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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 930 Bewertungen
Bewertung vom 21.03.2014
Selasi, Taiye

Diese Dinge geschehen nicht einfach so


gut

Quantität versus Qualität

Mit ihrem Debütroman legt Taiye Selasi ein Epos über eine neue Spezies von Weltbürgern vor, für die sie den Namen Afropolitans geprägt hat. Es sind dies junge, erfolgreiche Menschen mit afrikanischen Wurzeln, die über alle Erdteile verstreut als Eliten leben, oft aber den schwarzen Kontinent noch nie betreten haben. So erklärt sich die Aufmerksamkeit der Medien und des Publikums zum guten Teil auch mit dem unbekannten Sujet dieses kosmopolitischen Romans.

In einer gleich von Anbeginn an mitreißenden erzählerischen Wucht entwickelt die Autorin ihre Geschichte raffiniert um ein zentrales Ereignis herum, auf das sie immer wieder zurückkommt: den einsamen Tod des begnadeten Chirurgen Kweku, der am frühen Morgen im Garten seines Hauses in Ghana einem Herzinfarkt erliegt. Die Geschehnisse in den Minuten von der ersten Schmerzattacke bis zum Hinsinken ins taubenetzte Gras werden immer nur häppchenweise erzählt, unterbrochen jeweils von ausgedehnten Rückblenden in die Vergangenheit dieses einst so erfolgreichen Mannes und seiner kunterbunten Familie. Er bleibt auch im Fokus bis zum Schluss, einem arg inszeniert wirkenden Showdown allerdings, bei dem die verstreut lebenden Familienmitglieder anlässlich seiner Beerdigung in Ghana nach langer Zeit alle wieder zusammentreffen.

Es sind die Brüche im Leben einer sechsköpfigen Familie in den USA, denen die Autorin nachspürt, deren Vorbedingungen sie aufzeigt, deren Unabwendbarkeit sie zu erklären sucht. Der Chirurg Kweku muss unschuldig als Opfer herhalten, er wird fristlos entlassen, die Klinikleitung erfüllt damit beflissentlich die Rachegelüste einflussreicher Sponsoren. Seine Karriere scheint ihm zerstört, er verschweigt das aber seiner Familie und kämpft monatelang vergebens um seine Reputation, wobei er sich finanziell ruiniert. Der gewaltsame Rauswurf aus der Klinik nach einem letzten Protest wird von seinem völlig verdutzten Sohn beobachtet, den er zum strikten Schweigen verpflichtet. Untröstlich und voller Scham verlässt er spontan und ohne Abschied seine Familie. Seine nigerianische Frau handelt beherzt, gibt das Haus auf, schickt ihre Zwillinge zum Halbbruder nach Lagos, reicht die Scheidung ein, baut sich ihre eigene Existenz auf. Als Kweku Wochen später zurückkehrt, sind seine Frau und die vier Kinder spurlos verschwunden, die Zäsur ist endgültig. Er geht in seine Heimat zurück, heiratet dort noch einmal und lässt sich schließlich sein Traumhaus bauen von einem wundersamen Handwerker. Der älteste Sohn Olu, ebenfalls Arzt, rätselt immer wieder über die absolute Tatenlosigkeit des Vaters, der die Symptome eines Herzinfarkts sehr wohl gekannt hat, aber partout nichts tat, um Hilfe zu holen. So als ob Kweku den Tod herbeigesehnt hätte nach einem für seine perfektionistischen Vorstellungen aus dem Ruder gelaufenen Leben.

Eine Stärke dieses Romans ist die geradezu eindringliche Figurenzeichnung, die den Leser emotional in das äußerst detailliert geschilderte Geschehen hineinzieht, ihn fast hineinzwingt. Erschwert wird das aber durch eine verwirrende Namensgebung, bei der auch ein knapper Stammbaum vorne im Buch nicht wirklich hilft. Hinzu kommen die häufigen, teils aberwitzigen Zeitsprünge und hektischen Perspektivwechsel, nach denen dann oft lange unklar bleibt, über wen überhaupt berichtet wird. «Großes Gefühlskino» würde man einen Film vermutlich überschreiben, der auf diesem Romanstoff aufbaut. Mehrfach taucht denn auch ein fiktiver Kameramann auf, der Kwekus Leben filmt. Der üppige Roman ist jedenfalls nahe am Rande des Kitsches angesiedelt, weniger Emotionen, weniger Wunderkinder, weniger «jung-schön-intelligent-erfolgreich», aber auch weniger tragisches Scheitern wäre mehr gewesen, so mein Fazit. Bei wichtigen Figuren wie der schnöde verlassenen Exfrau zum Beispiel bleibt der Roman nur an der Oberfläche, über ihre seelischen Wunden erfährt der Leser merkwürdigerweise fast nichts. Diese fehlende Tiefe ist denn doch recht enttäuschend!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.03.2014
Stangl, Thomas

Regeln des Tanzes


schlecht

Der Froschkönig-Impuls

«Sollte man alles, was gesagt wird, unter die Knute der Verständlichkeit zwingen»? fragt Niklas Luhmann, der große Sozialwissenschaftler. Aber sicher doch, würde ich antworten, denn Sprache dient nun mal der Verständigung, es ist ihr eigentlicher Zweck, wo sie unverständlich bleibt, ist sie zwecklos. Was mir noch nie passiert ist als Leser, hier war der Impuls fast übermächtig: Ich hätte das Buch nämlich öfter mal am liebsten gegen die Wand geworfen, so hat mich der Roman «Regeln des Tanzes» von Thomas Stangl frustriert beim Lesen, – um schließlich genervt zwar, aber doch brav durchzuhalten bis zum Schluss. Manchmal kommt da noch was, hofft man ja immer, hier aber leider vergebens.

Im Wien des Jahres 2000 haben «bösartige Gnome» die Macht im Lande übernommen, eine rechtslastige Koalition, die nebenbei auch einen Geburtsfehler der Europäischen Gemeinschaft aufgedeckt hat, denn einen Ausschluss oder ein Instrumentarium von wirksamen Sanktionen gegen einen politisch abgedrifteten Mitgliedsstaat sieht der Vertrag nicht vor. Zwei Studentinnen, die der Uni schon für eine Weile den Rücken gekehrt haben, Mona und ihre fast bis zum Schluss namenlos bleibende Schwester, bewohnen gemeinsam eine von der Mutter finanzierte Wohnung, aus der Mona plötzlich ohne Nachricht spurlos verschwindet. Sie hat sich den Demonstranten gegen die verhasste Regierung angeschlossen, irrt allein ziellos durch Wien, taucht mal hier mal dort in der Menge auf - einmal sieht die Schwester Mona sogar ganz kurz aus der Ferne - ehe sie wieder verschwindet. Es gelingt ihr schließlich, einem jungen Polizisten den Revolver zu stehlen, sie bringt sich damit um. Andrea, ihre Schwester wendet sich später dem Butō zu, einem modernen japanischen Ausdruckstanz, sie tritt in Hinterzimmer-Theatern auf, bewegt sich in einem künstlerischen Untergrund von absoluten Außenseitern.

In einer zweiten Zeitebene der Jetztzeit begegnet uns der dritte Protagonist, Dr. Walter Steiner, ein alternder Kunsthistoriker im Ruhestand, gelegentlich noch als Gutachter tätig, der in gleicher Weise wie die beiden Schwestern ziellos dahin treibt, wie diese ratlos am Rande seiner eigenen Existenz zu stehen scheint, fast wortlos neben seiner Frau Pre her lebend, die ihn schließlich denn auch kommentarlos verlässt, um ihm später lapidar eine kurze Nachricht auf den Anrufbeantworter zu sprechen. Er findet bei seinen ziellosen Streifzügen durch Wien zufällig in einer Mauerspalte zwei Filmrollen mit Fotografien. Er lasst sie entwickeln und trifft mit Hilfe der Fotografien nach langer Suche auf Andrea. Höhepunkt dieses wundersamen Plots ist dann ein gemeinsamer Auftritt der Beiden, bei dem ihm die Butōtänzerin die Kleider vom Leibe schneidet und ihm dann eine trockene Ganzkörperrasur angedeihen lässt, sein Geschlechtsteil eingeschlossen natürlich. Als das Licht angeht, erkennt er im peinlich hüstelnden Publikum unter den 23 Zuschauern Pre, seine Exfrau, eine mich unwillkürlich an Heinrich Manns «Professor Unrat» erinnernde Szene.

Was will mir der Autor sagen mit alldem, fragt sich der ratlose Leser, so er von meinem Schlage ist. Über weite Strecken in Form des Bewusstseinsstroms und ausschweifenden inneren Monologen erzählt, erzeugt Stangl, in einer allerdings klaren, unmanierierten Sprache, völlig verquere Zerrbilder einer Welt, die total kaputt zu sein scheint, in der nichts mehr stimmt und alles sinnlos geworden ist, in der sich seine beziehungsarmen Protagonisten folgerichtig auch nicht mehr zurechtfinden können. Alle drei, nicht nur die Selbstmörderin, erscheinen mir wie Psychopathen, die sich hilflos in einem vom Autor inszenierten Chaos bewegen, das leider völlig unglaubwürdig, weil regelrecht konstruiert ist. Ich war jedenfalls froh, diesem literarischen Alptraum nach knapp dreihundert Buchseiten glücklich entronnen zu sein, habe mir aber geschworen: Künftig werde ich den Wurf an die Wand praktizieren bei derart verkorksten Romanen.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.03.2014
Yan, Mo

Frösche


gut

Halluzinatorischer Realismus

Es ist wahrlich ein sperriges Sujet, an das sich Nobelpreisträger Mo Yan herangewagt hat mit seinem Roman «Frösche», und prompt sah er sich auch etlichen Anfeindungen ausgesetzt bei seiner literarischen Aufarbeitung der Ein-Kind-Politik Chinas. Wäre es besser gewesen, wenn der mit richtigem Namen Guan Moye heißende Autor seinem Pseudonym gefolgt wäre - Mo Yan bedeutet nämlich «Sprich nicht» - und geschwiegen hätte zu diesem äußerst schwierigen Thema? Politisch jedenfalls hat das rigide umgesetzte Staatsdogma «Ein Kind ist gut, zwei Kinder sind korrekt, drei Kinder schlecht» trotz vieler Ausnahmen die erwünschte Wirkung gehabt und das explosionsartige Bevölkerungswachstum stark gedämpft. Der Preis aber, den die einfachen Leute dafür haben zahlen müssen, war und ist zu hoch, ganz abgesehen von den diversen negativen Folgen für das soziale Gefüge der Gesellschaft und die Wirtschaft dieses Riesenstaates.

«Weil er mit halluzinatorischem Realismus Märchen, Geschichte und Gegenwart vereint» habe man Mo Yan den Preis zuerkannt, heißt es 2012 in der Begründung des Nobelkomitees. «Kaulquappe», der Ich-Erzähler, hinter dem man unschwer den Autor erkennen kann, beschreibt die turbulente Lebensgeschichte seiner Tante Gugu in Form eines vierteiligen Briefromans, wobei sein japanischer Briefpartner, wie wir im Nachwort des Autors erfahren, niemand Geringerer ist als Kenzaburō Ōe, der Nobelpreisträger von 1994, der ihn tatsächlich zu diesem Buch animiert hat. Die Protagonistin Gugu ist eine von allen hoch geachtete, wahrhaft begnadete Hebamme, die Tausenden von Babys auf die Welt hilft. Aus der Wohltäterin wird nach der Verkündung der Ein-Kind-Politik eine inzwischen zur Frauenärztin ausgebildete, gnadenlose Funktionärin, die für die Umsetzung dieser Doktrin in ihrem Distrikt verantwortlich ist. Unser Vorstellungsvermögen übersteigende Restriktionen, von der vorher einzuholenden Genehmigung beim Kinderwunsch über zwangsweise eingesetzte Spiralen, massenhafte Sterilisation von Männern bis hin zur staatlich mit allerlei Repressalien erzwungenen Abtreibung, all dies wird nüchtern und ohne viel Empathie erzählt. So indolente Charaktere wie in diesem Roman begegnen einem nicht oft in der Literatur.

Die geradezu holzschnittartige Erzählweise in der ersten Hälfte des Romans verwandelt sich analog zur fortschreitenden Handlungszeit in einen moderneren Sprachstil, wodurch nicht zuletzt auch das Lesen flüssiger vonstatten geht. Man ist schließlich sogar froh, nicht vorzeitig aufgegeben zu haben bei der ebenso mühsamen wie unerquicklichen Lektüre. Das mag auch daran liegen, dass sich die Standpunkte wandeln. Gugu jedenfalls erkennt irgendwann ihre ungeheure Schuld und wird von Alpträumen geplagt, die ihren Höhepunkt an einem Froschteich erreichen, als sie von unzähligen Fröschen bedrängt wird, den Geistern der unzähligen Föten, die sie zu Tode gebracht hat als fanatische Funktionärin eines menschenverachtenden Regimes. Fast vergnüglich wird es dann im fünften Teil des Romans, der das Theaterstück enthält, welches aus den vier vorangehenden Teilen entstanden ist, in denen der Ich-Erzähler seine Geschichte seinem Brieffreund und uns Lesern in Prosaform geschildert hat. Berthold Brecht hat für seinen Azdak in «Der kaukasische Kreidekreis» den populären chinesischen Richter Bao Cheng als Vorlage verwendet, der nun auch bei Mo Yan ein gleichermaßen weises Urteil fällt in einem ähnlichen Mutterschaftsstreit.

Wie immer bei fremdsprachigen Romanen dürfte auch hier, leider unvermeidbar, einiges an sprachlichen Raffinessen der Übersetzung zum Opfer gefallen sein. Dazu kommt noch die völlig fremde Mentalität und der fehlende Erfahrungshintergrund, dessen Konventionen und Moralverstellungen einem westlichen Leser absolut nicht vertraut sind. Gerade deshalb aber lohnt es sich trotzdem, den Roman zu lesen, man taucht ein in eine völlig andere Welt und wird, so man aufnahmefähig und –willig ist, zu allerlei Recherchen animiert.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.02.2014
Nabokov, Vladimir

Pnin


sehr gut

Im falschen Zug

Wer bisher von Vladimir Nabokov nur die allseits bekannte Geschichte jener minderjährigen Femme fatale gelesen hat, dem sei auch die Lektüre von «Pnin» empfohlen, seinem etwa zur gleichen Zeit entstandenen Roman über einen schrulligen Professor. Wie so oft in der Literatur sind die Parallelen zwischen Autor und Held unübersehbar, beide sind russischer Herkunft, leben als Exilanten in den USA und üben den selben Beruf aus. Timofey Pnin lehrt Russisch an einem College, er ist als Romanfigur eher der Antiheld, ein Inbegriff dessen, was man als liebenswerten Kauz bezeichnen würde, aus einer anderen, längst vergangenen Welt stammend. Der «Don Quichotte» von Cervantes diente erklärtermaßen als Vorlage für diesen Roman, aber anders als der «Ritter von der traurigen Gestalt» wird Pnin nicht lächerlich gemacht und höhnisch dem Spott preisgegeben, so niederträchtig, hat Nabokov angemerkt, wollte er mit seinem Protagonisten nicht umgehen. Pnin erscheint am Ende eher als der Überlegene, ein in sich selbst ruhender, feinsinniger und blitzgescheiter Mensch, unbeirrbar optimistisch und gutmütig.

Der gelegentlich vorgebrachte Einwand, die in sieben Kapiteln erzählten, zusammenhanglos scheinenden Szenen aus dem Leben dieses Sonderlings könne man eigentlich nicht als klassischen Roman bezeichnen, ist wahrlich unbegründet. Das wird spätestens dann klar, wenn man den 60-seitigen Anhang der kommentierten Ausgabe mit seinen zahlreichen Hinweise zur Entstehung des Romans und die detaillierten Anmerkungen zu einzelnen Buchseiten gelesen hat. Anders als in Fachbüchern gibt es hier ja keine Fußnoten zum Text, man tut also gut daran, so man das fein verästelte Handlungsgeflecht komplett durchschauen und sämtliche assoziativen Feinheiten verstehen will, von Anfang an parallel auch jeweils diese vielen Hinweise und Erläuterungen mitzulesen.

Gleich zu Beginn erleben wir Professor Pnin in der Eisenbahn, auf dem Weg zu einem Vortrag. In seiner wundervoll treffsicheren Sprache lässt Nabokov diesen «älteren Reisenden» in seinem Zugabteil mit wenigen Sätzen geradezu greifbar vor uns entstehen. Um dann lapidar einen neuen Absatz mit den Worten zu beginnen: «Hier muss nun ein Geheimnis verraten werden. Professor Pnin befand sich im falschen Zug. Er wusste es nicht, und ahnungslos war auch der Schaffner …». Wir erleben Pnin als ein im hoffnungslosen Kampf mit seinem schlechten Englisch radebrechenden Dozenten für Russisch, als seine neue Bleibe «pninisierenden», kauzigen Untermieter, als trotteligen Exmann von Lisa, als liebevollen Vater, als belächeltes Mitglied in der Gemeinschaft der Exilrussen, als stolzen Hausbesitzer und freundlichen Gastgeber. Am Ende schließt sich der Kreis dieser sieben Episoden, denn wir erfahren im letzten Satz des Romans, dass Pnin nicht nur im falschen Zug saß, sondern sich, nach einer Odyssee glücklich doch noch am Reiseziel angekommen, für seinen Vortrag erhebt «und entdeckt, dass er das falsche Manuskript bei sich hat».

Tragik und Komik liegen nahe beieinander in dieser äußerst kunstvoll erzählten Geschichte mit ihren verschiedenartigen Motiven, einer reichhaltigen Symbolik und den subtilen Beziehungen ihrer Figuren, immer des Lesers Aufmerksamkeit beanspruchend durch viele Andeutungen und dezente Hinweise. Der von einem Missgeschick ins nächste stolpernde Pnin bringt den Leser oft zum Lachen, beobachtet wird er dabei von einem selbst in die Handlung eingreifenden Ich-Erzähler namens N. – hinter dem sich eindeutig aber nicht Nabokov selbst verbirgt, der sich vielmehr eher als Unheilsbringer erweist im Verlauf der Handlung. Humor mit Tiefgang erwartet den Leser dieses «Jahrhundertromans», wie ihn Marcel Reich-Ranicki überschwänglich bezeichnet hat, eine erfreuliche Lektüre mithin.

Bewertung vom 14.02.2014
Sydow, René

Deutsche Wortarbeit, m. 1 Audio-CD


gut

Ein Buch für Querdenker

Multitalent René Sydow versucht verzweifelt, «den Leuten klar zu machen, dass Literatur nicht dort ist, wo am lautesten gelacht wird, sondern wo am lautesten gedacht wird», wie er in seiner unter dem beziehungsreichen Titel «Deutsche Wortarbeit» erschienen Textsammlung an einer Stelle schreibt. Wie wahr, ich kann ihm nur beipflichten. Mir erscheint dieses Statement wie ein Vorwurf an die Szene des Poetry Slam, zu der seit kurzem auch er gehört, mit großem Erfolg sogar. Denn bei den Spoken-Word-Schriftstellern hat die Performance des Vortrags einen oft viel zu hohen Stellenwert, Show und auch Komik sind den Jurys nicht selten wichtiger als literarische Qualitäten. Nun liegt unzweifelhaft für den auch als Schauspieler und Regisseur tätigen René Sydow gerade darin eine Art künstlerischer Heimvorteil, seine Vortragskunst ist jedenfalls auf sehr hohem Niveau, wie ich auf einer Veranstaltung in München kürzlich erleben konnte. Der Leser kann das übrigens auf der dem Buch beiliegenden CD selbst nachvollziehen.

Wer den Band mit Kurzprosa und Gedichten liest, wird feststellen, dass seine literarischen Qualitäten ebenfalls beachtlich sind. Schon der Titel des Buches weist ja darauf hin, dass hier sprachliche Kompetenz im Mittelpunkt steht, René Sydow erweist sich als ein Wortakrobat im wahrsten Sinne des Wortes. Mit seinen kreativen Wortschöpfungen verblüfft er immer wieder aufs Neue seine Leser, so wenn er zum Beispiel von «semantischen Paralympics» spricht und damit die Leute meint, wie sie tagtäglich im Fernsehen auftreten. «Die begehen alle Mundraub, das heißt sie beklauen die deutsche Sprache, und was davon übrig bleibt, ist ein Deutsch für Dummys». Was auch nicht weiter verwundert bei einem vorwiegend denkfaulen Publikum, eine kaputte Welt, wie er meint, «wenn schon die Bildungsministerin ihre Doktorarbeit abschreiben muss». Und er fügt hinzu: «Übrigens war ihr Thema ‚Das Gewissen’, interessant, nicht?»

Der Autor ist ein messerscharfer Beobachter des alltäglichen Wahnsinns um uns herum, den er scharfzüngig kritisiert, wobei er auf seinen unerschöpflich scheinenden «Wortschatz aus dem Silbensee» zurückgreift. An anderer Stelle resümiert er über seine Berufswahl als Schauspieler, nachdem die guten Jobs alle schon weg wären: «Kunstmäzen, Fußballlegende, Lottofee». Für seine Berufskollegen kommt er zu dem so gar nicht schmeichelhaften Schluss: «Die sind alle eingesperrt, im ausbruchssichersten Gefängnis der Welt: dem Ego». Seine selbstbewusste, analytische Gesellschaftskritik zielt gleichermaßen auf Politik und Medien, Sydow nennt Namen, unbeeindruckt von Prominenz, er moralisiert beharrlich und macht den Leser immer wieder nachdenklich.

Solche kurzen Texte stellen eine eigene, neue Literaturgattung dar, die man als Bühnenliteratur bezeichnet, sie sind pointiert und meist auch humorvoll, ziemlich unangepasst und oft sogar ausgesprochen frech, ein Bindeglied zur Comedy darstellend, von den renommierten Literaturkreisen (zu Recht?) bisweilen scheel angesehen. Zu meinem Erstaunen habe ich beim Anhören der CD noch viele Feinheiten herausgehört, die ich einfach überlesen hatte, was ja durchaus für die Gattung des Hörbuchs spricht. Überhaupt ist einiges an Wissen erforderlich, will man all die vielen subtilen Anspielungen und feinsinnigen Pointen verstehen in diesen sprachlich dichten Texten, wobei Fußnoten und ein Glossar dem Leser dabei helfen. Bei aller Lesefreude kamen mir aber doch einige der Texte als ziemlich «daneben gelungen» vor, ganz abgesehen von der Lyrik, die mich allerdings generell abschreckt, nicht nur bei René Sydow. Zusammenfassend könnte man von einem Buch für Querdenker sprechen, dass auch in kleinsten Häppchen genossen mit seinen 48 kurzen Texten gute Unterhaltung verspricht.

Bewertung vom 10.02.2014
Murakami, Haruki

Südlich der Grenze, westlich der Sonne


gut

Hysteria sibiriana

«Zweimal jährlich kommt ein Liebesroman und Sie sagen empört, das gehört gar nicht hierher. Ich weiß gar nicht, Sie halten die Liebe für etwas anstößig Unanständiges, aber die Weltliteratur befasst sich nun mal mit diesem Thema.» Sigrid Löffler hatte im Jahre 2000 in der populären Sendereihe «Literarisches Quartett» diese harsche Replik Marcel Reich-Ranickis ausgelöst mit ihrem Vorwurf, der Roman «Gefährliche Geliebte» von Haruki Murakami wäre «keine Literatur, das ist bestenfalls literarisches Fastfood». Der Roman lag damals nur in einer Übersetzung aus der amerikanischen Fassung vor, in der erregten Diskussion mutmaßte Reich-Ranicki denn auch: «Ich wette, im Original ist es viel besser»!

Womit er, wie man heute nachvollziehen kann, wohl auch Recht hatte. Denn die neue Auflage von 2013 wurde unter dem originalen Titel «Südlich der Grenze, westlich der Sonne» nun direkt aus dem Japanischen übersetzt. Ich habe beide Versionen gelesen, und in der Tat ist die Neuübersetzung sprachlich deutlich seriöser, weniger flapsig und salopp, und damit ist sie, so die Übersetzerin, wesentlich näher am Original. Wären da nicht die Namen und Orte, man würde dem Roman übrigens kaum anmerken, dass er von einem japanischen Romancier geschrieben wurde, was Murakami prompt den Vorwurf einer zu stark westlichen Orientierung eingetragen hat. Ist nach alledem Löfflers vernichtende Kritik berechtigt?

Trivial, um das vorweg zu sagen, ist die Geschichte des Ich-Erzählers Hajime und seiner großen Liebe Shimamoto jedenfalls nicht. Die beiden sind als Kinder zusammen, hören gemeinsam Schallplatten, fühlen sich geradezu magisch zueinander hingezogen. Als seine Eltern wegziehen, verlieren die Beiden sich allmählich aus den Augen. Nach seinem Literaturstudium und einigen, für ihn sterbenslangweiligen Jahren als Angestellter eines Schulbuchverlages ermöglicht ihm sein Schwiegervater den Sprung in die Selbstständigkeit. Er eröffnet einen Jazzclub und ist so erfolgreich damit, dass schon bald ein zweiter folgt. Nach gängigen Maßstäben könnte er jetzt glücklich sein, er liebt seine Frau und die beiden Töchter und ist aller finanziellen Sorgen enthoben. Aber irgendetwas fehlt ihm doch, er spürt eine innere Leere. Als eine Zeitschrift einen Bericht über seine Jazzclubs veröffentlicht, taucht irgendwann Shimamoto als Gast dort auf, sie hatte den Artikel gelesen. Die alte Zuneigung keimt wieder auf zwischen den Beiden, aber sie bleiben auf Distanz, Shimamoto verschwindet oft für längere Zeit ohne jede Erklärung. Sie gibt auch kaum etwas von sich preis, er kennt ihre Adresse nicht, weiß nicht mal, ob sie verheiratet ist. Irgendwann wird die Situation für Hajime unerträglich, er ist bereit, sein geordnetes Leben aufzugeben, Frau und Kinder zu verlassen, auch beruflich einen Neuanfang zu wagen, um künftig mit ihr zusammen zu sein. In ihrer ersten Liebesnacht erleben sie rauschhaft die immer erträumte sexuelle Erfüllung miteinander. Am nächsten Morgen aber ist Shimamoto verschwunden, und sie bleibt es wohl auch für immer, wie Hajime ahnt. Er beichtet alles seiner Frau und verfällt in tiefste Melancholie.

Das Motiv der geheimnisvollen Schönen wird in Murakamis plausibel konstruiertem Plot in einer kühlen, sachlichen, wunderbar klaren Sprache umgesetzt, es gelingt ihm auch ohne üppige Metaphern eindrucksvoll, Hajimis innere Zerrissenheit glaubhaft darzustellen. Shimamoto bleibt ein Mysterium für ihn, sie ist «westlich der Sonne», also unerreichbar dort, wohin manchmal die Bauern aufbrechen, wenn sie in der Unendlichkeit der sibirischen Landschaft den Hysteria sibiriana genannten Koller bekommen und wie magisch angezogen der untergehenden Sonne hinterherlaufen. Sigrid Löffler jedenfalls war damals ohne Zweifel auf dem Holzweg!

Bewertung vom 09.02.2014
Grass, Günter

Werkausgabe 8. Der Butt


sehr gut

Ilsebill salzte nach

Dieser Dreiwortsatz, der mir hier als Überschrift dient, leitet den neben «Die Blechtrommel» wichtigsten Roman von Günter Grass ein. Der Satz wurde dreißig Jahre nach dem Erscheinen von «Der Butt» in einer Internetumfrage zum schönsten ersten Satz eines deutschsprachigen Romans gekürt. Kann er Lust machen auf die folgenden fast siebenhundert Seiten, wie es seine Aufgabe ist, und halten diese Seiten dann auch, was er vorab verspricht?

Das bekannte Märchen «Vom Fischer und seiner Frau» liefert das Gerüst für eine sexistische Variante der Geschichte, die den Kampf der Geschlechter von der Jungsteinzeit bis in die Neuzeit, bis zur Guillaume-Affäre, episodenhaft beschreibt. Grass übernimmt den Namen Ilsebill als zeitlose Verkörperung der Frau, deren Mann, seinerseits stellvertretend für das männliche Prinzip, den Butt fängt. Zum Dank für seine Freilassung steht der ihm nun als gleichermaßen fachkundiger wie streitbarer Berater für die Sache der Männer zur Seite. Als zeitliches Handlungsgerüst fungiert in der ersten Erzählebene die Schwangerschaft von Ilsebill, Grass benennt seine Kapitel dementsprechend mit «Erster Monat» bis «Neunter Monat». In den so gegliederten Epochen tritt in der zweiten Erzählebene der Ich-Erzähler in immer wieder neuen Rollen als Mann auf, dem jeweils eine andere Frau als Köchin zu Seite steht, das weibliche Prinzip verkörpernd. «Bevor gezeugt wurde gab es Hammelschulter zu Bohnen und Birnen» erfahren wir auf der ersten Seite, womit gleich noch ein weiteres Leitmotiv dieses ambitionierten Romans anklingt, die Geschichte des Kochens nämlich. Dabei steht hier die kaschubische Küche im Blickpunkt, deren ungewohnt deftigen Rezepte, das sei mir, ganz subjektiv, gestattet zu sagen, uns Heutigen eher abschreckend erscheinen dürften als appetitanregend. Vor einem spöttisch geschilderten, weiblichen Tribunal, eine bissige Parodie des RAF-Prozesses, muss sich der Butt als Spiritus Rector der männlichen Sache verantworten, auch dies ein ständig wiederkehrendes Leitmotiv.

Es dürfte klar sein, dass «Der Butt» mit einem derart komplexen Aufbau nicht gerade als leicht lesbar bezeichnet werden kann. Unendlich viele Zeitsprünge ebenso wie das völlig ausufernde Figurenensemble mit – ich habe sie nicht gezählt - gefühlt hunderten von Namen erfordern volle Konzentration vom Leser. Durch häufiges, auch mehrmaliges Rekapitulieren von wichtigen Geschehnissen hat Grass allerdings, zumindest für die Hauptfiguren, die Zuordnung ein wenig erleichtert. Schwierig aber bleibt seine, mit unglaublich vielen umgangssprachlichen, mundartlichen, zeit- und ortsbezogenen, oft derben Wörtern und originellen Wortbildungen gespickte Sprache, die selbst vor vulgärsten Ausdrücken nicht zurückschreckt, was Elke Heidenreich einst mit «ekelhafte Altmännerliteratur» quittiert hatte. Wie auch immer, die Fülle an Details ist jedenfalls erdrückend, oft wird ein dutzend Bezeichnungen allein für eine bestimmte Rübe benutzt, und ähnliches gilt für die vielen geografischen Namen im einstigen Pommern, die nur Wenigen heute noch geläufig sein dürften, um von den diversen, geschichtlich kleinräumigen Ereignissen ganz zu schweigen.

Das Buch ist, in einer extrem dichten Sprache, aus unverkennbar männlicher Sicht geschrieben, auch wenn Günter Grass sich vordergründig ganz demonstrativ auf die Seite der Frau schlägt in seiner historischen Darstellung. Die heftige Kritik in Alice Schwarzers damals gerade neu gegründeter Zeitschrift «Emma» aber ist nachvollziehbar, er entlarvt sich des Öfteren selbst. Unverkennbar jedoch ist auch seine köstliche Ironie, die sich in vielen verblüffend lakonischen, ja beißend sarkastischen Wendungen zeigt, die den oft üppig ausschweifenden Roman wohltuend zu beleben vermögen. Weder Matriarchat noch Patriarchat scheinen die ideale Gesellschaftsform zu sein, so das wahrlich nicht überraschende Fazit dieser lesenswerten Emanzipations-Satire.

Bewertung vom 03.02.2014
Steinbeck, John

Tortilla Flat


gut

Geschichte einer Naturgottheit

Die Ritter der Tafelrunde haben Pate gestanden haben für diesen Schelmenroman des amerikanischen Nobelpreisträgers John Steinbeck, wie uns das Vorwort erläutert, eine Thematik, die dem Autor jedenfalls sehr vertraut war, hat er doch, viel später allerdings, sogar eine moderne Übersetzung der Sage um König Artus geschrieben. Auch in «Tortilla Flat» geht es um solch eine mystisch erhobene, zentrale Figur, die hier jedoch aus einem ganz anderen Milieu stammt, welches man nach heutigem Sprachgebrauch als Prekariat bezeichnen würde. Danny, der Held des Romans, ist ein bettelarmer, kleinkrimineller Lebenskünstler. Um ihn scharrt sich, wie in der Artussage, eine wachsende Gruppe von Gleichgesinnten, allesamt Landstreicher und Tagediebe wie er. Sie sind Brüder im Geiste sozusagen, in den Tag hinein lebende Nichtstuer, die Leichtigkeit des Seins genießend mit ihrer naiven Zuversicht.

Ort der Handlung ist die namensgebende Siedlung oberhalb von Monterey in Kalifornien, in der nach dem Ersten Weltkrieg unter armseligsten Bedingungen die Paisanos leben, eine ethnisch gemischte Gruppe alteingesessener Bewohner dieser kleinen Küstenstadt, und Tortilla Flat ist ein Slum an deren Rande, ohne feste Straßen, Wasser und Strom. Als Dannys Großvater stirbt, wird aus dem obdachlosen Habenichts über Nacht der Eigentümer zweier baufälliger Holzhütten. Zögernd nur entschließt er sich, eine dieser alten Hütten zu beziehen, und mit dem neuen Besitz ändert sich nun schlagartig sein Leben. Er erlebt das jedoch eher als Last denn als Bereicherung. Schließlich vermietet er eine der Hütten an seinen besten Freund, obwohl klar ist, dass er nie auch nur einen Cent Miete erhalten wird. Und nach und nach kommen immer neue, skurrile Mitbewohner hinzu.

In einem lose verbundenen Zyklus von siebzehn Geschichten erlebt der Leser den alltäglichen Kampf dieser bunten Clique ums Essen und Trinken. Bei Letzterem handelt es sich fast ausschließlich um Wein, der, aller Prohibition zum Trotz, in Mengeneinheiten von Gallonen konsumiert wird von der trinkfesten Bruderschaft. Nur im äußersten Notfall verdingt sich mal einer von ihnen als Tagelöhner, ansonsten lebt man vom listenreichen Schnorren oder kleineren Diebstählen. Am liebsten sitzt man müßig in der Sonne und erzählt sich die neuesten Geschichten, den Tratsch und Klatsch der kleinen, pazifischen Küstenstadt. Und auch für die sexuellen Bedürfnisse ist gesorgt, es findet sich immer eine Frau, ob verheiratet oder nicht, wobei manche Schwangere später nicht mehr zu sagen vermag, wer von dieser Clique denn als Vater in Frage käme. Steinbeck wäre kein Nordamerikaner, wenn er diesen Aspekt menschlicher Existenz nicht derart verklausuliert erzählen würde, dass man entsprechende Textpassagen wortwörtlich in jedem Märchenbuch abdrucken könnte.

Mit der Burleske um die «Naturgottheit» Danny will Steinbeck, wie es in seinem Vorwort heißt, «jetzt und für immer das spöttische Lächeln von den Lippen säuerlicher Gelehrter verbannen». Man darf den Roman nicht kurzerhand als Hymne auf das einfache Leben interpretieren, er ist eher als Gegenentwurf zum Tanz ums Goldene Kalb zu sehen, als Abgesang auf eine Gesellschaft von Konsumidioten mit ausschließlicher Fixierung auf alles Materielle, in Geldeinheiten Messbare, wo jedweder Müßiggang und eine fatalistische Genügsamkeit von vornherein suspekt sind. Wunderbar plastisch sind Steinbecks Figuren dieser gesellschaftlichen Randgruppe beschrieben, und er lässt sie äußerst schlitzohrig agieren, obwohl sie immer auch ein wenig trottelig wirken, auf ihre spezielle Art aber grundehrlich sind. Das ist oft ziemlich verblüffend, vielleicht jedoch gerade dadurch aber sehr amüsant zu lesen, man kommt aus dem Schmunzeln nicht mehr heraus. Und Dannys Tod schließlich und seine Beerdigung wird liebevoll ironisch zu einem grandiosen Ereignis verklärt, das einen Platz in der Weltgeschichte verdiene, zumindest aber in der von Monterey.

Bewertung vom 28.01.2014
Leupold, Dagmar

Unter der Hand


sehr gut

Mensch, Dagmar

Mit einem Zitat aus «Tristram Shandy» von Laurence Sterne wird dieser moderne, aber auch melancholische Schelmenroman wunderbar stimmig eingeleitet. Und es wird auch gleich dramatisch: Minna liegt tot auf dem Bett, als ihr Nachbar sie findet, wie hindrapiert, an Dornröschen erinnernd. Neben ihr ein Manuskript, in Leder eingeschlagen. Er beginnt zu lesen … und taucht dann erst im letzten Kapitel wieder auf, er bildet quasi eine Klammer um das Ganze. Denn was wir da eigentlich lesen, so will es Dagmar Leupold, ist genau dieser nachgelassene Text, dessen Entstehung märchenhafte Züge trägt, ein von der Autorin kunstvoll eingesetztes Stilelement, auch wenn ihre Protagonisten der Jetztzeit entstammen und ein glücklicher Ausgang nicht recht passen würde dazu. Aber man wird doch noch träumen dürfen!

Während der Reha nach einem Zusammenbruch, der medizinisch unbenannt bleibt, trifft die an Melancholie leidende Minna, Single-Frau um die fünfzig, in der arkadischen Landschaft der Toskana auf Vico, einen mit dem Recycling von Abfall erfolgreichen, so gar nicht mafiosen Unternehmer, der ihr gleichwohl diskret dicke Geldumschläge zuschiebt, damit sie sich zu Hause schriftstellerisch betätigen kann, als Nachkur gewissermaßen. Ein eigenwilliges Mäzenatentum, der Italiener will nämlich sein reichlich vorhandenes Geld wenigstens zum Teil selbstlos einsetzen, um Freude zu stiften. Er hofft, dieses Glück möge sich dann auch weiter übertragen auf andere, und ihre Erfahrungen in diesem Prozess solle Minna aufschreiben. So beginnt eine turbulente Geschichte, mit viel Wortwitz ebenso zielstrebig wie kurzweilig und nachdenklich erzählt.

Kaum zurück in München, ihrer Wahlheimat, trifft Minna, die sich mit verschiedenen Gelegenheitsarbeiten durchschlägt, auf Lotte, eine rüstige ältere Dame über achtzig, mit der sie schon bald eine liebevolle Freundschaft verbindet, ein unerhofftes Glück für die zurückgezogen lebende betagte Frau, die aus Schlesien stammt. Nach und nach erweitert sich Minnas dürftiges Beziehungsnetz, wir lernen ihren Liebhaber Franz kennen, dann zwei halbwüchsige Nachhilfeschüler und den ehemaligen Lehrer Heinrich, der sich als ihr Froschkönig erweist, wie aus dem grimmschen Märchen entsprungen, ihre wahre Liebe. Und ihr Glück wirkt in der Tat ansteckend, ihr kleiner Lebenskreis blüht auf, man findet fast familiär zueinander.

Die lakonischen Reflexionen einer erwachsenen Frau, die als Frühgeburt auf die Welt kam, ein Mängelexemplar nach eigenem Bekunden, zeigen die Ich-Erzählerin als gleichermaßen witzige wie scharfe Beobachterin des alltäglichen Wahnsinns um sie herum. Jeder bekommt da sein Fett ab in deren Gesellschaftskritik, ob das nun die treffsicher aufs Korn genommene Schickeria Münchens ist oder die wunderliche Fahrradgruppe in der Toskana. Der Schwung der Handlung flaut ganz zum Schluss hin leider etwas ab, es wird deutlich konventioneller erzählt, auch der Ausgang der Geschichte kann mich nicht wirklich überzeugen. Gleichwohl, alles was wir lesen in diesem Roman ist pointiert und geistreich formuliert, unterhaltsam, spannend, lebensklug, oft auch ironisch, manchmal gar zynisch. Die Figuren wirken allesamt sympathisch, trotz aller Melancholie gibt es komische Situationen und immer wieder amüsante Dialoge zwischen ihnen. Minna wirkt erstaunlich stark mittendrin, burschikos wie sie ist, es macht einfach Spaß, ihr als Leser durch diesen intelligenten Plot zu folgen. Und so flüstert sie einmal, ganz nonchalant, ihrem Franz beim Liebesakt zufrieden ins Ohr: «Mensch, Franz»!

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