn er ermittelt lieber, als dass er Fahrrad fährt. Kurz darauf finden sie auf dem Handy des Toten das Foto eines geköpften Wolfes, in Neuruppin wird das Fontane-Denkmal mit roter Farbe geschändet und ein Mann im Fontanekostüm kreuzt mehrfach ihren Weg ...

Diverse Verdächtige sind schnell ermittelt. Sowohl die Frau des Toten, die nicht wirklich trauert, als auch dessen Jagdfreunde verhalten sich merkwürdig. Musste er sterben, weil er nach dem Wolfsmörder suchte? War er seiner Ehefrau im Weg? Oder hängt es gar mit Fontanes Geheimnis zusammen, das in der Forschung lange totgeschwiegen wurde?!

Mütze und Karl-Dieter sind ein liebenswertes Pärchen. Ich finde es gut, dass der Autor hier ganz ohne die üblichen Schwulenklischees auskommt. Während sich der Kommissar in die Ermittlungsarbeit stürzt, genießt sein Freund weiter den geplanten Urlaub. Dass er dabei einige Leute aus dem Umkreis des Toten kennenlernt, die zum Teil auch noch in den Fall involviert sind und ihm (un)bewusst wichtige Hinweise geben, ärgert Mütze besonders. Aber Kurt-Dieter hat eben etwas Sympathisches an sich und schließt schnell neue Freundschaften. Während Mütze ein eher praktischer Typ ist, neigt Karl-Dieter zum Philosophieren und kommt damit auch der Lösung oft ziemlich nahe.

2019 jährt sich Fontanes Geburtstag zum 200sten Mal. Der Krimi kommt also genau zur richtigen Zeit. Außerdem man merkt ihm an, dass sich der Autor auf diesem Gebiet und auch in der Mark Brandenburg sehr gut auskennt. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass es sich eher um einen Cosy-Krimi handelt, der von den Figuren und dem Setting lebt und nicht von einem super gruseligen / spannenden Fall.

Ich kenne die Gegend um Rheinsberg, Neuruppin und den Ruppiger See vom Wasserwandern und bekam beim Lesen sofort wieder Lust auf eine Reise in diese Gegend. Wer sich (bisher) nicht mit Fontane auskennt, erfährt im Zuge der Handlung und im Anhang viel Wissenswertes über sein Werk und sein Leben.

Bewertung vom 18.02.2019
Simon, Teresa

Die Fliedertochter


ausgezeichnet

Zwei Leben – Zwei Welten

1936 geht die aufstrebende Varieté-Sängerin Luzie von Berlin nach Wien. Eigentlich träumt sie von einer Karriere beim Film, aber die Halbjüdin fühlt sich nach dem Erstarken des Nationalsozialismus nicht mehr sicher. Ihr Großvater schenkt ihr zum Abschied ein Tagebuch. Diesem vertraut sie ihre Sorgen und Ängste an, ihr Heimweh und ihre Träume – und die Gefühle, die sie bald für die Freunde Bela und Richard hegt.
Luzie hat Glück und bekommt ein Engagement im „Theater an der Wien“. Dieses ist ein Sammelbecken für viele Künstler, die wie sie Nazi-Deutschland verlassen mussten. Dass sie Halbjüdin ist, hat bisher dank ihrer geschönten Biografie noch niemand herausbekommen – aber wie lange geht das noch gut? Und bringt sie damit nicht auch die, die sie decken in Gefahr?

Berlin 2018: Paulina wird von ihrer „Ersatzoma“ Antonia (kurz Toni) gebeten, an ihrer statt nach Wien zu fahren. Toni hat einen beunruhigenden Brief von einer Lena Brunner bekommen, deren Vater Peter Matusek ausgerechnet ihr etwas hinterlassen hat. Toni ist irritiert, weil sie noch nie von ihm gehört und auch sonst keine Verbindung nach Wien hat. Aber Peter hat eine klare Anweisung hinterlassen: Lotte Laurich, Berlin, Unbedingt suchen. Tochter Antonia Laurich, geboren 1943.“ (S. 41)

„Die Fliedertochter“ ist bereits der vierte Roman von Teresa Simon und hat mich wieder von Beginn an in seinen Bann gezogen.
Paulina ist eine interessante Frau, eine Künstlerin, die nicht viel von sich preisgibt. „Auf der Suche. Kunst hilft mir dabei, egal, in welcher Form. Sie zu erleben, ist für mich wie Atmen, ein tiefes Inhalieren, so lange, bis ich satt bin.“ (S. 26) Ihre Reise nach Wien ist eigentlich nur als kurze Auszeit gedacht, in der sie u.a. ihre Beziehung zu ihrem On-/Off-Freund überdenken will. Aber als sie beginnt, Luzies Tagebuch zu lesen, rücken die Rückreise, ihre eigenen Sorgen und Probleme bald in den Hintergrund. Vor allem als sie feststellt, dass sie und Luzie eine Gemeinsamkeit haben – eine Schneekugel vom Wiener Prater aus den Jahren 1936 bzw. 1938. „Geheimnisse haben ihren ganz eigenen Reiz, findest Du nicht?“ (S. 103)
Genau wie Paulina hat auch mich Luzies Geschichte sofort gepackt. Ich habe mit ihr gelitten, mich um ihre Großeltern gesorgt, die sie nur ungern zurückgelassen hat. Die Schuldgefühle deswegen überrollen sie an manchen Tagen. Dann kommt der „Beitritt“ Österreichs zu Deutschland – Luzies Angst um ihre gefälschte Identität flackert erneut auf, sie zieht sich zurück. Aber sie beweist auch immer wieder Mut – zum Teil leider ohne vorher richtig darüber nachzudenken, was ihr dann beinahe zum Verhängnis wird.

Ich habe schon viele Bücher über die Nazis und den 2. WK gelesen (auch Teresa Simon thematisiert diese Zeit in allen ihren Büchern), trotzdem war ich wieder erschüttert, was die Juden und anderen „Asozialen“ – Homosexuelle, Behinderte, Zigeuner etc. – erdulden mussten. Die sogenannten „Herrenmenschen“ herrschen nicht nur durch brutale Gewalt, Teresa Simon erzählt auch von Euthanasie und der Zwangssterilisation einer jungen Frau – an dieser Stelle ist mir fast das Buch aus der Hand gefallen und auch jetzt bekomme ich bei der Erinnerung daran sofort wieder eine Gänsehaut.

Doch auch die Fans von Liebesgeschichten kommen bei „Der Fliedertochter“ auf ihre Kosten. Neben der Schneekugel gibt es nämlich noch eine weitere Parallele zwischen Luzie und Paulina – beide fühlen sich zu je 2 Männern hingezogen und müssen sich entscheiden.
Und nicht zuletzt versteht es die Autorin, sehr viel Wiener Flair und Schmäh in beiden Strängen ihrer Geschichte zu transportieren. Ich war vor 30 Jahren schon mal in Wien und möchte nach dem Buch jetzt unbedingt mal wieder hin.

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