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Igelmanu
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Mülheim

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Insgesamt 1033 Bewertungen
Bewertung vom 13.02.2015
Strout, Elizabeth

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weniger gut

Tyler nickte. … »Erzählen Sie mir, was sie quält.« Er versuchte es freundlich zu sagen, aber er war unendlich müde.
»Ich bin so bedrückt.«
»Ach, das tut mir leid, Doris.« Eine Pause, dann fragte er: »Und was bedrückt Sie – wissen Sie das?«
»Alles«, antwortete sie.
»Verstehe. Ach ja«, sagte Tyler und tippte sich mit den Fingerspitzen an die Lippen. »Das tut mir leid.«
»Auf der ganzen Welt«, fügte sie hinzu. Und ohne jede Vorwarnung – nur ihre Augen röteten sich etwas – brach sie in Tränen aus.
Er wandte den Blick ab. »Doris. Wissen Sie …« Er dachte: „Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er fühlte sich ausgelaugt vor Müdigkeit; wie oft war er in den vergangenen Monaten an dem Autohaus in Hollywell vorbeigefahren und hatte Neid auf die Verkäufer dort verspürt, deren Verantwortung für die Seelen ihrer Mitmenschen so viel weniger unmittelbar oder direkt war.

1959 in einer Kleinstadt in Maine. Der Tod seiner Frau vor einem Jahr hat Reverend Tyler Caskey völlig aus der Bahn geworfen. Nur wenige Jahre zuvor war er mit ihr (zu dieser Zeit schwanger mit dem ersten Kind) dort angekommen. Die Bewohner waren begeistert gewesen von dem jungen, sympathischen Geistlichen und er selbst brannte vor Eifer. Viel Zeit investierte er in seine Predigten, die er grundsätzlich auswendig lernte, damit er sie frei vortragen und dabei den Augenkontakt zu seiner Gemeinde halten konnte. Doch nun muss er auf "alte" Predigten aus seiner Ausbildungszeit zurückgreifen.
Tyler weiß, was er tun müsste und ist doch nicht in der Lage dazu. Außerdem sorgt er sich um seine fünfjährige Tochter Katherine. Schon mehrfach wurde er von der Schule angesprochen, weil sie „verhaltensauffällig“ wäre, weil sie entweder schweigt oder schreit, weil sie verstörende Bilder malt. Tyler fühlt sich hilflos und allein, einzig von seiner Haushaltshilfe fühlt er sich verstanden. Aber auch die hat gewaltige Probleme…
Meine Güte! Vom Lesen dieses Buches kann man selbst depressiv werden! Natürlich ist mir völlig klar, dass ein junger Mann, dessen Frau an (vermutlich) Krebs stirbt und ihn mit zwei kleinen Kindern zurücklässt, am Leben verzweifelt. Und ja – natürlich auch, wenn er Pastor ist, denn auch ein Pastor ist in erster Linie ein Mensch.
Natürlich hat der Tod der Mutter die kleine Katherine verstört! Wie soll eine Vierjährige auch verstehen, was selbst Erwachsene verzweifeln lässt? Und natürlich ist sie demzufolge und weil ihr niemand hilft „verhaltensauffällig“! Hilfe ist auch nicht in Sicht, weder für sie noch für ihren Vater, denn (gefühlt) die Hälfte der Gemeindemitglieder ist ebenfalls depressiv. Es findet sich die ganze Bandbreite an möglichen Ursachen dafür: Der Tod enger Familienangehöriger, im Krieg erlittene Traumata, ungewollte Kinderlosigkeit, fehlende Anerkennung, Eheprobleme…
Die andere Hälfte der Gemeinde könnte helfen? Sicher – aber die hat keine Zeit, weil sie fortwährend tratschen muss. Puh, das Lesen kostete mich ordentlich Nerven.
Ich könnte hier endlos trostlose Passagen zitieren, aber das spare ich mir lieber. Auch dem Laien erschließt sich, dass Tyler alle Symptome einer klassischen Depression zeigt. In dieser Verfassung ist er natürlich auch nicht in der Lage Katherine zu helfen, deren gesamtes Verhalten ein einziger Hilfeschrei ist. Bezeichnend für die traurige Gesamtsituation ist, dass die Klassenlehrerin (ebenfalls problembehaftet) sich immer nur über Katherines Verhalten beschwert und ihre Auffälligkeiten betont. Und dabei gibt es sogar eine Psychologin an der Schule, aber was die von sich gibt, schlägt alles.
Natürlich gehören Klatsch und Tratsch zum Bild einer typischen Kleinstadt und natürlich haben Menschen Probleme, nicht selten auch ernsthafte. Gut, von einem Pastor, der an seinem Glauben zweifelt, liest man nicht so häufig und das hat der Handlung schon ein bisschen was Besonderes gegeben. Aber in der Summe war es für mich einfach ein wenig zu viel.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.02.2015
Borrmann, Mechtild

Morgen ist der Tag nach gestern


ausgezeichnet

»Na, dann woll’n wa mal.« Er balanciert über einen der schmalen Stege und geht dann in die Hocke. Wie ein dicker weißer Ball hockt er zwischen den verkohlten Möbeln und Wänden.
»Wir müssen sehen, wie wir den da einigermaßen heil rauskriegen.«
Böhm beugt sich über Bongartz. Auf dem Boden, eingeklemmt unter einem Balken liegt ein Körper. Das Gebälk liegt quer über den Oberschenkeln. Die Bauchdecke ist aufgeplatzt.
Bongartz steht auf, geht einen Schritt vor zum verbrannten Schädel des Toten und winkt Böhm zu sich.
»Auf den ersten Blick ein ganz normales Brandopfer, aber sieh dir das mal an.«
Er zeigt mit der Spitze eines schmalen Metallstiftes, der aussieht wie eine zu kurz geratene Stricknadel, auf den hinteren, linken Teil des Schädeldaches. Ein Loch von der Größe eines Centstücks ist deutlich sichtbar. … Er pult mit der abgebrochenen Stricknadel vorsichtig an den Rändern der Einschussstelle.
»Selbstmord war das jedenfalls nicht. Kein Mensch schießt sich selber hinten links ins Schädeldach.«

Peter Böhm und seine Kollegen von der Kripo in Kleve wissen schon bald, wer der Tote ist, der da in seinem völlig verbrannten Haus liegt. Gustav Horstmann war in der Stadt wohlbekannt, galt als guter Mensch, als einer, der nicht wegsah, der sozial engagiert und immer für seine Mitmenschen da war. Dazu passend saß er auch im Beirat einer Stiftung, die sich um in Not geratene Familien kümmerte. Wieso sollte jemand einen solchen Mann ermorden?

Während die Kripo ihre Ermittlungen aufnimmt, lernt der Leser zwei Männer kennen. Die beiden sind grundverschieden und haben auf den ersten Blick rein gar nichts miteinander zu tun. Der erste ist ein Mann, der seine Geschichte erzählt. Eine Geschichte, die mit den Worten beginnt:
»Ich will meiner Strafe nicht entgehen. Ich will weder um Verständnis oder Mitgefühl buhlen, noch um Verzeihung bitten. Ich würde es wieder tun, immer und immer wieder.«

Mann Nummer zwei heißt Frank Zech und ist ein direkter Nachbar von Gustav Horstmann. Er lebt im Haus seiner Mutter und kümmert sich dort absolut pedantisch um den Haushalt. Für Horstmann hat er regelmäßig gearbeitet, beispielsweise den Garten gepflegt. Weder der Tod seines Nachbarn noch der daraus resultierende Verlust seiner Arbeitsstelle scheinen ihm etwas auszumachen.

Hatte der gute Mensch Horstmann am Ende eine böse Seite, ein dunkles Geheimnis? War der Mann, der seine Geschichte erzählt, Horstmanns Mörder? Ist Frank Zech auch irgendwie in die Tat verwickelt? Und falls ja – welchen Grund könnte er gehabt haben?

Dieser Krimi ließ bei mir keinen Wunsch offen. Ich empfand ihn als spannend und hatte großen Spaß beim Verfolgen der drei Erzählstränge. Langsam fügte sich ein Puzzleteil zum nächsten und als sich die ersten Hintergründe andeuteten, mochte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Alles wirkte (leider) sehr realistisch, Logikfehler konnte ich keine entdecken und die Auflösung war schlüssig.

Interessante Charaktere gab es einige. Bei Frank Zech merkt der Leser schon bald, dass Frank mit dem „normalen“ Leben ernsthafte Probleme zu haben scheint. Auch das Ermittlerteam lebt von seinen gegensätzlichen Charakteren, die sich einerseits streiten, um sich andererseits gut zu ergänzen.

Fazit: Ein Krimi, der keine Wünsche offen lässt. Kann ich jedem Krimifreund nur empfehlen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.02.2015
Storks, Bettina

Das Haus am Himmelsrand


ausgezeichnet

»Lizzy!«
Seine Stimme riss mich aus meinen Gedanken.
»Alles ist geschehen, wie du es wolltest. Ich war am Rosshimmel, Großpapa«, versuchte ich ihn zu beruhigen. »Die Gegenstände sind hier bei mir.«
Ich deutete auf meine Tasche, sein Blick wanderte in Richtung Boden.
»Lizzy«, sagte er noch einmal und in seiner Stimme lag etwas Beschwörendes. Ich hatte ihn noch nie so sprechen gehört. »Lizzy. Du musst …«
Langsam strich er mit seiner Hand über die Decke. Sachte ergriff ich sie, legte sie in meine, wo ich sie vorsichtig drückte. Aber seine knochigen Finger antworteten nicht mehr. Seine Augen waren geschlossen. Doch plötzlich seufzte er, holte Luft, die dann langsam aus ihm herausströmte. Noch einmal öffnete er den Mund und mir war, als forme er mit letzter Kraft jedes einzelne Wort, als setze er alles daran, damit ich seinen Auftrag auch wirklich verstünde.
»Sorge für Gerechtigkeit! Versprich es!«
»Ich verspreche es dir«, antwortete ich, ohne zu überlegen.

Auch wenn sie überlegt hätte, hätte Lizzy ihrem Großvater an dieser Stelle ihr Versprechen gegeben. Schließlich hat das Familienoberhaupt jahrzehntelang Menschen geführt, ein großes Unternehmen genauso wie seine Familie.
Mit dieser Selbstverständlichkeit hatte Lizzy auch die erste Anordnung ihres Großvaters ausgeführt. Den geheimen Inhalt eines alten Sekretärs an sich zu nehmen – und darüber mit keinem Menschen zu reden. Der Inhalt und das gegebene Versprechen werden Lizzy Rätsel aufgeben, ihre Recherchen werden sie weit in der Zeit zurückführen. Und schon in kurzer Zeit alles erschüttern, was sie für gesichert glaubte.

Dieses Buch war mal wieder ein absoluter Glücksgriff für mich! Es hat mich so gefesselt, dass ich es gar nicht aus der Hand legen mochte und – wie bei einem Krimi – miträtselte, was denn nun wie genau wo und durch wen geschehen ist.

Das Buch spielt auf zwei Zeitebenen. In der Gegenwart verfolgen wir Lizzy bei ihren Recherchen und in ihrem privaten Umfeld. Dazwischen gibt es immer wieder Kapitel, die uns in die Vergangenheit entführen. In eine dunkle, deutsche Vergangenheit…

Wie in einem Puzzle werden Stückchen für Stückchen neue Informationen bekannt. Der Leser muss genau wie Lizzy versuchen, daraus ein Ganzes zusammenzusetzen. Nur dass der Leser den Vorteil hat, nicht persönlich betroffen zu sein ;-) Lizzys Welt hingegen fällt ebenfalls Stückchen für Stückchen auseinander.

Wie mag das sein, wenn man sich ein Leben lang glücklich und gesichert in einer Familie gefühlt hat und plötzlich befürchten muss, dass Menschen, die man kannte und liebte, denen man vertraute, schwere Schuld auf sich geladen haben?
Wie mag das sein, wenn einem plötzlich der Verdacht kommt, dass der Wohlstand, in den man hineingeboren wurde, auf dem Rücken und zulasten anderer Menschen entstanden ist?

Lizzy hat Angst. Große Angst, vor dem, was sie möglicherweise entdeckt. Und vor den Konsequenzen, die ihre Suche für sie selbst haben wird. Als sie beginnt, Fragen zu stellen, schlägt ihr eine Welle von Ablehnung und Misstrauen entgegen. Dazu steckt auch noch ihre Beziehung in einer schweren Krise und sie fürchtet, ihre kleine Tochter zu vernachlässigen. Wird sie das überhaupt durchhalten?
»Du glaubst immer noch daran, dass du die Welt am nächsten Morgen genauso vorfindest, wie du sie am Abend vor dem Einschlafen verlassen hast.«

Es geht um große Themen in diesem Buch. Es geht um die Vergangenheit, um die Naziherrschaft, die Judenverfolgung, die Arisierung. Und es geht um Werte wie Verantwortung, Ehrlichkeit, Liebe und Mut.
»Eine lange Geschichte über Menschen, die überzeugt waren, und welche, die überzeugt wurden.«
So erschütternd die Auflösung auch war - den Schluss fand ich einfach großartig, versöhnlich und Mut machend.

Fazit: Ganz großes Kino! Hier wird eine Familiengeschichte zu einem Pageturner. Sollte man sich nicht entgehen lassen.

Bewertung vom 06.02.2015

Die Haarmann-Protokolle


ausgezeichnet

Fritz Haarmann dürfte jedem ein Begriff sein. Im Zeitraum von September 1918 bis Juni 1924 tötete er in Hannover mindestens 24 junge Männer, zerstückelte ihre Leichen und entsorgte sie größtenteils in der Leine. Die Kleidung seiner Opfer verkaufte er. Außerdem betrieb er einen Handel mit Fleisch. Mutmaßungen, dass es sich dabei um das Fleisch der getöteten Männer gehandelt hat, konnten aber nicht bewiesen werden und er selbst hat dies konsequent bestritten.
Am 19.12.1924 erging vor dem Landgericht Hannover das Todesurteil wegen Mordes in 24 Fällen.

Dieses Buch befasst sich umfassend mit der Zeit nach Haarmanns Verhaftung. Die Autorin hat dazu die Erinnerungen des zuständigen Kriminalinspektors, eines Strafverteidigers, eines zeitgenössischen Psychologen, Auszüge aus der Krankenakte und das Gerichtsurteil zusammengetragen. Außerdem befasst sie sich ausführlich mit den Protokollen der psychiatrischen Gespräche und endet mit einem psychiatrischen Kommentar. Christine Pozsár war selbst Psychiaterin und legte früh ihren Schwerpunkt auf die Beschäftigung mit dem Gebiet der forensischen Psychiatrie. Sie schrieb Arbeiten über Bewusstseinsstörungen, die Therapie sexueller Deviationen und über Pädagogik in der forensischen Psychiatrie. Bis zu ihrem Tod im Jahr 2001 war sie Oberärztin an der Abteilung Forensische Psychiatrie des Landeskrankenhauses Göttingen.

Wie oft fragt man sich, nachdem man mal wieder eine Meldung über einen Massenmörder gelesen oder gehört hat, was wohl in dessen Kopf so vor sich geht. Viele dieser Menschen können nicht mehr befragt werden, da sie nach ihren Taten Selbstmord begingen. Fritz Haarmann wurde verhaftet und verhört, zudem wurden zahlreiche psychiatrische Gespräche geführt. Die Schlüsse, die daraus gezogen wurden, muten allerdings aus heutiger Sicht sehr fragwürdig an.

Der Psychologe Professor Theodor Lessing aus Hannover sah eine Mitschuld der Bevölkerung (»Unser aller Schuld«). Er war ein sehr aktiver Kritiker sowohl der Ermittlungsarbeit, des Verfahrensablaufs, des für die Verurteilung maßgeblichen Gutachtens und des Todesurteils. Er prangerte eine Mitschuld der Behörden daran an, dass Haarmann so spät überführt wurde und die Zahl der Opfer deshalb so groß werden konnte.
Lessing war zunächst als Prozessbeobachter zugelassen, am 11. Prozesstag wurde ihm jedoch aufgrund seiner kritischen Anmerkungen die weitere Teilnahme untersagt. (»Wir können hier keinen Herrn dulden, der Psychologie treibt.«) Es folgte ein Disziplinarverfahren, Lessing floh in die Tschechoslowakei, wurde dort aber 1933 von einem SS-Kommando aufgespürt und ermordet.

Die Krankenakte Haarmanns setzt zu einem Zeitpunkt ein, an dem er ungefähr 16 Jahre alt war. Es gab reichlich Auffälligkeiten, Diagnosen wie „epileptisches Irresein“, „Nervenschwäche“, „Jugendirresein“ und „krankhafte Neigung zu unzüchtigen Handlungen“, weswegen er als gemeingefährlich eingestuft und in die „Idiotenanstalt Langenhagen“ eingewiesen wurde. Kopfschüttelnd blätterte ich hierhin zurück, als ich später das abschließende Gutachten las.

Sehr umfangreich sind schließlich die Protokolle der psychiatrischen Gespräche. Ein kurzer Eindruck aus über 350 Seiten:
»Ich weiß doch gar nicht, wie viele es waren. Nun sagen die Kriminalbeamten, es waren siebenundzwanzig. Sie zeigen mir Bilder und sagen, den hast du auch aufm Gewissen. Aber ich kenne den nicht. Und dann sage ich: „Vielleicht habe ich nicht siebenundzwanzig umgebracht, sondern dreißig oder vierzig. Aber den auf dem Bild da bestimmt nicht. Doch wenn es Sie beruhigt“, sage ich, „dann schreiben Sie ihn dazu.“ Hahaha!«

Das Gerichtsurteil schließt sich an mit vollständiger Urteilsbegründung.
Der Gutachter Ernst Schulze war Leiter der Heil- und Pflegeanstalt in Göttingen. Über einen Zeitraum von sechs Wochen führte er dort Gespräche mit Haarmann und bescheinigte ihm anschließend volle Zurechnungsfähigkeit. Das Todesurteil wurde vollstreckt am 15. April 1925.

Bewertung vom 06.02.2015
Hatterscheidt, Bernhard;Kroner, Ludwig

Eiskalt in Nippes


sehr gut

Der tiefgefrorene Tote wird die Kölner Mordkommission um Hauptkommissar Westhoven und sein Team ordentlich beschäftigen. Allein schon die Identifizierung wird schwierig, kann man doch nicht mal genau sagen, wann der Tote wohl auf Eis gelegt wurde. Als eine alte Dame anruft, die glaubt, den Toten gekannt zu haben, scheint es endlich vorwärts zu gehen. Sie wird jedoch nicht mehr zu ihrer Aussage kommen, denn auf dem Weg zum Präsidium wird sie das Opfer einer schwarzen BMW-Limousine. Eine Taxifahrerin, die alles beobachtet hat, ist sich sicher: Das war kein Unfall, das war „met Avvsich“.

Wie man spätestens an diesen beiden Worten merkt, hat man es hier mit einem Regionalkrimi zu tun, der mit viel Lokalkolorit glänzt. Der Leser, der sich mit „Kölsch“ schwertut, braucht aber keine Verständnisprobleme zu fürchten. Die Ermittler sprechen sämtlich hochdeutsch und für alle auf Kölsch geäußerten Sätze gibt es unten auf der Seite eine Übersetzung. Ich mochte diese Passagen und finde, dass sie auch einiges über die Menschen aussagen, die sie äußern ;-)
»Ach nä, isch wullt nur ens frore, op se schon jet vun dä duden Frau wesse. Isch fahre ja schon des Öfteren Jäss zom ‚Goldene Kappes‘, ävver die levve all noch.«

Die Charaktere sind so, wie man sie kennt und erwartet – allesamt völlig normale Menschen mit völlig normalen privaten Problemen. Auf diese privaten Dinge wird auch eingegangen, aber nicht in dem Maße, dass sie die Handlung oder die Spannung ausbremsen würden.

Was das wirklich Besondere an diesem Krimi ist, ist sein hoher Grad an Realismus. Das Vorwort des Autors, der selber Polizeibeamter ist, warnt vor:
»Dieser Roman beruht auf Tatsachen. Die Ermittlungen und Vernehmungen orientieren sich an der Wirklichkeit des kriminalpolizeilichen Alltags. … Keine der genannten Personen ist so existent. Namensähnlichkeiten sind daher zufällig. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Geschehnissen sowie mit lebenden oder verstorbenen Personen ist aber nicht immer rein zufällig. Der Roman soll vor allem ein Kriminalistenroman sein, der sich nah an der kriminalpolizeilichen Wirklichkeit orientiert. Deshalb sind einige Textpassagen bewusst streckenweise protokollartig.«

Bedeutet im Klartext für dieses Buch: Sämtliche Abläufe sind realistisch (was mir auch von einem lieben Mitmenschen, der „vom Fach“ ist, bestätigt wurde), es muss ziemlich viel mühselig und akribisch ermittelt werden, ich konnte keinen Logikfehler entdecken und das Ende ist schlüssig. Aber es kommt zu Textpassagen, bei denen schon mal der Beamtendeutschrauchmelder anfängt, zu piepen…
»Was dann folgte, war die übliche betroffene Routine der Spezialisten des Verkehrsunfallaufnahmeteams. Katrin Oehmchens Personalien wurden aufgenommen, und sie wurde standardmäßig befragt, ob sie etwas gesehen hatte. Für den Beamten war dies ein ganz normaler Unfall mit Fahrerflucht. Während er sich alles notierte, war der andere Polizist schon dabei, die Straße auszumessen und Farbmarkierungen auf die Fahrbahn zu sprühen.
Da der Notarzt zweifelsfrei den Tod von Erna Schmitz festgestellt hatte, durfte die Tote aus hygienischen Gründen nicht in den Rettungswagen gelegt werden. Sie wurde daher mit einer Mehrzweckplane abgedeckt, bis sie schließlich von einem Leichenwagen abgeholt und zur Rechtsmedizin gebracht wurde.
Der aufnehmende Beamte fragte Katrin Oehmchen zum Abschluss noch, ob sie Hilfe bräuchte, was sie aber verneinte, da sie erkannte, dass sie mit ihrer Mordtheorie auf taube Ohren stieß. Stattdessen machte sie sich auf den Weg zum KK 11.«

Der Autor legt viel Wert auf Realismus und lässt seine Ermittler, um das immer mal wieder zu betonen, darüber sinnieren, wie sich ihr Alltag von dem unterscheidet, was man aus dem Fernsehen und vielen Krimis kennt.

Fazit: Ein solider Krimi und super für jeden Leser, der besonderen Wert auf Realismus legt und „protokollartigen“ Passagen – so wie ich – mit einem Schmunzeln begegnen kann.

Bewertung vom 30.01.2015
Drayson, Nicholas

Kleine Vogelkunde Ostafrikas


ausgezeichnet

»Mr. Malik und Mr. Khan (im Folgenden Protagonisten genannt), haben sich darauf geeinigt, einen Wettbewerb zu bestreiten. Der Sieger dieses Wettstreits erhält das Privileg, Mrs. Rose Mbikwa (im Folgenden Dame genannt) zu dem am fünfundzwanzigsten November diesen Jahres stattfinden Nairobi-Huntclub-Ball einzuladen. Die Verliererpartei erklärt sich einverstanden, von einer derartigen Einladung Abstand zu nehmen, es sei denn, besagte Dame bescheidet die erste Einladung eindeutig negativ. Beide Parteien erklären sich überdies damit einverstanden, ab sofort bis zum Ende der Wette keinen wie auch immer gearteten Kontakt – weder persönlich, telefonisch oder schriftlich noch durch Dritte oder irgendwelche anderen Mittel – zu oben erwähnter Dame aufzunehmen.«

Mr. Malik und Mr. Khan sind beide nicht mehr die Jüngsten, ebenso wenig ihre Angebetete, Mrs. Rose Mbikwa. Als es um die Frage geht, wer die Dame zum Ball einladen darf, vereinbaren die beiden einen kuriosen Wettstreit: Das Privileg soll derjenige erhalten, der es innerhalb einer Woche schafft, die meisten Vogelarten zu entdecken.

Ich muss gestehen, dass ich an dieses Buch keine großen Erwartungen hatte. Liebesgeschichten verirren sich nur selten zu mir und dieses Buch hatte es auch nur deshalb auf meinen SuB geschafft, weil seine Handlung in Kenia spielt und ich mich schon immer für die Tierwelt Afrikas begeistert habe. Was soll ich sagen? Ich wurde sehr angenehm überrascht!

Zunächst einmal: Meine Hoffnungen auf schöne Natur- und Tierbeschreibungen wurden voll erfüllt. Der Autor ist zugleich Naturforscher und hat seine Liebe und Kenntnisse hier einfließen lassen. Außer in einem reinen Sachbuch habe ich noch nie eine solch große Anzahl gefiederter Freunde in einem Buch vorgefunden, alle liebevoll und in ihrer ganzen Farbenpracht beschrieben. Und auch was die Natur angeht, gelingt es Nicholas Drayson die schönen Seiten des Landes hervorzuheben ohne die Probleme komplett zu vernachlässigen.
»Die schöne Insel Lamu hatte selbst die Erwartungen von George und David in den Schatten gestellt. Nur ein paar Meter von der Flugzeugtreppe auf dem Flugplatz von Manda Island war ein Spornkiebitz im Sturzflug auf sie zugekommen. Perlbrustschwalben stießen auf das Gras neben der Rollbahn hinab, und als sie zu Fuß zum Ankunftsgebäude liefen, wären sie beinahe über eine Schar Amethystglanzstare gestolpert. Vor dem Gebäude stritt sich zwitschernd ein großer Schwarm Schwarzkopfweber in einer großen Hängebougainvillea, während auf einem Telefondraht zwei dunkle Turteltaubenpärchen mit ihrem typischen Gurren ihr Missfallen kundtaten. Auf der Überfahrt nach Lamu identifizierten sie vom Boot aus sechs verschiedene Möwen- und Seeschwalbenarten und konnten einen Fischadler beobachten, der tief über das Wasser dahinschoss, seine Krallen knapp unter die Wasseroberfläche senkte und einen silbernen Fisch ergriff. Über ihnen zog ein braunweißer Schreiseeadler seine langsamen Kreise.«

Tatsächlich findet sich in dem Buch nämlich überraschend viel Tiefgang. Behandelt werden Armut, Kriminalität, landesbezogene Politik, Korruption und Aids. Diese Themen fügen sich aber sehr harmonisch in die Handlung ein, indem der Hauptcharakter des Buchs, Mr. Malik, sie erlebt.

Überhaupt Mr. Malik! Ein rundum liebenswerter Charakter, dem man bei der Wette gerne die Daumen drückt. Zu lachen gibt es auch einiges, mich haben die schwer ernsthaften Gespräche der Männer in ihrem Club (siehe auch den oben aufgeführten Auszug aus ihren Wettbestimmungen) bestens unterhalten. Auch die Liebesgeschichte ist herrlich unsentimental, so dass ich an diesem Buch wirklich nichts auszusetzen habe. Ich habe es in einem Rutsch gelesen und hatte viel Spaß dabei.

Fazit: Wirklich ein schönes lesenswertes Buch. Eine volle Leseempfehlung für jeden Naturfreund, jeden Freund schöner Geschichten und jeden, der sich mal überraschen lassen will.

Bewertung vom 24.01.2015
Woodrell, Daniel

In Almas Augen


sehr gut

»Es war ein drückend heißer Tag, dunkel von einem unheilvollen Sturm, der sich über uns zusammenbraute, und wir saßen auf ihrer kleinen Veranda im Wind, um dem lebhaften Geschehen am Himmel zuzuschauen. Grelle Blitze kerbten die Sturmwolken, Donner grollte. Almas Kleid flatterte, sie hatte die Augen zusammengekniffen, starrte in die Ferne und wählte listigerweise genau diese tosende Stunde, um mir zum ersten Mal von der Explosion in der Arbor Dance Hall zu berichten, bei der 1929 zweiundvierzig Tanzende aus diesem kleinen Nest in den Ozarks von Missouri ihr Leben verloren hatten, Walzer tanzende Paare, die mitten im Takt umgekommen und in einem rosafarbenen Nebel zum Himmel geweht waren, gejagt von turmhohen Flammen. … Dutzende Menschen wurden verstümmelt und verbrannt, bis ihnen die Haut vom Fleisch schmolz. Die Schreie aus den Trümmern und Flammen sollten in den Ohren jener, die sie hörten, nie wieder verklingen, Schreie von brennenden Nachbarn, Freunden, Geliebten und Verwandten – wie meiner Großtante Ruby. So viele junge Menschen starben oder wurden für ihre Leben gezeichnet, und sie alle kamen aus diesem Städtchen von nur viertausend Einwohnern. Das führte zu einem Schock, zu einem lauten Aufschrei nach Gerechtigkeit. Verdächtigungen wurden geäußert, Drohungen ausgesprochen, ein Mob scharte sich zusammen, aber für all die Wut gab es kein offenkundiges Ziel. Mögliche Erklärungen für die Explosion waren so zahlreich wie widersprüchlich und blieben ohne überzeugende Beweise, sodass sich die offiziellen Ermittlungen kraftlos und stockend in einem weiten Kreis drehten, um schließlich in aller Heimlichkeit eingestellt zu werden. Niemand wurde je angeklagt oder verurteilt, und die achtundzwanzig nicht identifizierbaren Toten wurden gemeinsam unter einem monumentalen Engel begraben, der drei Meter hoch war und im Laufe der Jahre von der Kälte, der Hitze und dem peitschen Regen langsam schwarz wurde.«

Mehr als vierzig Jahre nach dieser furchtbaren Nacht erzählt eine Großmutter ihrem Enkel davon, berichtet ihm die Wahrheit, so wie sie sie erlebt hat. Alma verlor bei dem Unglück ihre Schwester und glaubt auch zu wissen, wer für die Explosion verantwortlich war. Ihr Versuch, Nachforschungen anzustoßen, endete damit, dass sie ihre Arbeit verlor und immer mehr aus der Gesellschaft ausgegrenzt wurde. Weitere Schicksalsschläge werden sie treffen und fast um den Verstand bringen. Sie wird sich mit ihrer Familie überwerfen und erst spät, ihrem Enkel gegenüber, ihr Schweigen wieder brechen.

Dieser Enkel ist der Erzähler der Geschichte und er berichtet nicht nur das, was er von seiner Großmutter Alma erfuhr. Schon sein Vater hat in wesentlichen Punkten eine andere Sicht der Dinge und beim Lesen tun sich noch diverse Möglichkeiten auf, wie es zu dem Unglück kommen konnte. Nicht ohne Grund gab es von den Überlebenden und Trauernden die unterschiedlichsten Verdächtigungen!
Wie in einem Puzzle werden immer wieder neue Aspekte enthüllt, werden neue Personen eingeführt, die durchaus an dem Unglück beteiligt gewesen sein können. Ich ertappte mich dabei, mal den zu verdächtigen, dann den…

So zeichnet der Autor das Bild einer amerikanischen Kleinstadt mit all ihren Facetten und Vorurteilen, mit Menschen, die irgendwie versuchen, ihr Leben zu leben und manches Mal daran scheitern. Mit Geheimnissen, begangenen Fehlern und Ängsten. All das so lebendig beschrieben, dass man gerne dranbleibt bis am Ende – endlich – alle Fäden zusammenlaufen.

»1989 fing der Schwarze Engel, der über den nicht identifizierten Toten wachte, an zu tanzen. Leute, die Kränze ablegen wollten, sahen, wie der Engel ein wenig mit den Hüften wackelte, und riefen nach weiteren Augenzeugen; tatsächlich gab es bald etliche Beobachter des himmlischen Tanzes.... Der Schwarze Engel stand dort oben und hielt eine Fackel in der Hand, wohl für den Fall, dass die Wahrheit in der Dunkelheit vorbeischleichen wollte. Auch die Flamme war inzwischen schwarz geworden.«

Bewertung vom 23.01.2015
Rademacher, Cay

Der Schieber / Oberinspektor Stave Bd.2


sehr gut

»Bis Mai 1947 registrierte der Suchdienst des Roten Kreuzes und der beiden großen Kirchen in Hamburg etwa 40.000 elternlose Kinder: Waisen, die im Bombenhagel oder durch andere Kampfhandlungen Mütter und Väter verloren hatten. Für 21.000 Mädchen und Jungen machten die Helfer keinen einzigen Verwandten ausfindig, bei dem diese unterschlüpfen konnten. Mehr als 1.000 dieser verwaisten Kinder lebten nicht in Heimen, sondern schlugen sich, allein oder in Banden, in der verwüsteten Stadt durch. Sie hausten in selbstgebauten Unterkünften, in Nissenhütten oder Hochbunkern. Sie verdingten sich als Handlanger des Schwarzmarktes, als Kohlenklauer, Diebe oder Prostituierte.«

Eines dieser elternlosen Kinder ist es scheinbar, das Oberinspektor Frank Stave an diesem heißen Maitag des Nachkriegsjahres 1947 findet. Ermordet und liegend auf einem Blindgänger, mitten in den Ruinen einer Hamburger Werft. Wie kam der Junge dorthin – ins Sperrgebiet? Wer hat ihn brutal ermordet und wieso liegt die Leiche auf einer englischen 500-Pfund-Bombe?
Stave nimmt die Ermittlungen auf und hat schon bald einen alten Bekannten an seiner Seite: Lieutenant James C. MacDonald von den britischen Besatzungstruppen.

Dieser Krimi bietet dem Leser gute Unterhaltung plus einer reichlichen Portion Zeitgeschichte. Da gibt es detaillierte Beschreibungen des zerbombten Hamburg und seiner zerstörten Hafenanlagen. Die englischen Besatzungstruppen sind ein weiteres großes Thema und die von ihnen erzwungene Demontage der Werft von Blohm + Voss.
Ferner geht es um das normale Leben des Durchschnittsbürgers, das sich um Verlust, vermisste Personen, Kriegsgefangenschaft, traumatische Kriegserlebnisse, Lebensmittelkarten, Schwarzmarkt und Neuanfänge dreht. Und es geht um das Leben der vielen Kinder, die durch den Verlust ihrer Eltern plötzlich gezwungen waren, sich irgendwie allein durchzuschlagen. Wobei es sogar da noch Unterschiede gab, denn es gab die „normalen“ Waisen und es gab die sogenannten Wolfskinder.
»Wolfskinder – so nennen sich die Mädchen und Jungen aus dem Osten. Die Waisen, die in den Kämpfen oder bei der Flucht aus Ostpreußen und Schlesien ihre Eltern verloren haben. Manche kennen nicht einmal ihren Namen. Hausen in abgebrannten Scheunen und zertrümmerten Häusern. Schlagen sich irgendwann durch bis in die Westzonen. Ein paar Hundert sollen in Hamburgs Ruinen hausen.«

Stave geht das Schicksal dieser Kinder sehr nahe. Zumal es nicht bei diesem einen toten Jungen bleibt. Private Sorgen hat er außerdem, denn sein Sohn befindet sich noch immer in russischer Kriegsgefangenschaft. Und nachts plagen ihn Alpträume, in denen er wieder und wieder erlebt, wie seine Frau bei einem Fliegerangriff ums Leben kam.

Im Grunde könnte man also meinen, dass man es als Leser hier mit einem Buch zu tun hat, das einem aufgrund des ernsten Themas zusetzt. Tatsächlich gibt es aber immer zwischendurch Passagen, in denen ich lachen musste – und das liegt an Staves „Partner“, Lieutenant MacDonald. Die beiden haben sich bei einem früheren Fall Staves kennengelernt und zum beiderseitigen Erstaunen angefreundet. Und während Stave die personifizierte Ernsthaftigkeit ist, ist MacDonald – nun ja – eher das Gegenteil. Als Folge daraus gibt es herrliche Wortgefechte zwischen den beiden, da wird gefrotzelt und mit sarkastischen Bemerkungen geglänzt.

Nach dem „Trümmermörder“ muss Frank Stave hier seinen zweiten Fall lösen. Erneut schafft es der Autor, aus dem zeitgeschichtlichen Hintergrund eine passende Kriminalhandlung zu entwickeln. Auch Staves Seelenleben wird sehr schön skizziert, ich stellte für mich fest, dass ich gleichermaßen an seinen privaten Problemen wie an der Auflösung des Falls interessiert war. Es ist nicht notwendig, den „Trümmermörder“ zu kennen, obwohl ich dieses Buch auch sehr empfehlen kann ;-)

Fazit: Intelligente Krimihandlung mit viel Zeitgeschichte, Stoff zum Nachdenken und einigen sehr unterhaltsamen Dialogen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.01.2015
Kidd, Sue Monk

Die Erfindung der Flügel


ausgezeichnet

Charleston, South Carolina, im Jahr 1803. An ihrem elften Geburtstag erhält Sarah Grimké, Tochter eines wohlhabenden Gutsbesitzers ein standesgemäßes Geschenk: Die gleichaltrige Hetty, seit ihrer Geburt Sklavin im Hause Grimké.
Sarah ist entsetzt, dieses Geschenk will sie nicht annehmen und muss sich doch dem Druck der Eltern beugen. Schon früh hat sie eine eigene Einstellung zum Thema Sklaverei entwickelt, die sich von der aller weißen Menschen in ihrer Umgebung unterscheidet. Und noch etwas unterscheidet sie von den übrigen Frauen und Mädchen: Sie liest für ihr Leben gern, braucht Bücher wie die Luft zum Atmen, sehnt sich nach Bildung und träumt davon, die erste weibliche Anwältin zu werden. All diese Dinge müssen jedoch heimlich geschehen, entsprechen sie doch in keiner Weise dem, was sich für ein weibliches Wesen schickt. So schleicht sie heimlich in jeder Nacht in die Bibliothek des Vaters, der dies zwar bemerkt, aber anfangs toleriert. Bis zu dem Tag, an dem herauskommt, dass Sarah Hetty, mit der sie sich angefreundet hat, im Lesen und Schreiben unterrichtet. Beide werden schwer bestraft und doch bleibt in ihnen der Wunsch wach nach Freiheit, nach Flügeln…

Was für ein Buch! Ich war völlig gefesselt und mochte es gar nicht mehr aus der Hand legen. Und dass, obwohl manche Stellen schon beim Lesen wehtaten.
Das Buch verfolgt den Lebensweg von Sarah Grimké und der Sklavin Hetty (die mit richtigem Namen, also dem Namen, den ihre Mutter ihr gab, Handful heißt) über mehr als 3 Jahrzehnte hinweg, von 1803 bis 1838. Zum Thema Sklaverei in den Vereinigten Staaten muss ich grundsätzlich nichts sagen, nur ein paar Zahlen habe ich Wikipedia entnommen. So wuchs in den Südstaaten die Zahl der Sklaven bis 1865 auf mehr als vier Millionen an. In South Carolina lebten mehr schwarze als weiße Menschen, die schwarzen jedoch unter völlig menschenunwürdigen Verhältnissen. Kinder wie Hetty Handful wuchsen auf in einer Welt, in der es für sie von klein auf nur Pflichten gab, keinerlei Rechte und in der drakonische Strafen zum Alltag gehörten.
Bildung war für Sklaven natürlich auch tabu, niemals durften sie Lesen und Schreiben lernen. Sarah muss sich nach ihrem „Vergehen“ anhören, dass sie sogar ein Gesetz verletzt hat!

Ebenso natürlich, wie die Überlegenheit der Weißen gegenüber den Schwarzen angesehen wird, ist die Einordnung der Geschlechter, die Rolle der Frau. Hetty Handful – auch sie ist eine intelligente junge Frau - erkennt, wie es Sarah geht.
Sarah wird viele Jahre brauchen, bis sie lernt, sich von ihren geistigen Schranken zu lösen. Doch letztlich wird sie, gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Angelina, zu einer wichtigen Vorkämpferin, sowohl was die Befreiung der Sklaven als auch was die Rechte der Frau angeht.
Handful kämpft ebenfalls, aber ihr Kampf ist natürlich noch existenzieller. Der unbändige Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung, den ihre Mutter ihr vermittelte, begleitet sie ständig. Thematisiert werden hier gezielter Ungehorsam, Fluchtversuche, geplante Sklavenaufstände – und grausame Strafen.
Besonders bemerkenswert ist, dass die Geschichte reale Vorbilder hat, worüber uns ein umfangreiches Nachwort informiert. Sarah und Angelina Grimké waren die ersten offiziellen Rednerinnen der Anti-Sklaverei-Bewegung und zählen in den USA zu den bedeutenden Frauenrechtlerinnen. Der Roman folgt in groben Zügen ihrem Leben, die meisten Ereignisse und Erlebnisse, die für sie von Bedeutung waren, finden sich im Roman wieder.

Das Buch erzählt die Geschichte unserer Protagonistinnen chronologisch, kapitelweise wechselnd aus Sarahs und Handfuls Sicht. Auf Sarahs Seite die vielen Zwänge und Regeln, die ihr aus Familie, Gesellschaft und Kirche auferlegt werden. Und in den Kapiteln, die Handful erzählt, gibt es sehr viel Interessantes über die afrikanische Kultur zu lesen, die sich Handful und ihre Mutter versuchen, so gut es geht, zu bewahren.
Ein großartiges Buch, eine faszinierende Geschichte. Lesen!