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Igelmanu
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Insgesamt 1033 Bewertungen
Bewertung vom 30.12.2014
Zweig, Stefan

Schachnovelle


ausgezeichnet

Ich habe mal wieder eine Schullektüre meiner Kinder mitgelesen. Die Schachnovelle ist zu meiner eigenen Schulzeit an mir vorbeigegangen. Heute habe ich es mit großem Interesse gelesen.

Der Ich-Erzähler berichtet, wie auf einem Passagierdampfer von New York nach Buenos Aires drei sehr unterschiedliche Charaktere aufeinandertreffen: Da ist zum einen der amtierende Schachweltmeister, ein aus einer unteren Gesellschaftsschicht stammender junger Mann, der sich nur dadurch auszeichnet, dass er mit einer unglaublichen Präzision und geradezu roboterartig Schach zu spielen vermag. Der zweite Charakter ist ein reichlich arroganter Öl-Millionär und der dritte ist ein österreichischer Emigrant namens Dr. B.

Dieser Dr. B. hat Furchtbares erlebt. Von der Gestapo wurde er einer Isolationsfolter unterzogen, in deren Verlauf er viele imaginäre Schachpartien durchspielte. Das tat er in der Hoffnung, durch die geistige Betätigung nicht dem Wahnsinn zu verfallen. Tatsächlich erleidet er eine Art Persönlichkeitsspaltung, die zu einem heftigen Nervenfieber führt. Aufgrund dessen wird er aus der Haft entlassen und des Landes verwiesen. Von einem Arzt wurde er dringend gewarnt, sich auf kein Schachspiel mehr einzulassen…

Erwartet hatte ich aufgrund des Titels, dass ein Schachspiel im Mittelpunkt der Geschichte steht. Tatsächlich geht es aber wirklich um ganz andere Dinge.

Da sind – natürlich wieder einmal – die Schrecken der Nazi-Zeit. Im aktuellen Fall geht es um die Themen Isolationsfolter und Verhöre. Beides wird sehr eindringlich beschrieben und ich konnte sehr intensiv mitfühlen, wie sich Dr. B. in seiner Gefangenschaft fühlen musste! Wie verzweifelt er sich anfangs an die Beschäftigung mit den imaginären Schachpartien klammert. Wie ihm das zunächst hilft, ihm Hoffnung verleiht! Und dann der Wandel, die sich anbahnende Persönlichkeitsspaltung!

Aber auch die anderen Charaktere sind interessant und bilden starke Kontraste zueinander. Sie verbindet eigentlich nur das Schachspiel, doch aus völlig verschiedenen Gründen. Für den Weltmeister ist es aufgrund seiner Herkunft die einzige Möglichkeit, zu Ansehen zu kommen. Und zudem auch das einzige Gebiet, auf dem er wirklich gut ist. Der Öl-Millionär sieht im Schachspiel nur einen Zeitvertreib, den er möglichst gewinnen will, weil verlieren nicht zu seinem Wortschatz gehört. Und für Dr. B. war das Schachspiel zunächst Hilfe und wird später zum Fluch.

Ein tolles Buch! Und obwohl die Personen natürlich viel Schach spielen, muss man das Spiel nicht beherrschen, um der Handlung zu folgen. Wenn ich Wikipedia Glauben schenken darf, muss Stefan Zweig selbst ein lausiger Schachspieler gewesen sein.

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Bewertung vom 27.12.2014
Fitzek, Sebastian

Passagier 23


ausgezeichnet

„Schwartz wusste, es war dieses an und für sich unlösbare Problem, weshalb er überhaupt für diesen Einsatz ausgewählt worden war. Seit dem Tod seiner Familie galt er in Polizeikreisen als tickende Zeitbombe. Ein verdeckter Ermittler, der mit achtunddreißig Jahren in seinem Beruf stramm dem Rentenalter entgegenmarschierte und dem das Wichtigste fehlte, was ihn und sein Team im Notfall am Leben hielt: das Angstempfinden.“

Martin Schwartz, Polizeipsychologe, hat vor fünf Jahren seine Frau und seinen Sohn verloren – bei einem Urlaub auf einem Kreuzfahrtschiff, der „Sultan of the sea“ kamen beide ums Leben. Jedenfalls muss davon ausgegangen werden, denn sie verschwanden spurlos. Die näheren Umstände konnten nie völlig geklärt werden – auch Martin musste irgendwann seine Nachforschungen aufgeben. Seitdem kann er dem Leben nicht mehr viel abgewinnen und lässt sich auf die wildesten Himmelfahrtskommandos ein.
Sein Vorsatz, nie mehr einen Fuß auf ein Kreuzfahrtschiff zu setzen, kommt jedoch ins Wanken, als er einen eigenartigen Anruf erhält: Eine unbekannte Frau erklärt ihm, er müsse sofort an Bord der „Sultan of the sea“ kommen, es gäbe neue Hinweise zum Verschwinden seiner Familie. Ein kleines Mädchen, das acht Wochen zuvor ebenfalls gemeinsam mit seiner Mutter verschwand und für tot gehalten wurde, ist plötzlich wieder aufgetaucht. Eines Tages stand sie in einem Gang der „Sultan“, auf dem Arm den Teddy von Martins Sohn…

Ich hatte mich sehr auf diesen neuen Thriller von Fitzek gefreut – und ich wurde nicht enttäuscht. Wie erwartet bzw. erhofft konstruiert Fitzek ein Szenario, das Spannung, Überraschungen, interessante Fakten und faszinierende psychologische Ansätze enthält.
Noch nie zuvor hatte ich darüber nachgedacht, dass ein Kreuzfahrtschiff der ideale Ort für einen Selbstmord sein könnte. Und noch nie hatte ich davon gehört, dass es tatsächlich nicht selten ist, dass Passagiere während der Reise „verschwinden“. Völlig überrascht schlug ich bei Google nach und stellte fest, dass Fitzek mal wieder ein interessantes Thema ausgegraben hat. In seinem Nachwort geht er darauf noch detailliert ein (sollte daher mitgelesen werden – lohnt sich!) Sicher nicht zu Unrecht mutmaßt er:
„Wahrscheinlich habe ich es mir mit diesem Thriller nun auf ewig mit den etablierten Reedereien versaut. Zu einer Autorenlesung auf eine Kreuzfahrt eingeladen zu werden ist nach »Passagier 23« ungefähr so wahrscheinlich wie der große »Titanic«-Filmabend im Bordkino.“

Zu dieser ungewöhnlichen Ausgangshandlung gesellt sich ein nun wirklich total kaputter Ermittler. Kopfschüttelnd weiß der Leser schon sehr bald, dass diesem Mann wirklich alles zuzutrauen ist. Aber auch abseits von selbstzerstörerischen Einsätzen sind seine Fähigkeiten gefragt, schließlich ist er ein erfahrener Psychologe und das wieder aufgetauchte kleine Mädchen macht einen schwer traumatisierten Eindruck. Martin muss versuchen, einen Zugang zu ihr zu finden, doch…
„In solchen Fällen waren Psychologen und Ärzte wie Techniker in Tschernobyl oder Fukushima. Sie konnten das Problem nie wieder vollständig aus der Welt schaffen, höchstens die Folgen der Katastrophe mildern.“
Was Auflösung und Täter angeht, hat Fitzek sich mal wieder interessante Dinge einfallen lassen. Gekonnt lockt er den Leser auf falsche Fährten - ich hatte wieder großen Spaß daran, mich von ihm überraschen zu lassen. Gefreut hab ich mich auch über das Auftauchen eines Charakters aus „Amokspiel“. Wer dieses Buch nicht gelesen hat, muss sich aber nicht sorgen – es gibt keinerlei Verständnisprobleme deshalb. Höchstens bekommt man Lust, anschließend auch noch „Amokspiel“ zu lesen ;-)

Fazit: Hochspannend und mal wieder ein faszinierender Trip in menschliche Abgründe.

5 von 9 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.12.2014

Früher war mehr Lametta


weniger gut

„Ein Schwein von solcher Größe, mit einem so milden Blick und einer derart weichen Anfaßfläche vermittelte mehr Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen, als die Prediger aller Mitternachtsmessen das würden schaffen können. Nehmt das geschundene, verkitschte, blondgelockte Jesuskind aus den Krippen und legt ein lebensgroßes Schwein mit rosa Fell und flehenden Glasäuglein unter den Weihnachtsbaum, und ihr werdet ein Wunder erleben!“

Das gewählte Zitat stammt aus der Geschichte „Erika“ von Elke Heidenreich – der in meinen Augen besten Geschichte in diesem Buch.
„Hinterhältige Weihnachtsgeschichten“ verspricht das Buch. Ich habe mir davon Geschichten versprochen, die abseits der normalen „alles-schön-fromm-und-fröhlich“ Geschichten sind, ich hatte Ironie, Satire und lustige, unterhaltsame Geschichten erwartet. In der Summe war das leider nicht so.

Das Buch bietet insgesamt 17 Geschichten und 8 Gedichte von folgenden Schriftstellern: Doris Dörrie, John Irving, Erich Kästner, Guy de Maupassant, Martin Suter, Anton Cechov, Otto Jägersberg, Elke Heidenreich, Hans Christian Andersen, Joachim Ringelnatz, Ingrid Noll, Heinrich Böll, Tomi Ungerer, Saki, Andrej Kurkow, Loriot, Jason Starr, Kurt Tucholsky, Patricia Highsmith, Christian Morgenstern, Muriel Spark, Urs Widmer, Philippe Djian, Wilhelm Busch und David Sedaris. Die Länge der Geschichten variiert zwischen 4 Seiten bei der kürzesten und 45 Seiten bei der längsten Geschichte.

Ich habe mal wieder Punkte für die einzelnen Geschichten vergeben. Dabei komme ich auf folgendes Ergebnis:
- 4 Punkte konnte ich für zwei Geschichten vergeben
- 3 Punkte gab ich für sieben Geschichten
- 2 Punkte für ebenfalls sieben Geschichten
- 1 Punkt für eine Geschichte
Bei den Gedichten ergab meine Wertung
- 4 Punkte für ein Gedicht
- 3 Punkte für ein weiteres Gedicht
- 2 Punkte für vier Gedichte
- 1 Punkt für zwei Gedichte
Das macht einen Schnitt von leider nur 2 Punkten.

Neben „Erika“ gefiel mir „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ von Heinrich Böll sehr gut, bei den Gedichten war der klare Spitzenreiter Loriots Adventsgedicht.

Jetzt muss man allerdings sagen, dass diese drei genannten vielen Lesern bekannt sind und auch durchaus schon mal Eingang finden in ein Buch mit „normalen“ Weihnachtsgeschichten. Das gilt in gleichem Maße für „Der Tannenbaum“ von Hans Christian Andersen. Auch mir waren sie schon bekannt, brachten also nichts Neues.
„Zu Weihnachten tickt eine Uhr“ von Patricia Highsmith habe ich noch als sehr unterhaltsam empfunden, allerdings zeigte sich da schon ein Problem, das leider auf nicht wenige Kurzgeschichten zutrifft: Spannung und eine interessante Handlung wird aufgebaut, man bekommt so richtig Spaß an der Geschichte und dann ist sie plötzlich zu Ende, mit einem viel zu abrupten Schluss, der mich manchmal sogar verärgert, weil er das Niveau der übrigen Geschichte nicht halten kann.
Bei „Das Krippenspiel“ von John Irving hatte ich ein ganz anderes Problem: Mir gefiel die Geschichte und der Schreibstil, aber leider ist diese Geschichte offenbar ein Kapitel aus einem Buch – und ich konnte einiges nicht nachvollziehen. Vor allem konnte ich die scheinbar wichtige Besonderheit des Protagonisten nicht erkennen – auch das hat mich geärgert. Wenn mir hier jemand erzählen könnte, was bitte das Besondere an Owen Meany ist, würde ich mich sehr freuen.

Als Fazit kann ich diese Sammlung von Geschichten leider nicht empfehlen. Stattdessen empfehle ich „Erika“ als einzelnes Buch. Das gibt es nämlich auch und man kann dort zudem noch Bilder von besagtem wunderbarem Schwein bewundern. Und wer Loriots Gedicht nicht kennt, greift am besten auf einen Sammelband von ihm selbst zurück.

Bewertung vom 22.12.2014
Di Fulvio, Luca

Der Junge, der Träume schenkte


ausgezeichnet

New York, 1909. Aus einem transatlantischen Frachter steigt eine junge Frau mit ihrem Sohn Natale. Sie haben ihre süditalienische Heimat verlassen, um in Amerika ihren Traum von einem besseren Leben zu verwirklichen. Doch ihre Hoffnung weicht schon bald tiefster Ernüchterung, denn in der von Armut, Elend und Kriminalität beherrschten Lower East Side gelten die brutalen Gesetze der Gangs. Nur wer über ausreichend Mut und Kraft verfügt, kann sich hier behaupten. So wie der junge Natale, dem überdies ein besonderes Charisma zu eigen ist, mit dem er die Menschen zu verzaubern vermag… (Klappentext)

Alles ist möglich. Welches Leben ist schon komplett vorherbestimmt?

Aus dem jungen Italiener Natale ist der Amerikaner Christmas geworden. Und der geht entschlossen seinen Weg, verfolgt seine Ziele. Unbeirrt von der denkbar schlechten Ausgangssituation, die er hat, nutzt er seine ganz besondere Fähigkeit, nämlich die, andere Menschen für sich einzunehmen. Er erzählt jedem seine Geschichten und gelangt so Sympathien, selbst bei Gangsterbossen. So „arbeitet“ er sich hoch, vom kleinen Gelegenheitsgauner über die Straßengangs von New York – hin zu seinem großen Traum: Seine Geschichten einem richtig großen Publikum zu erzählen, nämlich über das Radio! Und dadurch auch seine große Liebe wiederzufinden…

Die junge Jüdin Ruth kommt aus gutem Hause. Man ist wohlhabend, bewegt sich in angesehenen Kreisen. Ihr Leben sollte doch eigentlich problemlos verlaufen. Doch Ruth wird das Opfer eines brutalen Überfalls, wodurch sie langfristig traumatisiert wird…

Cetta, Christmas Mutter, hatte von einem besseren Leben in Amerika geträumt. Aber als sie 14jährig mit ihrem Baby alleine in New York steht, bleibt ihr nur der Weg ins Bordell, um sich und den Jungen durchzubringen. Kann es für sie jemals ein Happy End geben?

Noch weitere Charaktere begleiten wir durch das Buch. Nicht wenige davon wuchsen mir richtig ans Herz. Den meisten von ihnen konnte Christmas durch seine Geschichten und seine Beharrlichkeit Mut machen, auch ihre eigenen Wege und Träume weiter zu verfolgen.

Luca di Fulvio zeichnet ein großartiges Bild des New Yorks der 1920er Jahre. Auf der einen Seite Reichtum, auf der anderen Seite Armut, käuflicher Sex, unglaubliche Brutalität und Rassenhass. An dieser Stelle ein kurzer Hinweis: Wer, vielleicht aufgrund des „traumhaften“ Titels annimmt, dieses Buch wäre „nur schön“, könnte wegen der teilweise sehr heftigen Brutalität je nach Gemüt irritiert bis schockiert sein. Also bitte nicht vergessen, in welcher Zeit und an welchem Ort die Geschichte spielt. Ich bin jedenfalls unheimlich froh, dass ich mich auf die Diamond Dogs eingelassen habe.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.12.2014
Simonson, Helen

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft


ausgezeichnet

Seit dem Tod seiner Frau sucht Ernest Pettigrew die Ruhe und hält sich an das, was ihm im Leben schon immer weitergeholfen hat: Höflichkeit, Pflichterfüllung und eine richtig zubereitete Tasse Tee. Seinem aufgeblasenen Sohn, der ihm fremd geworden ist und für dessen Verhalten er sich ständig schämt, geht er, wo er nur kann, aus dem Weg. Und auch von der aufgeregten Fürsorge seiner Nachbarinnen hält er sich fern. Früher war alles besser, seufzt Ernest sich daher in den Bart. Jeder kannte seinen Platz und stellte die Ordnung nicht in Frage. Ausgerechnet die beherzte Jasmina, Besitzerin eines Lebensmittelladens, bringt die starren Ansichten des Eigenbrötlers ins Wanken. Als die beiden sich näherkommen, löst diese ungewöhnliche Leidenschaft großes Unverständnis in ihrer Umgebung aus. (Klappentext)

Major Ernest Pettigrew hat es nicht leicht. Zuerst stirbt seine Frau und nun auch noch sein Bruder. Neben dem Kummer muss er sich zudem mit einigen familiären Konflikten auseinandersetzen. Seine Angehörigen haben nämlich ziemlich genaue Vorstellungen davon, wie sich ein Witwer seines Alters zu verhalten habe…

Ein ähnliches Schicksal teilt Mrs. Ali. Auch sie ist Witwe. Seit dem Tod ihres Mannes bemüht sie sich alleine, den kleinen Lebensmittelladen des Ortes – und damit auch sich selbst und ihren Lebensunterhalt – über die Runden zu bringen. Und auch ihre Familie ist der Ansicht, dass ihr Platz nun ganz woanders sein sollte…

Als die beiden merken, dass sie nicht nur die Liebe zu einer guten Tasse Tee und guten Büchern miteinander teilen, wird es kompliziert. Wenn man schon den größten Teil seines Lebens hinter sich gebracht hat, schleppt man so einiges an emotionalem Ballast mit sich rum. Und dann die Familie! Beide möchten ihren Angehörigen nicht vor den Kopf stoßen. Schließlich sind sie beide auch konservativ – und bestimmte Dinge waren halt schon immer so. Und andere Dinge gehören sich einfach nicht…

Aber andererseits sind da auch die eigenen Gefühle. Wünsche und Träume, die man noch hat. Und auch eine Portion Trotz: Man will sich doch nicht sein eigenes Leben von den Kindern diktieren lassen!

Beide Charaktere gefielen mir großartig! Beide haben sie Ecken und Kanten, der Major sogar eine ganze Menge. Aber das macht sie so menschlich. Die Liebesgeschichte zwischen ihnen gehört zu einer der schönsten, die ich bisher gelesen habe. Und wenn die beiden zusammen „durchbrennen“, kann es kaum noch romantischer werden.

Aber dieses Buch kann viel mehr als nur Romantik. Es regt an zum Nachdenken:

Was erwartet man von älteren Menschen, gleich welchen Kulturkreises? Hat man nicht auch gewisse Vorstellungen, wie sie sich wohl verhalten sollten?

Wie oft wurden wohl schon die neuen Partner der Eltern von den erwachsenen Kindern abgelehnt?

Wie häufig erwarten erwachsene Kinder wie selbstverständlich von den Eltern, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen, um Babysitterdienste auszuüben?

Wie oft passiert das alles nicht mal böswillig, sondern aus der festen Überzeugung der jüngeren heraus, dass es bei älteren Menschen gar keine anderen Interessen mehr geben könnte?

Und nicht nur das Verhalten älteren Menschen gegenüber sollte überdacht werden. Mrs. Ali ist eine Pakistani und hat deswegen gegen reichlich Vorurteile zu kämpfen. Daher auch noch die Frage: Wie steht es mit dem Respekt gegenüber anderen Kulturen?

„Er erträumt sich das Leben, das er nicht führen kann?“ “Genau. Wir dagegen, wir können alles machen, und trotzdem behaupten wir, unsere Träume seien nicht mit dem ganz normalen Leben vereinbar, und weigern uns, sie zu leben. Und jetzt sagen Sie mir: Wer ist mehr zu bedauern?“ (S. 424/425)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.12.2014
Fröhling, Heike

Inselsommer


gut

Karin Brahms, eine Journalistin, will endlich ihren seit Jahren aufgeschobenen Traum verwirklichen: einen eigenen Roman schreiben. Mit ihrem verwitweten Vater und den beiden Söhnen Leon und Jonas fährt sie in den Sommerferien nach Borkum. Sie möchte Sonne und Strand genießen und endlich das Buch in Angriff nehmen, doch jedes Mal, wenn sie mit dem Roman beginnen will, kommt etwas dazwischen. Zuerst ist ihre Handtasche verschwunden – dann ihr Sohn. Ihre Wege führen sie immer wieder auf die Polizeistation, und da sitzt der Kriminalhauptkommissar Andreas Wegner, ein ziemlich attraktiver Mann. Doch Männer, so hat Karin sich geschworen, werden in ihrem Leben keinen Platz mehr haben. (Klappentext)

Erwartet hatte ich nach diesem Klappentext einen klassischen Liebesroman. Überraschenderweise stellte sich für mich die eigentliche Liebesgeschichte zwischen Karin und Andreas als eher nebensächlich heraus. Was aber keineswegs negativ zu bewerten ist!

In diesem Inselsommer geht es um viel mehr, als um einen Urlaubsflirt. Es geht um eine Frau, die gefangen ist in einem selbstgefertigten Netz aus viel zu hohen Erwartungen an sich und ihre Mitmenschen. Eine Frau, die sich nichts zutraut und anderen ebenfalls nicht.

Schon auf der Hinfahrt sind die Konflikte vorprogrammiert. Ein harmonischer und erholsamer Strandurlaub soll es sein, gemeinsam mit zwei halbwüchsigen Jungen, von denen der eine eigentlich schon aus dem Alter des gemeinsamen Verreisens raus ist und lieber mit einer Jugendgruppe unterwegs wäre und dem Vater, der eine völlig andere Lebensauffassung vertritt. Und parallel dazu will sie noch ihren Roman schreiben – ein Unternehmen, für das im Alltag nie Zeit blieb. Unschwer zu erahnen, dass in kurzer Zeit gewaltige Frustration eintritt. Zumal Karin mit einer Schreibblockade zu kämpfen hat, da sie auch hier viel zu viel von sich erwartet…

Ich muss gestehen, dass ich mich ein paar Mal ziemlich über die Protagonistin geärgert habe. Die Probleme, die sich im Zusammenleben mit Kindern und (alten) Eltern ergeben können, sind mir schon vertraut. Bei einigen Aktionen von ihr war ich fassungslos und dachte: Wie kann sie nur? Und wann fängt sie endlich an, sich der Realität zu stellen? Aber ein solches Gefühlschaos wie das, in dem Karin steckt, lässt sich nicht so leicht überwinden.

Sehr amüsant und für mich die absolute Lieblingsfigur: Der Vater. Früher war er Hippie, Friedensaktivist, Atomkraftgegner und noch immer ist er alles, nur nicht konventionell. Herrlich. Und ein wunderbarer Kontrast zu seiner gegen ihn völlig spießigen Tochter.

Alles in allem also eine durchaus anspruchsvolle Thematik, die sich in diesem Liebesroman versteckt. Ich finde nur, sie hätte mehr Umfang gebraucht, um sie eingehender zu behandeln. 234 Seiten in Großdruck sind da einfach etwas zu wenig.

Bewertung vom 21.12.2014
Weiler, Jan

Mein neues Leben als Mensch


sehr gut

Jan Weiler schreibt kurze Geschichten aus dem alltäglichen Leben. Die meisten Dinge, um die es geht, hat man schon mal erlebt oder zumindest davon gehört. In insgesamt 60 Kolumnen geht es diesmal unter anderem um folgende Themen:

Was schenkt man einem Esoteriker? Was ist das Belmondo-Phänomen oder das Obama-Komplott? Kann man sich gegen Spam-E-Mails wehren? Wie rettet man seinen Lieblingssessel vor dem Aussortiertwerden? Was tut man, wenn der 6jährige Sohn einen Vater-Sohn-Abend fordert… Inklusive Übernachtung im Zelt – im April? Und wie reagiert man, wenn die pubertierende Tochter in einen Vampir verliebt ist (Endkrasser Boy-Alarm)?

Natürlich ist auch Schwiegervater Antonio wieder mit von der Partie! Sobald er in einem Buch auftaucht, bin ich verloren. Diesmal begleiten wir ihn zum Minigolf, bei der Fußball „Wä-Emme“ und beim Angeln („Nur dä Fruhwurm fangte eine Fisch“). Er präsentiert sich als Osterhase oder Weihnachtshexe, gibt sichere Tipps fürs Lottospielen und regelt Konflikte mit Lehrern. („Du wirst jetzt aber nicht gleich sagen, du hättest ihr ein Angebot gemacht, das sie nicht ausschlagen kann oder so etwas.“ – „Io? No! Stupido! Habi Einsatz gemacht für Friede und Zusammenarbeit.“)

Ich habe bereits mehrere Bücher von Jan Weiler und lese sie gerne „mal so zwischendurch“. Auch bei diesem Buch habe ich mich sehr amüsiert. Der erste Band „Mein Leben als Mensch“ ist aber für mich noch eine Klasse besser.

Bewertung vom 21.12.2014
Kästner, Erich

Drei Männer im Schnee


ausgezeichnet

Geheimrat Tobler gehört einer Minderheit an. Er ist Millionär, sogar Multimillionär. Ihm gehören diverse Fabriken, Banken und Warenhäuser. Unter dem Namen „Schulze“ nimmt er an einem Preisausschreiben einer seiner Firmen teil und gewinnt tatsächlich den 2. Preis: Einen 10tägigen Winterurlaub in einem Nobelhotel. Zum Entsetzen seiner Familie will er seinen Gewinn antreten – allerdings nicht als reicher Mann, sondern als armer Schlucker Schulze. Akribisch bereitet er sich vor…
„In Toblers Arbeitszimmer sah es beängstigend aus. Neben den Neuanschaffungen lagen Gegenstände, die der Geheimrat auf dem Oberboden in staubigen Truhen und knarrenden Schränken entdeckt hatte. Ein Paar verrostete Schlittschuhe. Ein warmer Sweater, der aussah, als habe er die Staupe. Eine handgestrickte knallrote Pudelmütze. Ein altmodischer Flauschmantel, graukariert und mindestens aus der Zeit der Kreuzzüge. Eine braune Reisemütze. Ein Paar schwarzsamtene Ohrenklappen mit einem verschiebbaren Metallbügel. Ein Spankorb, der längst ausgedient hatte. Und ein Paar wollene Pulswärmer, die man seinerzeit dem Leutnant der Reserve in den Schützengraben geschickt hatte.“

Seine Familie ist ja schon einiges von ihm gewöhnt. Schließlich ist Tobler ein Mensch, der für Nudeln mit Rindfleisch jedes 3-Sterne-Menü stehen lässt. Was in seinem Kopf vor sich geht, ist den lieben Angehörigen daher völlig klar…
»Er will die Menschen studieren. Er will ihre Moral auf Herz und Nieren prüfen.«

Zur gleichen Zeit macht sich ein tatsächlicher armer Schlucker auf die Reise in dasselbe Nobelhotel. Ein junger Mann, seit Jahren arbeitslos, von seiner Mutter in den einzig vorhandenen „guten“ Anzug gesteckt – und der Gewinner des 1. Preises. Als jetzt noch Toblers Tochter heimlich den Hoteldirektor anruft und über die Anreise eines verkleideten Millionärs informiert, steht der Verwechslungskomödie nichts mehr im Wege…

Viele werden die Verfilmung zu diesem Buch kennen, das erstmals 1934 erschien. Ich mag sie auch, aber das Buch hat noch seinen ganz besonderen Reiz. Dieser liegt begründet in der Art und Weise, in der Kästner mit Worten umgehen konnte. Man fliegt durch den Text und nimmt - ganz nebenbei – ironische Spitzen mit…
„Wenn eine Frau gehorcht, darf sie sogar gebildet sein.“
…und herrliche Satire, als kluge Sätze getarnt…
„Echte Mißverständnisse vervielfältigen sich durch Zellteilung. Der Kern des Irrtums spaltet sich, und neue Mißverständnisse entstehen.“

Natürlich wirft man auch einen Blick in die Seele der Menschen. Wirklich Überraschendes kommt dabei nicht zutage, denn mal ehrlich: Wie oft beurteilt man einen Menschen nach seinem Aussehen? Wie normal ist es doch, ohnehin schon reichen Menschen jede mögliche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen und sie mit teuren Werbegeschenken zu überhäufen, die sich diese problemlos selbst kaufen könnten und im Grunde gar nicht wertzuschätzen wissen während arme Menschen zusehen müssen, wie sie ihre Grundbedürfnisse erfüllen können.
Im Grunde haben wir hier also ein ernsthaftes Thema, das jedoch von Kästner so leicht und humorvoll präsentiert wird, dass man sich beim Lesen einfach gut unterhalten fühlt. Und am Ende, nachdem man das Buch hochzufrieden zugeklappt hat, noch ein bisschen nachdenkt…

Ach ja, falls jemand die Geschichte noch gar nicht kennen sollte: Es ist keine Weihnachtsgeschichte, sie spielt lediglich in einem Skigebiet. Und auch, wenn sie schon ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel hat, würde sie heute sicher genauso ablaufen.

Fazit: Humorvoll, ironisch. Ein zeitloser Roman, der ein ernsthaftes Thema sehr unterhaltsam präsentiert.

Ein kleines Zitat möchte ich noch anbringen. Jeder Leser wird verstehen, warum:
»Ein kleines Kind ist er! Ich weiß nicht, woran es liegt. Im Grunde ist er doch ein gescheiter Mensch. Nicht? Und so nett und nobel. Aber plötzlich kriegt er den Rappel. Vielleicht liest er zu viel. Das soll sehr schädlich sein. Nun haben wir die Bescherung. Nun fährt er als armer Mann in die Alpen.«