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Bellis-Perennis
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Wien

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Insgesamt 1090 Bewertungen
Bewertung vom 01.11.2022
Seligmann, Rafael

Der Milchmann


ausgezeichnet

Dieses Buch ist aus mehreren Gründen für viele schwer zu lesen. Zum einen sind viele Dialoge in jiddisch geschrieben und zum anderen zeigt es eine Seite der KZ-Häftlinge über die nicht so gerne geschrieben wird: Um selbst zu überleben, werden auch Juden zu Verrätern und Tätern.

Worum geht’s also?

Jakob Weinberg arbeitet als Zwangsarbeiter der KZ Auschwitz an den Geleisen der Bahn als eine Kiste von einem Zug fällt, die Dosen mit Trockenmilch enthält. Da er allein zu schwach ist, die Kiste mit in die Baracke zu nehmen, helfen ihm mehrere Mitgefangene in der Hoffnung etwas davon abzubekommen. Noch bevor Jakob selbst von „seiner“ Trockenmilch nehmen kann, haben die anderen verhungernden Juden die Dosen unter sich aufgeteilt. Jakob fühlt sich betrogen. Es kommt zum Tumult, der weitreichende Folgen für Jakob haben wird.

Nach dem Krieg bildet sich die Legende vom Milchmann, der die gefundene Dosenmilch quasi selbstlos mit seinen Mitgefangenen geteilt hat. Jakob widerspricht nicht, obwohl er genau weiß, was wirklich passiert ist.

Weinberg lebt wieder in Deutschland, wird wohlhabend, hat nun erwachsene Kinder und nach dem Tod seiner Frau eine neue, die allerdings eine Schickse (also Nichtjüdin) ist. Doch glücklich ist er nicht. Die Schatten der KZ-Vergangenheit und die Ablehnung der Deutschen lassen sich nicht verdrängen. Als ihm der Arzt zu einer Biopsie rät, kommen seine Todesängste wieder hoch.

Völlig aus der Bahn wirft ihn das tödliche Attentat auf Israels Premierminister Yitzhak Rabin vom 4. November 1995, denn der Täter ist ein rechtsradikaler Jude.

Meine Meinung:

Autor Rafael Seligmann ist selbst Sohn von KZ-Überlebenden, die nach dem Krieg wieder nach Deutschland zurückkehren. Der Vater freiwillig, die Mutter nicht. Das ist in seinem autobiografischen Roman „Rafi, Judenbub“ nachzulesen.
Womit Seligmann aufräumt, ist das bis zur glorifizierten Selbstaufgabe stilisierte Leben der KZ-Häftlinge. Hier kommen Wahrheiten ans Tageslicht, über die nicht gerne gesprochen wird. Um das eigene Überleben zu sichern, werden noch schwächere geopfert. Der Kampf ums tägliche Stück schimmelige Brot macht die Menschen zu Todfeinden. Kapo gegen Barackenbewohner, Stärkere gegen Schwächere - so intensiv ist das noch selten beschrieben worden.

Darf das sein, dass Juden so denken und handeln wie Nazis? Dürfen Juden rechtsextrem sein?

Das Buch, das erstmals 1999 erschienen ist, zeigt deutlich, dass auch Juden keine homogene Gruppe sind. Da gibt es die säkularen, die gemäßigten und die ultra-orthodoxen. Da werden die aus Russland Vertriebenen verächtlich angesehen. Rafael Seligmann wird wegen des schonungslosen Aufzeigen der Interessenkonflikte zwischen den Juden untereinander als Nestbeschmutzer beschimpft.

Fazit:

Ein Buch das auch mehr als zwanzig Jahre nach seiner Entstehung polarisiert und zum Nachdenken anregt. Gerne gebe ich hier 5 Sterne.

Bewertung vom 01.11.2022
Maly, Beate

Aurelia und die letzte Fahrt / Ein Fall für Aurelia von Kolowitz Bd.1


sehr gut

Der neueste Krimi von Beate Maly führt uns in das kaiserliche Wien von 1871. Die Stadtmauern sind gefallen und die rege Bautätigkeit lockt Arbeiter aus allen Teilen der Monarchie in die Hauptstadt. So existieren Reichtum und bittere Armut nebeneinander. Zwei Vertreter dieser Welten treffen unvermutet einander.

Aurelia von Kolowitz ist eine recht unkonventionelle Grafentochter: Sie zeichnet heimlich Karikaturen, die in der Satirezeitschrift Figaro unter einem Pseudonym veröffentlicht werden.

Nicht weniger unkonventionell, wenn auch aus anderen Gründen, ist die Fiakerin Horvath, mit der Aurelia gerne mitfährt. Blöderweise liegt ein toter Offizier mit entblößtem Unterleib in der Horvaths Kutsche. Anscheinend hat sich der Soldat mit einer Prostituierten vergnügt - Porzellanfuhre nennt man das im Volksmund, weil die Kutscher langsam und vorsichtig durch Wien fahren als hätten sie wertvolles Porzellan geladen. Die Kutscherin landet bei der Polizei, verhaspelt sich und schon steht Aurelia in Begleitung des Familienadvokaten Nepomuk dem Inspektor Janek Pokorny gegenüber. Dass Nepomuk und Janek sich kennen, verwundert Aurelia. Janek Pokorny ist der Sohn tschechischer Ziegelarbeiter, der es durch Begabung und Fleiß zu einem zivilen Polizeiagenten gebracht hat. Pokorny und Aurelia beginnen jeweils für sich in diesem eigenartige Fall zu recherchieren. Er von Amtswegen, sie aus Gerechtigkeitssinn und Neugierde. Dabei betreten sie beide mit großem Staunen die Welt des jeweils anderen.

Der Kriminalfall selbst spiegelt die Machtverteilung in der Monarchie recht gut wieder. Die neu geschaffene, zivile Kriminalpolizei muss sich gegen das Militär behaupten und hat, wann immer ein Soldat betroffen ist, schlechte Karten. Auch diesmal versucht die Offiziersgesellschaft den Fall an sich zu ziehen.

Meine Meinung:

Beate Maly entführt uns wie schon in ihren anderen Krimis ins historische Wien. Diesmal ins 19. Jahrhundert. Geschickt verbindet sie historische Fakten mit Fiktion. So hat sich ein ähnlicher Kriminalfall, wie sie im Nachwort erwähnt, auch in Wirklichkeit zugetragen.

Gut gelungen ist die Beschreibung der unterschiedlichen Welten in die sowohl Aurelia als auch Janek eintauchen. Schmunzeln musste ich über den Besuch bei der Hebamme, bei der sich Janek Pokorny äußerst unwohl gefühlt hat oder wie sachlich Aurelia das Wort „Erektion“ in den Mund nimmt, während ihr Begleiter rote Ohren bekommt.
Sehr nett ist die Erwähnung einer alten Apotheke in der Wollzeile, die Rudolf Böck führt, vermutlich der Vater von Anton Böck aus der Reihe um Ernestine Kirsch. Solche Querverweise mag ich.

Der Schreibstil ist wie immer recht gut an die Zeit angepasst. Nur einmal hat mich der Begriff „vernetzt“ ein wenig irritiert. Das hat man damals bestimmt nicht gesagt.

Aufgefallen ist mir, dass diesmal die Recherchen nicht ganz so sorgfältig durchgeführt wurden wie in den anderen historischen Krimis. Dass das auf S. 29 erwähnte Porzellan aus der kaiserlichen Manufaktur im Augarten stammt, stimmt so nicht. Denn die „Wiener Porzellanmanufaktur Augarten“ wird erst 1923 gegründet. Das Geschirr ist aus der „Wiener Porzellanmanufaktur“ im Alsergrund, die man auf Bestreben der Großindustrie 1864 geschlossen hat.

Der Juwelier, der die berühmten Haarstern für Kaiserin Elisabeth angefertigt hat, heißt Köchert (S. 173) - hier fehlt das “t“ zum Schluss. Solche Kleinigkeiten fallen natürlich nur Insidern auf.

Die Dienstgrade der Truppen sind für Nichtmilitaristen schwer durchschaubar. Da ist unbedingt eine Rücksprache mit einem Militärhistoriker empfehlenswert. Die ermordeten Offiziere werden hier im Krimi immer nur als „Offizier“ angesprochen und nicht mit ihrem Dienstgrad wie Leutnant, Oberleutnant etc.. Es muss heißen „Oberleutnant Hofrichter“ und nicht Offizier Hofrichter. Der ermordete Richard Mader war im echten Leben übrigens Hauptmann. Denn, wie Beate Maly in ihrem Nachwort schreibt, ist gab es einen echten Kriminalfall, den sie sich als Vorlage genommen hat - allerdings erst 1909. Der echte Oberleutnant Hofrichter wurde erst 1880 geboren. Einen Rang „Oberstgeneral der Kavallerie“ wie der Hausmeister auf S. 125 behauptet, gibt es in der k. und k. Armee gar nicht. Der Rang des Generaloberst wird erst, nach deutschem Vorbild, im März 1915 eingeführt.

Die Charaktere sind gut gelungen. Auch die Nebenfiguren wie der Advokat Nepomuk oder Diener Sebastian. Hinter dessen Geheimnis werden Aurelia und Janek, der in zu kennen scheint, auch noch kommen. Da werden wir auf den nächsten Band warten müssen.

Fazit:

Ein gelungener Auftakt zu einer neuen historischen Krimi-Reihe. Wegen der Ungenauigkeiten bei der Recherche, die vermutlich den wenigsten Lesern auffallen, mich aber stören, muss ich leider den 5. Stern wieder abziehen, daher bleiben 4 Sterne.

Bewertung vom 31.10.2022
Martin, Piero

Maß für Maß (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

„Seit je her vermisst der Mensch die Welt. Er vermisst sie, um sie kennenzulernen und zu erforschen, um darin zu leben, um mit seinesgleichen zu interagieren, um Gerechtigkeit zu garantieren und zu erhalten, um sich mit Gottheiten zu verbinden. Von der Antike an bestimmt das Maß das Leben der Menschen.“

Das Spannende daran ist, dass es nur sieben Basis-Einheiten braucht, um alles zu vermessen. Diese sieben, von der Natur abgeleiteten Einheiten werden SI-Einheiten (Système International d’unités) genannt. Es sind dies:

Der Meter (= m = Länge)
Die Sekunde (= s = Zeit)
Das Kilogramm (= kg = Masse)
Kelvin (= K = Temperatur)
Das Ampere (= A = Stromstärke)
Das Mol (= mol = Stoffmenge)
Die Candela (= Cd = Lichtstärke)

Wie hängen die nun mit der Natur zusammen?
Diese Messgrößen sind ausschließlich von festgelegten Naturkonstanten und nicht mehr von Messgrößen abhängig. Damit können sie überall reproduziert werden. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, diese Definitionen zu erklären - dafür ist Piero Martins Buch ja da.

Genau diese Zusammenhänge werden vom renommierten Physiker und Professor an der Universität von Padua Piero Martin erklärt. Er führt den neugierigen Leser
mittels zahlreichen Anekdoten beinahe spielerisch an die physikalischen Größen heran. Doch neben seinen unterhaltsamen Erklärungen müssen einige Formeln hergeleitet werden. Die können allerdings von allen jenen, die es gar nicht so ganz genau wissen wollen, gerne überlesen werden.

Wer kann sich noch an die Blamage von 1999 erinnern, als der Mars Climate Orbiter im Weltraum verschwand? Die NASA hat die Entfernung zum Mars in SI-Einheiten (Meter) berechnet, die Herstellerfirma Lockheed im Imperialen System (= angloamerikanischen System) mit Fuß und Meilen.

Fazit:

Ein leicht lesbares und unterhaltsames Buch, das so manche, bisher nicht so bekannten Zusammenhänge der Messkunst, gut erklärt. Gerne gebe ich hier 5 Sterne.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 31.10.2022
Schöttle, Rupert

Gansltod


ausgezeichnet

Die reiche Witwe Helga Thaimer liegt nach dem sonntäglichen Familienessen tot in ihrem Bett. Der Hausarzt bescheinigt einen Herzinfarkt, ist doch Helga nicht mehr die jüngste und obendrein leicht reizbar. Der in der Familie unbeliebt Stiefsohn fordert von Kajetan Vogel und Alfons Walz vehement eine Obduktion und liefert dazu gleich allerlei Begründungen.

So ein Wochenbeginn stößt den beiden ein wenig sauer auf, dennoch beginnen sie mit Nachforschungen. Verdächtige gibt es einige, denn die Verstorbene ist ein schwieriger Charakter. Die Familienmitglieder werden einzeln vorgeladen und niemand scheint ein wirkliches Motiv zu haben. Erst als die beiden zu einer List greifen, wendet sich das Blatt.

Daneben haben sie es noch mit einer Reihe von Wohnungseinbrüchen zu tun, obwohl dies gar nicht zu ihren eigentlichen Aufgaben zählt.

Meine Meinung:

Als Fan von Vogel & Walz der ersten Stunde habe ich mich auf diesen Krimi sehr gefreut.

Sowohl Vogel als auch Walz sind den kulinarischen Köstlichkeiten der Wiener Küche, von der einiges wie Alfons böhmischen Ursprungs ist, sehr zugetan. Daher dürfen wir sie beim Verzehr von Schweinsbraten und Knödel begleiten.

Die beiden sind auch privat befreundet, doch im Gegensatz zum Single Walz hat Vogel Frau, Tochter und Hund. Doch diesmal hängt der Haussegen beinahe schief, denn er hat, wenn auch aus Recherchezwecken im letzten Fall, ein Gspusi mit Monika begonnen. Blöd nur, dass Monika die beste Freundin seiner Frau ist, und ihn damit zu erpressen versucht. Diese Eigenschaft, jedem Rock (auch wenn es enge Jeans sind) nachzuhecheln, macht mir Vogel diesmal unsympathisch.

Ich wünsche ihm für den nächsten Fall eine weibliche Vorgesetzte, die ihm zeigt, wo der Bartl den Most herholt.

Gut gefällt mir wie das Lokalkolorit eingefangen wird. So dürfen wir mit den beiden zahlreiche Gast- und Kaffeehäuser besuchen und mit Kajetan Vogel und seiner Hündin im Wienerwald herumstreifen.

Der Schreibstil ist kurzweilig wie immer.

Fazit:

Gerne gebe ich diesem unterhaltsamen Krimi 5 Sterne, obwohl ich mich über Kajetan Vogels Verhalten seiner Familie gegenüber geärgert habe. Der Krimi selbst ist sehr gut strukturiert.

Bewertung vom 27.10.2022
Plokhy, Serhii

Das Tor Europas


ausgezeichnet

„Noch ist die Ukraine nicht untergegangen“ Text der ukrainischen Nationalhymne von Pawlo Tschubynskyj

Seit dem 24. Februar 2022 ist die Ukraine durch den Angriffskrieg Russlands in den Fokus der Weltöffentlichkeit gerückt. Viele Menschen glaub(t)en, die Ukraine sei ein Land ohne eigene Geschichte. Doch weit gefehlt. Die Ukraine hat eine abwechslungsreiche Geschichte hinter und hoffentlich auch vor sich.

Autor Serhii Plokhy, Historiker und Professor für ukrainische Geschichte, legt nun mit diesem Buch ein Werk über die mehr als zweitausend Jahre alte, äußerst wechselvolle Geschichte der Ukraine vor.

Die Reise in die Geschichte der Ukraine beginnt mit dem griechischen Geschichtsschreiber Herodot und endet mit den aktuellen Ereignissen. Dazwischen liegen Jahrhunderte der kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Skythen, den Rus-Wikingern, den Mongolen und Kosaken, das Intermezzo als Teil Österreich-Ungarns, das Zarenreich, die UdSSR bis zur Eigenstaatlichkeit.

Autor Serhii Plokhy teilt sein Werk in fünf große Kapitel:

An der Pontischen Grenze
Begegnung zwischen Ost und West
Zwischen den Imperien
Die Kriege der Welten
Der Weg in die Eigenstaatlichkeit

Zusätzlich werden in einem, im Juni 2022 erweiterten, Vorwort und einem Epilog aktuelle Ergänzungen angebracht. Um den Lesern eine Vorstellung der geografischen Lage im historischen Kontext zu ermöglichen, sind zehn Landkarten abgedruckt. Die erste bildet die Region um 770 v. Chr. ab. Die umfangreichen Zeittafeln ordnen die Ereignisse rund um die Ukraine in das Weltgeschehen ein. Das Buch wird durch ein langes Register von für die Ukraine bedeutenden Personen (im Gute wie im Schlechten) ergänzt.

Mit diesem umfassende Werk erklärt der Autor und Historiker die seit Jahrhunderten von Eroberung, Gewalt und vom Verschieben der Grenzen geprägte Geschichte der Ukraine. Eine Ukraine, die aus vielen unterschiedlichen Regionen besteht, aber durch eine gemeinsame Sprache, Geschichte und dem Willen zur Unabhängigkeit von Russland geeint wird. Dieses Buch lässt Außenstehende die aktuellen Entwicklungen besser verstehen. Es zeigt, wie die Ukraine zum Spielball zwischen Osten und Westen wurde.

„Die Ukraine, erst vor kurzem ins Blickfeld der Weltöffentlichkeit gerückt, hat eine lange, dramatische und faszinierende Geschichte, die oft von den großen Narrativen der Imperien, die das Land jahrhundertelang beherrschten, überlagert wird.“

Fazit:

Diesem sachlichen und informativen Buch, das die äußerst komplexe Materie verständlich und nachvollziehbar erklärt, gebe ich gerne 5 Sterne und eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 27.10.2022
Bleyer, Alexandra

1848


ausgezeichnet

Frühes Ende, lange Wirkung: Alexandra Bleyer beleuchtet die Revolution(en) von 1848/49


Historikerin und Autorin Alexandra Bleyer nimmt sich in ihrem neuesten Buch eines Jahres an, das Geschichte geschrieben hat: 1848 - Die Erfolgsgeschichte einer gescheiterten Revolution.

Kann oder darf das Scheitern einer Revolution als Erfolg bezeichnet und verkauft werden? Ist Scheitern nicht immer ein Misserfolg?

Diesem scheinbaren Widerspruch geht Alexandra Bleyer in elf Kapiteln akribisch nach.

Revolution! Revolution?
Vor dem Sturm
Europa in der Krise
Vulkanausbrüche
Pariser Funkenflug
Herrschaftszeiten
Die Stunde der Parlamentarier
Mit vereinten Kräften
Triumph und Niederlage
Revolutionsschauplatz Medien
Was vom Aufstand übrig blieb

Ausgehend von revolutionären Agitationen aus Frankreich greifen die Rufe nach Grundrechten, Demokratie und damit einhergehend, die Abschaffung der absolutistischen Monarchien in ganz Europa um sich. Nun, vielleicht nicht ganz Europa, Großbritannien ist ausgenommen, da es hier schon eine konstitutionelle Monarchie gibt, was bedeutet, dass der Monarch nicht wirklich etwas zu sagen hat. Und Deutschland? Klein- und Kleinststaaten sowie ein Preußen, das sich zu Höherem berufen fühlt.

Neben einer chronologischen Abfolge der Ereignisse, in der - wie die Autorin einräumt, durchaus „auch der Mut zur Lücke“ enthalten ist, legt die Historikerin auch Wert auf die Sicht der direkt (Frauenrechtlerin Louise Otto-Peters) oder indirekt (Lola Montez als Revolutionsflüchting) beteiligten Frauen.

Minutiös listet Alexandra auf, welche der ungelösten wie Antisemitismus bzw. neu aufflammenden Konflikte (Nationalismus) zwar mit einigen Umwegen, aber dann doch in den Ersten Weltkrieg führten. Denn, um der eigenen Freiheit willen, die Freiheit anderer brutal zu unterdrücken, ist Konfliktstoff für die nächsten Generationen.

Gelungen ist den Revolutionären in der sogenannten „Paulskirchenverfassung“, dass den Männern über 25 Jahren das aktive und passive Wahlrecht zugestanden wurde. Und, fragt sich die geneigte Leserin, was ist mit uns Frauen? Sollten wir nicht ebenso ihre Stimme abgeben dürfen? Die Antwort muss, so glaube ich, nicht extra erwähnt werden: Frauen und Wahlrecht? Nein, danke - hier waren sich alle Männer einig.

Ein weiteres Ergebnis dieses Grundrechtskataloges ist die Befreiung der Bauern, die Versammlungsfreiheit (sie wird bei Bedarf wieder eingeschränkt oder ganz zurückgenommen) und eine scheinbare Gleichstellung der Juden.

Für echte Demokratie, wie wir sie heute verstehen, war niemand zu haben - weder die Revolutionäre noch (natürlich) die aktuellen Monarchen. Die einzelnen revolutionären Gruppen waren viel zu unterschiedlich und auch in sich zerstritten. So gesehen muss man die Revolution(en) von 1848/19 als gescheitert betrachten. Aber die Saat wurde gelegt, bis der Keim ausgetrieben hat, wird es noch Jahrzehnte dauern.

Fazit:

Eine fesselnd geschriebene Darstellung der Ereignisse von 1848/49, die durch aktuelle Gefährdungen der Demokratien sowohl in Europa als auch in den USA, zunehmend an Aktualität gewinnen. Erfolg und Scheitern liegen manchmal sehr eng beieinander. Gerne gebe ich diesem fundierten Sachbuch 5 Sterne und eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 27.10.2022
Koch, Timm

Das Feuer des Wassers


ausgezeichnet

Wie schon in seinem Buch „Das Supermolekül“ bricht Autor Timm Koch leidenschaftlich eine Lanze für Wasserstoff als Energieträger der Zukunft.

In diesem, seinem neuen Buch enthüllt er, wie Lobbyisten rund um e-Autos und fossiler Brennstoffe, die Einführung der Wasserstoffbrennzelle mit allen MItteln verhindern wollen. b

Die meisten von uns haben bislang wenig von Wasserstoff als Brennstoff gehört. Einige erinnern sich vielleicht an den Physik-Uuterricht und der Knallgasprobe. Doch wer denkt noch daran, dass neben dem lauten Knall auch Wasser entsteht?
Andere, denken bei Wasserstoff an die „Hindenburg“ und wieder andere an die H-Bombe.

Erste Firmen im Bereich des Transportgewerbes wie Speditionen oder im Öffentlichen Nahverkehr beginnen langsam, aber sicher umzudenken. Der Treibstoff „Wasserstoff“ ist billiger und umweltfreundlich - ein Umdenken ist das Gebot der Stunde.

Dass die Verhinderung von Wasserstoff als Treibstoff nichts Neues ist, hat Timm Koch in diesem Buch beschrieben: bereits 1863 wurde das als „Hippomobil“ bekannte, erste mit Wasserstoff betriebene Fahrzeug aus ähnlichen fadenscheinige Gründen durch die Erdöl-Lobby verhindert.

Allerdings, merkt Timm Koch an, darf man auch bei aller Euphorie, den Stein des Weisen gefunden zu haben, nicht vergessen, dass sich auch hier Scharlatane herumtreiben, die das Unwissen der Menschen schamlos ausnutzen und das große Geld kassieren wollen.

Der Autor beleuchtet in seinem Buch die scheinheilige Welt der Öko-Parteien, die in der Opposition nach Umweltschutz schreien und wenn sie an der Regierung sind, Kohleabbau wieder aktivieren und den Betrieb von Kernkraftwerken verlängern. Bitte das nicht falsch verstehen, im Augenblick der Abhängigkeit von russischem Gas, ist das vermutlich das Gebot der Stunde, aber auf Dauer wird die Rückkehr zu Kohle und Atom nicht die richtige Wahl sein. Man tauscht hier eine Abhängigkeit gegen eine andere ein.

Wasserstoff als Energieträger könnte hier Abhilfe schaffen. Man muss es nur wollen.

Fazit:

Timm Kochs Werk ist ein leidenschaftliches Plädoyer für eine klimaneutrale Energie, die längst „erfunden“ ist. Gerne gebe ich hier 5 Sterne.

Bewertung vom 27.10.2022
Marschall, Anja

Der Henker von Hamburg


ausgezeichnet

Hauke Sötje und Sophie Struwe sind nun am Ziel ihrer Träume: Als glückliches Ehepaar leben sie nun mit ihrer kleinen Tochter Henriette und Kindermädchen sowie Köchin in einer großen Wohnung. Während Hauke weiter Verbrecher jagt, muss sich Sophie den Konventionen beugen und die Karriere ihres Mannes mit den gebotenen Mitteln fördern. Dazu gehört unter anderem auch der Besuch der Hamburger Oper, um eine Wagner-Tragödie zu hören, in der die gefeierte Sopranistin Carlotta Francini auftritt. Das behagt Hauke wiederum nicht so gar nicht - Richard Wagner zu lang, zu schwermütig und zu viele Tote. Die hat Hauke als Kriminalbeamter im wirklichen Leben wahrlich genug.

Noch bevor der erste Takt der Musik erklingt, wird Hauke aus dem Parkett geholt und muss zu einem Leichenfund. Man hat einen Pastor erhängt aufgefunden. Schnell wird klar, dass der Mann getötet wurde.

Während Hauke mit den damaligen Möglichkeiten der Kriminaltechnik nach dem Mörder sucht, freundet sich Sophie mit der Sängerin an, die mehr als ein Geheimnis umgibt. Wie Backfische schlagen die beiden Frauen dem etwas aufdringlichen Verehrer Maximilian von Siems ein Schnippchen und erkunden Hamburg auf eigene Faust.

Als dann zwei weitere Personen erhängt aufgefunden werden, ist klar, dass hier jemand auf Rache aus ist. Nur wer? Alle Zeichen deuten auf Carlotta Francini, denn jedes der Opfer hat irgendwie mit der Sängerin Kontakt gehabt. Hauke und sein Team ermitteln fieberhaft, doch erst der klare analytische Blick von Sophie auf die Ereignisse, der darin mündet, im Auftrag der Polizei, quasi als „Spionin“ im Haushalt derer von Siems aus- und einzugehen, bringt mehr Klarheit in den verzwickten Fall ...

Meine Meinung:

Wie wir es von Naja Marschall gewohnt sind, ist dieser 5. Fall für Hauke und Sophie Sötje fesselnd angelegt. Nebenbei erfahren wir einiges über das Leben von bürgerlichen Frauen in Hamburg um 1899.

Obwohl die beiden den sozialen Aufstieg vom gescheiterten Kapitän und der Privatlehrerin reicher Bürger zum angesehenen Kriminalinspektor und Ehefrau geschafft haben, fühlt sich Sophie einsam und unterbeschäftigt. Ihr wacher Geist braucht mehr Beschäftigung als Teatime und Kaffeekränzchen. Das Kriminalisieren gemeinsam mit Hauke fehlt ihr sehr. Der ist naturgemäß über die bisherigen Alleingänge seiner nunmehrigen Ehefrau nur mäßig erfreut und appelliert an ihr Verantwortungsbewusstsein als Ehefrau und Mutter. Es wäre für den Fortgang der Reihe den beiden zu wünschen, dass sie ihre Unzufriedenheit den Griff bekommen. In Kriminalrat Roscher, Haukes Chef, der allen Neuerungen in der Kriminaltechnik aufgeschlossen gegenüber ist, hat Sophie einen gewichtigen Fürsprecher. Denn auch Hauke muss erkennen, dass

„Frauen die einzigen Wesen sind, die wir Männer immer wieder unterschätzen“. (S. 264)

Welch kolossale Eerkenntnis - das macht Hoffnung, dass Sophie in einem nächsten Band wieder etwas mehr „kriminalisieren“ darf. Sie könnte ja als Aushilfslehrerin ungeklärte Todesfälle in einem Waisenhaus recherchieren. Kriminalrat Roscher könnte das sicher genehmigen.

Wie in den Vorgängern beginnt jedes der 39 Kapitel mit einem damals tagaktuellen Zeitungsausschnitt. Damit wir uns eine Vorstellung vom Hamburg um die Jahrhundertwende machen können, ist ein Stadtplan von 1895 abgedruckt.

Ich hatte zwar schon recht bald einen Verdacht, denn die Verknüpfung von Kirche und Waisenhaus lässt mich immer das Schlimmste denken, ist der Weg bis zur Auflösung sehr gut gelungen.

Zu den zahlreichen Charakteren, die sozusagen das „Stammpersonal“ der Reihe bilden, wie Hauke, Sophie, die Gräfin oder Roscher, gibt es wieder ein paar interessant neue Gesichter wie zum Beispiel Kriminalassistent Schröder oder Archivar Wehling.

„Sobald man den Anfang des Fadens gefunden hatte, konnte man das Gespinst aus Lügen entwirren und die Wahrheit trat zutage.“ (S. 264)

Fazit:

Wer fesselnde historische Krimis aus Hamburg, die auch mit gesellschaftlichen Details aufwarten, liebt, sollte hier unbedingt zugreifen. Ich empfehle mit dem ersten Band zu beginnen. Gerne gebe ich hier 5 Sterne und eine Leseempfehlung.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.10.2022
Kopeinig, Margaretha

Vertrauen


ausgezeichnet

Die Journalistin Margaretha Kopeinig hat sich eines kontroversiellen Themas angenommen: Wie Politik, Gesellschaft und Wirtschaft der Pandemie begegnen bzw. begegnet sind.

In drei Kapiteln erläutern anerkannte Fachleute aus Medizin, Wissenschaft und Wirtschaft, wie sie gemeinsam mit dem Wiener Bürgermeister Michael Ludwig und seinem Krisenstab den durchaus umstrittenen Weg der strengeren Maßnahmen für Wien ein- und durchgesetzt haben.

Brennglas Pandemie
Skepsis versus Wissen
Folgen und Konsequenzen

Es scheint, als ginge das Vertrauen in die Politik Österreichs jeden Tag ein bisschen mehr verloren. Man kann es Teilen der Bevölkerung deswegen nicht einmal verdenken. Der Zick-Zack-Kurs während der Pandemie, die Skandale in der türkis/blauen Regierung und deren Auswirkungen in die nunmehrige schwarz/grüne lassen viele Menschen enttäuscht und verdrossen zurück.

Was allerdings Sorge macht, sind die militanten Impfgegner, unter die sich rechtsradikal denkende Menschen mischen. Diese Minderheit hetzt die Verunsicherten gegen Wissenschaftler auf.

Ich wurde auch von einem solchen Kollegen über die Gefahr des „Chippens“ bei der Impfung „aufgeklärt“. Als ich ihm erklärt habe, das würde mich des mühsamen Merkens der diversen Passwörter entledigen, und daher sogar wünschenswert, ist ihm der Mund offen geblieben.

In ihrem Buch hat sich die Autorin nun mit zahlreichen Personen aus Politik, Medizin, Wissenschaft und Wirtschaft, wie es dem Wiener Bürgermeister Michael Ludwig gelungen ist, das Vertrauen in ihn und seine Experten zu behalten und sogar auszubauen. Ludwig setzt auf Transparenz und eine gerade Linie. Er hört auf Experten aus der Medizin und auf die Sozialpartner in der Wirtschaft. Dass dabei auch heftig diskutiert wird, weil nicht alle der gleichen Meinung sind, ist klar und wird offen kommuniziert.

Interessanterweise hat sich Ludwig während der Pandemie keine Sorgen um eine mögliche Wiederwahl gemacht wie so mancher Landeshauptmann in den Bundesländern. Da sind ist der eine oder andere vor der (Tourismus)Wirtschaft eingeknickt, während Ludwig standhaft geblieben ist und die ziemlich unpopuläre Verlängerung des Lockdowns vor Weihnachten 2021 in Wien durchgesetzt hat. Im Gegensatz zu anderen Bundesländern haben Ludwig und sein Expertenteam immer die Gesamtheit im Blick. D.h. Maßnahmen, um die Spitäler (in denen sich nicht nur Kranke aus Wien befinden) vor dem Kollaps zu retten, die Infrastruktur aufrecht zu erhalten und die Schulen so lange wie möglich offen zu halten. Nicht immer ist alles perfekt gelungen. Doch der größte Coup gegen das Virus ist in Wien mit dem Programm „alles gurgelt“ gelungen.

Primaria Dr. Barbara Maier, die Gynäkologin, die hier im Buch zu Wort kommt spricht mir aus der Seele, wenn sie sagt:

„Ich war immer tolerant, habe mich bemüht humanistisch zu reagieren. Ich ändere jetzt gerade meinen Toleranzbegriff: Keine Toleranz mehr für Intolerante. Ich möchte diese Egomanie nicht mehr tolerieren, die Haltung: Ich will alles, aber ich gebe nichts, ich brauche mich nicht Solidarität kümmern, ich brauche nichts für die Gemeinschaft zu tun.“

Maske aufsetzen in öffentlichen Verkehrsmitteln und wenn wo sonst der Abstand zu anderen nicht gewährleistet werden kann, ist wohl das gelindeste Mittel.

Ob es gelingen wird, das verlorene und leichtfertig verspielte Vertrauen in die Politik zurück zu gewinnen? Ansätze gibt es, aber es ist fraglich, ob die ausreichen.

Fazit:

Ein Buch das nachdenklich macht und dem ich gerne 5 Sterne gebe.

Bewertung vom 27.10.2022
Melville, Alan

Das Publikum war Zeuge


gut

Dieser historische Krimi ist nun erstmals auf deutsch erschienen, obwohl er bereits 1934 geschrieben wurde.

Worum geht’s?

Während der Premiere des Musicals „Blue Music“ wird der Hauptdarsteller vor den Augen von 2.000 Zuschauern erschossen. Da sollte man doch glauben, dass der das Schauspiel verfolgende Detective Wilson vom Scotland Yard sowie dessen Sohn Derek, Reporter bei der „Daily Gazette“ das Verbrechen schnell aufklären können. Zeugen wären ja genügend anwesend. Doch weit gefehlt. Denn nicht nur der Hauptdarsteller ist tot, sondern auch der vermeintliche Todesschütze. Der hat angeblich nach der Tat Selbstmord begangen. Wer hat die Theaterwaffe gegen eine echte ausgetauscht?

Meine Meinung:

Alte, wieder aufgelegte und erstmals übersetzte Kriminalromane haben für mich ihren Reiz. Doch dieser hier hat mich nicht so ganz gepackt. Es ist nicht so, dass die Spannung gefehlt hätte, die ist vorhanden. Vermutlich liegt es an der Übersetzung und dem etwas altmodischen Schreibstil, der für mich - obwohl ich gerne alte Krimis lese, ungewohnt ist.

Obwohl die Dialoge zwischen Vater und Sohn stellenweise wie Pingpong-Bälle hin und her flitzen, gibt es auch die eine oder andere manche Länge.

Fazit:

Wer so richtige englische Krimis, mit dem etwas eigentümlichen Humor mag, ist hier richtig. Ich bin mit diesen Protagonisten nicht so recht warm geworden, daher nur 3 Sterne.