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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 926 Bewertungen
Bewertung vom 22.08.2014
Ortheil, Hanns-Josef

Die Erfindung des Lebens


gut

Schaut her, ich bin’s

Nicht erfunden, hineingefunden hat sich Johannes, Held des Romans «Die Erfindung des Lebens» von Hanns-Josef Ortheil, in das Leben, nach erheblichen Startschwierigkeiten allerdings, von denen dieser dickleibige Roman im Wesentlichen berichtet. Genau das Gegenteil passiert dem Leser, er wird von der ersten Seite an emotional mitgerissen, hat keinerlei Startprobleme, ist zunehmend fasziniert und taucht gerne immer tiefer in die Geschichte hinein, bei mir war es jedenfalls so. Der Protagonist darf als Alter Ego des Autors angesehen werden, allzu deutlich sind die Parallelen beider Viten. Ein mitreißender Entwicklungsroman also, dessen Stationen ebenso einfühlsam wie detailliert geschildert werden, dabei die Psyche der durchweg sympathischen Figuren auslotend bis in die letzten seelischen Tiefen.

Johannes ist ein kleiner Junge im Vorschulalter, der stumm ist wie seine Mutter. Die hat den Tod von vier Söhnen im Krieg und in der frühen Nachkriegszeit psychisch nicht verarbeiten können und ist in die Sprachlosigkeit geflüchtet, hat sich völlig abgekapselt von der Welt. Zum fünften und letzten Sohn aber ist von Anfang an eine so abnorm innige, regelrecht symbiotische Beziehung entstanden, dass er nicht sprechen lernt und ebenfalls stumm ist. Die Überwindung dieser Sprechblockade, der mühsame Weg von Johannes durch die Schule bis zum Abitur, das anschließende Musikstudium in Rom und dessen jäher Abbruch sowie sein zaghafter Neubeginn als Schriftsteller sind Inhalt des Plots. Ortheil beschreibt all diese Stationen in einer sprachlichen Präzision, die ihrerseits allein schon faszinierend ist. Er schildert minutiös die subtilen Beziehungen der kleinen Familie, die rührenden und letztendlich auch erfolgreichen Bemühungen des Vaters bei der Überwindung der Stummheit von Johannes. Wobei die Musik eine entscheidende Rolle spielt, denn mit dem Klavier vom Onkel wird für ihn ein Tor geöffnet, durch das er allmählich Anschluss an die Außenwelt findet, den mit der Mutter gebildeten Kokon der Sprachlosigkeit verlässt.

Der Autor nimmt sich viel Zeit, seine elegische Geschichte zu entwickeln, er erzählt sie aber so mitreißend, dass beim Leser niemals Ungeduld aufkommt. Im Hintergrund sind dabei stets die psychischen Hemmnisse und sozialen Defizite erkennbar, die das Leben des Protagonisten beeinträchtigen. All das wird in einer äußerst kunstvoll verschachtelten, zweisträngig aufgebauten Geschichte beschrieben, in der die Zeiten, Erzählebenen und Perspektiven häufig und wahrhaft virtuos wechseln. Johannes, der Autor also, ist nämlich mehr als dreißig Jahre später nach Rom zurückgekehrt und schreibt nun in dieser ihm vertrauten Umgebung den Roman über seine Jugendzeit. Aber auch nach so großem zeitlichem Abstand hat er immer noch Probleme mit menschlichen Kontakten, ist einfach für manches nicht ansprechbar, die schwierige Jugend wirkt immer noch nach.

Bei aller Freude über die emphatische und erzählerisch hinreißende Geschichte kommt gegen Ende des Romans Missbehagen auf, denn der Held wird zunehmend idealisiert, erlebt glücklichste Fügungen, alles gelingt ihm und alle Welt schaut bewundernd zu ihm auf. Peinlichste Szene ist das einstündige Debütkonzert seiner Klavierschülerin unter freiem Himmel auf einem Platz im Rom, nach dem er anschließend, ungeplant und widerstrebend zunächst, als Lehrer selbst auf die Bühne geholt wird, um dann das Publikum mit Zugaben zu begeistern, geschlagene zwei Stunden lang! Der Herausgeber des renommiertesten deutschen Verlages reißt ihm das unfertige Manuskript seines ersten Buches geradezu aus der Hand. Es gibt Eitles mehr in dieser zwischen Biografie und Fiktion oszillierenden Geschichte, was die Freude an der Lektüre dann doch einigermaßen trübt, weil sie ins Kitschige abgleitet. Das wäre nicht nötig gewesen!

4 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.08.2014
Karasek, Hellmuth

Betrug


schlecht

Così fan tutte

Was sich hinter dem Buchtitel «Betrug» verbirgt ist ein uraltes Menschheitsthema, nichts Kriminelles, dem sich Autor Hellmuth Karasek da mutig stellt, wohl weil er als Literaturkenner über die Probleme zwischen Mann und Frau bestens Bescheid zu wissen glaubt. Liebe sei, erfährt man in seinem Roman, schließlich das Thema Nummer eins in der Literatur. Hier nun steht das gestörte Liebesverhältnis im Mittelpunkt, es ist der Betrug des Partners und seine Folgen, denen er sich widmet. Der Autor wendet sich dabei auch den wirtschaftlichen Folgen des Betrugs zu, bezieht den finanziellen Niedergang seines Protagonisten und die letztendlich materiellen Motive seiner Geliebten mit in seine Handlung ein.

Robert, der Held der Geschichte, Prototyp des Schürzenjägers, freischaffender Drehbuchautor, Essayist und gelegentlicher Rezensent in Hamburg, ist beruflich wenig erfolgreich, seinen gleichwohl hohen Lebensstandard verdankt er seiner wohlhabenden Ehefrau. Katta, zweite Frau des früh verwitweten Bankers Harald, mit dem Robert befreundet ist, macht ihm plötzlich Avancen, die Beiden beginnen ohne Zögern eine heiße Affäre. «Robert liebte seine Frau, und sie liebte ihn – bestimmt. Er hatte wahrlich keinen Grund, sie zu betrügen, aber er betrog sie bei jeder Gelegenheit. Danach peinigten ihn jedes Mal unbequeme Schuldgefühle». Ein guter Freund hatte ihm vor Jahren «kategorisch erklärt, so als handele es sich um ein naturwissenschaftliches Gesetz, dass man eine Frau maximal sieben Jahre sexuell begehren könne», Seitensprünge also etwas ganz Normales seien. Die nun folgenden heimlicher Treffen der beiden Untreuen sind von der ständigen Gefahr der Entdeckung bestimmt, wobei Robert eine panische Angst davor hat, die Katta geradezu lächerlich findet. Man streitet sich deswegen, trennt sich sogar, findet aber immer wieder zueinander, der tolle Sex zwischen ihnen ist gar zu verlockend. Bald aber stellt der gehörnte Freund ihn doch zur Rede, wenig später zieht Harald mit seiner Frau Katta nach München, die ehebrecherische Beziehung ist damit beendet.

Aber Robert kommt nicht von Katta nicht los, kann nicht verwinden, dass ihm seine Beute abhanden gekommen ist. In seiner Frau sieht er nur noch den Hemmschuh für sein Glück, sie ist es, die alles kompliziert gemacht hat für ihn, die wie ein Racheengel allem im Wege stand. Er verlässt sie ohne Abschied und geht auch nach München, sucht Katta und stellt fest, dass die inzwischen einen anderen Geliebten hat. Schließlich finden die Beiden aber doch wieder zusammen, wobei Robert sie über seine prekäre finanzielle Lage im Unklaren lässt, er schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durch und lebt in ärmlichsten Verhältnissen, deren er sich schämt. Katta trennt sich von ihrem Mann, der neue Geliebte aber denkt nicht daran, Frau und Kind zu verlassen und mit ihr zusammen zu ziehen. «Komm, lass uns fort, nur für ein paar Tage», überredet sie Robert und fährt mit ihm in ein sündhaft teures Hotel am Starnberger See, nichtsahnend, dass er sich das eigentlich gar nicht leisten kann. «Jetzt haben wir es endlich geschafft» sagt sie am Morgen, aber Robert ist alles andere als glücklich. Er würde am liebsten alles ungeschehen machen und in den Schoß der Familie zurückkehren - und damit zu den finanziellen Quellen für sein sorgloses Leben. Und auf Katta wartet ein böses Erwachen.

Von Thornton Wilder stammt die Erkenntnis, im Leben der allermeisten Menschen gäbe es nichts anderes als «Geldverdienen, Genüsse und Gequatsche». Und genau dem entspricht auch dieser Roman, er ist nämlich Trivialliteratur durch und durch. Literarische Qualitäten sind keine auszumachen in dieser banalen Erzählung, weder die Thematik ist originell noch der Plot, und sprachlich hat der Autor einfach dem oben erwähnten Volk aufs Maul geschaut und darauf geachtet, es intellektuell nicht zu überfordern, gedankliche Tiefe findet sich nirgends im Roman, - der Auflage wegen, vermute ich mal.

0 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.08.2014
Fleischhauer, Wolfram

Schweigend steht der Wald


weniger gut

… und schüttelt den Kopf

Schon der an das berühmte Gedicht von Mathias Claudius erinnernde Titel «Schweigend steht der Wald» wirkt unheimlich und düster, Autor Wolfram Fleischhauer nutzt geschickt den darin enthaltenen Mythos für seinen Roman. Der Deutsche und sein Wald, eine literarisch immer wieder anzutreffende, ganz spezielle Beziehung, deren Ursprünge in den uralten Märchen und Sagen zu finden sind. Hier nun dient der deutsche Wald sowohl als Bühne wie auch als Hintergrund einer Geschichte, deren Verlauf an einen richtigen Krimi erinnert, obwohl Autor und Verlag es vermutlich ganz bewusst unterlassen haben, den Roman als solchen zu deklarieren.

Und so birgt die Parzelle im Privatwald, in der die 28jährige Studentin der Forstwirtschaft im Rahmen eines Praktikums Bodenproben entnimmt, denn auch prompt ein düsteres Geheimnis. Ihr Vater ist in just diesem Waldstück vor zwanzig Jahren spurlos verschwunden, ein Trauma, welches sowohl Anja als auch ihre Mutter nicht haben überwinden können. Beide leiden an den Folgen, die Mutter hat einen Selbstmordversuch unternommen, die Tochter wird psychologisch betreut, ihr gelegentlich auftretendes Asthma ist psychosomatisch. Anja findet eine von der Umgebung abweichende Bodenprobe, und in den hinterlassenen Unterlagen ihres Vaters entdeckt sie, dass auch er kurz vor seinem Verschwinden genau an dieser Stelle ein ihm unerklärliches, völlig untypisches Brennnesselfeld gefunden hatte, ein Anzeiger für hohen Stickstoffgehalt im Boden, wie er zum Beispiel bei Verwesung auftritt. Der Leser glaubt nun an diesem frühen Punkt natürlich, die weiteren Entdeckungen schon zu kennen, die Anja bei ihren rastlosen Nachforschungen noch machen wird. Aber was sich da wirklich abgespielt hat an jener mysteriösen Stelle im Wald, das erfährt man tatsächlich erst sehr viel später, ganz am Ende des Romans.

In mehreren Handlungssträngen erzählt Fleischhauer eine aufregende Geschichte, die sich, von Rückblenden abgesehen, innerhalb weniger Wochen im Jahre 1999 ereignet. Er tut dies in angenehm klarer, nüchterner Sprache, seine Dialoge sind recht realitätsnah und somit glaubwürdig. Die gleich zu Beginn des Romans geschilderten Details von Anjas Arbeit im Oberpfälzer Wald dürften viele Leser irritieren, gerade darin aber sehe ich eine Stärke dieses Buches. Denn neben dem zweifellos für viele Leser attraktiven, weil ereignisreichen Plot wird hier nämlich auch mal eine andere Sicht auf den Wald geboten, auf die Belange der Forstwirtschaft und auf die Intentionen der Naturschützer, auf seine ökonomischen und ökologischen Funktionen also. Und auch der detailliert geschilderte Abschuss einer Wildsau weitet den Horizont des Normallesers sicherlich ungemein, alles Fachliche ist jedenfalls sorgfältig recherchiert. Also kein reiner Krimi, man könnte das alles sehr wohl auch als historischen Roman oder als Gesellschaftsroman ansehen.

So durchdacht und voller Überraschungen der Plot auch ist, ich empfand ihn letztendlich arg konstruiert, seine Figuren klischeehaft, seine Thematik wird dem realen, grauenhaften Geschehen nicht wirklich gerecht. Und der turbulente Showdown à la Hollywood ist leider derart aufgemotzt und unrealistisch, dass er damit die gesamte Geschichte nachträglich in Misskredit bringt. Besonders ärgerlich auch eine Stelle, wo die ansonsten so clevere Heldin über den Tod ihres Vaters sinniert: »Bären und Wölfe waren zwar selten, aber man musste stets mit ihrem Auftauchen rechnen». Ist es eigentlich Zufall, dass Anja mit Nachnamen Grimm heißt? War nicht auch Rotkäppchen dem Wolf zum Opfer gefallen? Schweigend steht der Wald – und schüttelt den Kopf!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.08.2014
Lenz, Siegfried

Deutschstunde


ausgezeichnet

Als ob man selbst dabei war

Ist es Zufall, dass der Höhepunkt der antiautoritären Bewegung in Deutschland im Jahre 1968, in Zeiten einer quasi oppositionslosen großen Koalition also, gleichzeitig das Erscheinungsjahr des wichtigsten und erfolgreichsten Romans von Siegfried Lenz war, der «Deutschstunde»? Das Buch passte jedenfalls genau in diese Zeit, war eine feinsinnige Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit gerade auch in Hinblick auf die Frage nach der Anpassung des Individuums an die jeweilige gesellschaftliche Situation. Was die Achtundsechziger damals bekämpften war ja nichts anderes als das Wiedererstarken einer kritiklosen, obrigkeitsgläubigen deutschen Bevölkerung, die beflissentlich das tut, was man ihr sagt, ohne weiter darüber nachzudenken.

«Die Freuden der Pflicht» heißt denn auch treffend der Deutschaufsatz, den Siggi, der in einer Hamburger Besserungsanstalt einsitzende Ich-Erzähler, schreiben muss. Die Entstehung dieses Aufsatzes, zu dem er fast unbegrenzt viel Zeit hat, bildet den äußeren Rahmen der Handlung. Im Aufsatz des geradezu schreibwütigen Siggi, der inneren Geschichte, lesen wir von seiner Jugend am Deich, von seinem Elternhaus und den Nachbarn in schleswig-holsteinischen Rugbühl, wo sein Vater als Dorfpolizist den «nördlichsten Polizeiposten Deutschlands» innehat. Die unbeirrbare, sture, geradezu unmenschliche Auffassung des Vaters von Pflicht gipfelt in der Auseinandersetzung mit seinem Nachbarn und Freund Max, einem an Emil Nolde erinnernden, expressionistischen Maler, dem er 1943 das Malverbot aus Berlin überbringt, dessen Einhaltung er persönlich zu überwachen habe. Obwohl Max ihn als Jugendlicher vor dem Ertrinken gerettet hat, ist der Polizist geradezu zwanghaft bemüht, diesen Auftrag akribisch zu erfüllen, menschliche Regungen sind ihm völlig fremd in seiner unreflektierten Pflichterfüllung. Die übrigens noch lange über das Kriegsende hinaus fortdauert, nur weil man ihm nicht gesagt hat, dass damit auch sein Auftrag endet.

Lenz hat autobiografisch inspiriert in seiner schlichten, aber wirkmächtigen Sprache ein großartiges literarisches Portrait der Küstenlandschaft und ihrer Bewohner geschaffen, einer rauen Welt, die immer wieder äußerst detailreich und so liebevoll geschildert wird, dass sie selbst einem ortsfernen, süddeutschen Leser wie mir unwillkürlich ans Herz wächst. Der Plot ist raffiniert in Kapitel gegliedert, die das Geschehen aus verschiedenen Perspektiven beleuchten und mit Zeitsprüngen voranbringen. So wird zum Beispiel mehrfach das Manuskript eines jungen Psychologen mit einbezogen, in dessen Diplomarbeit das Seelenleben des arretierten Helden wird. Sehr amüsant sind die Einschübe, in denen Siggi als Autor über den Fortgang seiner Geschichte sinniert und damit den Leser an seinen Überlegungen beim Schreiben teilnehmen lässt. Überhaupt ist in diesen Roman voller Trauer und Bitternis häufig ein trockener Humor eingewoben, der die Lektüre angenehm locker werden lässt, ein markantes Merkmal der großartigen und anrührenden Erzählkunst von Siegfried Lenz. Wie er zum Beispiel einen Geburtstagstisch schildert oder minutiös über ungewöhnliche Riten und seltsame Angewohnheiten seiner wahrlich illustren Figuren berichtet, das zeugt von großer Scharfsicht und Lebensklugheit.

Der ruhige und genüssliche, weit ausholende Erzählstil des Autors hat mich tief in eine ereignisreiche «Deutschstunde» hineingezogen, in der die Spannung bis zum Ende anhält. Man mag manche Naturschilderungen als zu langatmig empfinden, die gleiche Detailtreue aber ist bei den vielen Figuren höchst erwünscht, lässt die fast durchweg sympathischen Protagonisten geradezu lebendig werden, man fühlt sich, als ob man selbst dabei war. Mehr kann man von einem Roman nun wirklich nicht erwarten.

8 von 8 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.08.2014
Wilder, Thornton

Die Brücke von San Luis Rey


ausgezeichnet

Die Notation des Herzens

Schon mit seinem zweiten Roman «Die Brücke von San Luis Rey» gelang dem US-amerikanischen Autor Thornton Wilder 1927 der Durchbruch als Erzähler, neben dem kommerziellen Erfolg wurde er dafür auch mit dem renommierten Pulitzerpreis geehrt, den er später dann noch zweimal als Dramatiker für Theaterstücke erhielt. Thema dieses Romans ist die uralte Menschheitsfrage nach dem Sinn des Lebens, anders ausgedrückt die vorgelagerte Frage, ob unser Leben vom Zufall oder von göttlicher Fügung bestimmt ist, und damit natürlich auch die Grundfrage nach einem Beweis für die Existenz Gottes.

«Freitag, den 20. Juli 1714, um die Mittagsstunde, riss die schönste Brücke in ganz Peru und stürzte fünf Menschen hinunter in den Abgrund» lautet der erste Satz. Wilder bezieht sich in seinem Roman auf eine tatsächlich von Inkas aus dem Material des Urwalds gebaute Hängebrücke über den Río Apurímac. Bruder Juniper, ein Franziskaner, wurde zufällig Augenzeuge des Unglücks. «Warum geschah das just diesen Fünfen?» fragte er sich. «Es schien Bruder Juniper hohe Zeit zu sein, dass die Theologie ihren Platz unter den exakten Wissenschaften einnähme, und er hatte seit langem beschlossen, ihr den zu verschaffen». Der Mönch sah in dem Unglück eine Chance dafür, wenn sich nämlich zeigen würde, «dass jedes der geendeten Leben ein abgeschlossenes Ganzes gewesen war», diese Fügung mithin ihren Grund hatte und kein Zufall war, q.e.d. - wie es in den exakten Wissenschaften heißt. Die akribischen Recherchen Junipers über die Lebensgeschichte der fünf Opfer füllten schließlich ein dickes Buch, welches dann plötzlich für ketzerisch erklärt wurde. «Es wurde samt seinem Verfasser dazu verurteilt, auf dem großen Platze verbrannt zu werden».

In diesem Handlungsrahmen erzählt Wilder von der schreibwütigen Marquesa de Montemayor und deren liebloser Tochter, von Pepita, der als Waise im Kloster aufgezogenen Gesellschafterin der Marquesa, von Esteban, der durch den frühen Tod des Zwillingsbruders aus der Bahn geworfen wurde, und schließlich von Onkel Pio, einem liebenswerten Bonvivant, «Kammerzofe» der Perichole, einer gefeierten Schauspielerin, deren illegitimer Sohn Jaime den Vizekönig zum Vater hat. Alle diese Figuren, ergänzt um eine aufopfernde Äbtissin, einen wackeren Kapitän, den genussüchtigen Erzbischof und andere mehr, werden liebevoll und sehr treffend geschildert, sie erscheinen dem Leser geradezu plastisch vor Augen. Diese großartige Beschreibungskunst Wilders erhält noch eine willkommene Steigerung durch seinen stets präsenten, man könnte fast sagen schwarzen Humor, seine köstliche Ironie jedenfalls allem Menschlichen gegenüber, an subtilen englischen Humor erinnernd. Die Fäden seiner kapitelweise erzählten Handlung laufen immer deutlicher zusammen, fein strukturierte Bezüge zwischen den Protagonisten werden erkennbar, und am Ende betreten die tragischen Fünf, die Marquesa mit Pepita, Esteban und Onkel Pio mit Jaime, die verhängnisvolle Brücke.

Thornton Wilder beschreibt das Geschehen und dessen metaphysische Hintergründe in einer mitreißenden Sprache, kurz und bündig in wunderbar treffenden Formulierungen ohne jeden Schnörkel, sehr angenehm zu lesen also. Was er zu sagen hat ist ebenso lebensklug wie empathisch, man solle als Leser, um aus dem Roman zu zitieren, sich nicht «just das entgehen» lassen, «was der eigentliche Sinn von Literatur ist: die Notation des Herzens». Das tragische Ereignis selbst, muss hier noch angemerkt werden, ist nicht in Vergessenheit geraten, es lebt in einem peruanischen Sprichwort weiter. «Vielleicht sehe ich dich Dienstag», sagt man dort zum Beispiel, «wenn die Brücke nicht reißt».

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.08.2014
Kertész, Imre

Fiasko


sehr gut

Vom Fiasko der Matroschka-Romane

Der Autor Imre Kertész gehört nach eigenem Bekunden nicht zur nationalen ungarischen Literatur, er sehe sich vielmehr in einer Reihe mit Paul Celan und Franz Kafka. Seine Befürchtung, dass er «ein ewig verkannter und missverstandener Autor bleibe» wurde durch das Nobelkomitee widerlegt, welches ihn 2002 ehrte und zur Begründung anmerkte: «Sein Werk behauptet die zerbrechliche Erfahrung des Einzelnen gegenüber der barbarischen Willkür der Geschichte». Kertész wurde 1944 als Fünfzehnjähriger nach Auschwitz deportiert und gelangte von dort nach Buchenwald, wo er bei Kriegsende befreit wurde. Diese einjährige traumatische KZ-Erfahrung ist prägend für sein gesamtes, stark autobiografisch inspiriertes Werk, hinzu kommen noch die Jahrzehnte der ebenfalls albtraumartigen Zeit während des kommunistischen Regimes in Ungarn. Sein Roman «Fiasko» ist Teil der «Tetralogie der Schicksallosigkeit», der Autor verarbeitet hierin seine Erfahrungen als Schriftsteller in einem autoritären Staatssystem.

In einer eigenwilligen, nebensatzreichen Sprache, ergänzt durch kaskadenartig in Klammer gesetzte, zahlreiche Hinzufügungen und Wiederholungen wird uns «der Alte» vorgestellt, ein erfolgloser Schriftsteller, der in armseligsten Verhältnissen lebt und dessen KZ-Roman über einen jüdischen Jungen im Vernichtungslager (sic!) vom Verlag abgelehnt wurde. Er ist zu journalistischer Gelegenheitsarbeit und zu Übersetzungen genötigt, nimmt jedoch immer wieder seinen Ordner «Ideen, Skizzen, Fragmente» zur Hand, ohne aber tatsächlich einen neuen Stoff zu entwickeln. Die Perspektive wechselt in diesem ersten Teil des Buches häufig zwischen auktorialer und personaler Erzählsituation, was Kertész hier neben seiner ungewöhnlichen Syntax bewusst als Stilmittel einsetzt. Eines Tages aber spannt der Alte plötzlich einen Bogen in seine Schreibmaschine und tippt in Grossbuchstaben «FIASKO» in die Mitte der ersten Zeile.

Im zweiten, größeren und nun ganz konventionell erzählten Teil lesen wir genau diesen Roman. Er handelt von einem Schriftsteller namens Steinig, der in die kafkaesken Welt eines nicht benannten Staates hineingerät und dort Wundersames, Willkürliches und kaum Erklärliches erlebt, ohne recht zu wissen, welche Mächte da am Werke sind. Sein Leben nimmt beruflich und privat immer wieder völlig überraschende Wendungen, und zwischendurch findet er sogar Zeit, einen Roman zu schreiben, der aber abgelehnt wird. Er lernt immer mehr Menschen kennen, sein beliebtester Treffpunkt ist ein Lokal namens «Südsee». Dort verkehrt auch Berg, ein geheimnisvoller Mann, der ebenfalls schreibt und ihm eines Tages nach langem Zureden aus seinem Manuskript mit dem Titel «Ich, der Henker» vorliest, worauf sich eine kontroverse Diskussion anschließt. Am Ende schließlich erfährt Steinig, dass sein Roman doch gedruckt wird. Der Alte aber, der all das geschrieben hat, ist skeptischer als seine Romanfigur: «Seine Person hat er zu einem Gegenstand gemacht, sein hartnäckiges Geheimnis ins Allgemeine verwässert, seine unaussprechliche Wirklichkeit zu Zeichen destilliert», sein einzig mögliches Buch würde nun «das Massenschicksal der anderen Bücher» teilen.

Es ist keine leichte Kost, die da auf ihren Leser wartet. Kertész hat kunstvoll nach Art russischer Matroschka-Puppen drei Romane ineinander verschachtelt und dabei ein unbequemes Thema aufgearbeitet. Er durchleuchtet die Düsternis der menschlichen Seele in unglaublich vielen, tiefsinnigen Gedankengängen. Wer sich die Zeit nimmt und seinen Reflexionen willig folgt, den dürfte diese Lektüre ungemein bereichern.

Bewertung vom 08.08.2014
Laxness, Halldór

Am Gletscher


sehr gut

Deshalb lesen wir doch Romane

Island kann sich einer reichen literarischen Tradition rühmen, begründet durch bedeutende, in Prosa geschriebene Sagas und andere Dichtung. Als berühmtester, mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichneter Schriftsteller gilt Halldór Laxness, der den Preis 1955 verliehen bekam für die « lebendige epische Kraft seiner Prosa, die die großartige isländische Erzählkunst zu neuer Blüte geführt hat». Zu seinem Spätwerk, in dem er sich von gesellschaftlichen und sozialen Themen abwendete und wieder den einzelnen Menschen in seiner Sinn- und Glückssuche in den Mittelpunkt stellte, zählt der 1975 erstmals in der DDR auf deutsch erschienene Roman «Seelsorge am Gletscher», der in der neueren, vorliegenden Ausgabe «Am Gletscher» betitelt ist. Schon nach den ersten Zeilen dieses Romans findet sich der Leser erstaunt in einem Sog nach ‚mehr-davon’ wieder, der seine Erwartungshaltung angesichts der offensichtlich isländischen, mutmaßlich also unvertrauten und womöglich drögen Thematik auf das Schönste konterkariert, und das auch noch in amüsanter Form.

Handlungsort ist eine kleine evangelische Gemeinde am Snæfellsjökull, einem Gletschervulkan in der isländischen Provinz, und wie schnell klar wird, steht dieser wahrhaft gottverlassene Ort stellvertretend für die ganze Welt. Es beginnt ganz lapidar: «Der Bischoff ließ Unterzeichneten gestern Abend zu sich kommen. Er bot mir eine Prise an. ‚Danke, davon muss ich niesen’, sagte ich». Der höchste Geistliche in Reykjavik beauftragt den jungen, unerfahrenen Theologen, die Zustände in dieser weit abgelegenen Gemeinde zu untersuchen. Die Seelsorge am Gletscher sei in Gefahr, der dortige Pfarrer halte keinen Gottesdienst ab, taufe die Kinder nicht und beerdige nicht die Toten, er habe seit zwanzig Jahren sein Pfarrgehalt nicht abgeholt. Eher er sich versieht, ist Vebi, Vertrauter des Bischofs, Unterzeichneter, der Ich-Erzähler also, auf der Reise zum Gletscher. Mit seiner unbeholfen wirkenden Erzählhaltung, dem häufigen Wechsel zwischen nüchterner Berichtsform und personalem Erzähler, erzeugt der Autor eine harmlos naive Stimmung, die das ungläubige Staunen des jungen Theologen verdeutlicht und unterstreicht.

Denn was der erlebt auf seiner Erkundungsreise, ich will das hier bewusst nicht weiter ausbreiten, das sprengt alle Vorstellungskraft in seiner Absurdität. «Wer nicht in der Poesie lebt, überlebt hier auf der Erde nicht», davon ist der unbotmäßige Pfarrer überzeugt. Ironisch, witzig, bauernschlau werden nacheinander die verschiedenen Protagonisten eingeführt, jeder ein in metaphysischen Sphären schwebendes Unikum, rational nicht fassbar in seinem Wesen. In all den ebenso urigen wie skurrilen Gestalten aber steckt eine tief wurzelnde Botschaft, werden philosophische Thesen hinterfragt, ist zeitlose Lebensweisheit erkennbar. Gerade in seinen vielen spirituellen Aspekten steckt eine Stärke dieses Romans, und auch wenn Laxness seine manchmal fast ausufernd üppige Phantasie mit deutlicher Ironie und viel Humor gewürzt in Text umsetzt, erreicht den laut lachenden Leser doch immer wieder auch der subtile Hintersinn der seltsam grotesken Handlung.

Am Ende der Geschichte, die natürlich, wen wundert’s, ebenso irrwitzig endet wie sie begonnen hat, findet sich der Held des Romans, auf der Rückreise von seiner Mission, mutterseelenallein in einer weglosen Ödnis wieder: «Ich hoffte, die Straße wiederzufinden», lautet kurz und bündig der letzte Satz. Nach all den mysteriösen Vorfällen ist auch der Leser so tief in ein wundersames Geschehen einbezogen, dass er seinerseits ein wenig Zeit brauchen dürfte, die Realität wiederzufinden. Aber genau deshalb lesen wir doch Romane, oder?

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.08.2014
Némirovsky, Irène

Suite française


ausgezeichnet

Ein literarischer Live-Mitschnitt

Dieses posthum, mehr als sechzig Jahre nach dem Tode der jüdischen Autorin erstmals veröffentlichte Romanfragment wurde in Frankreich als literarische Sensation gefeiert, was erstaunlich ist, wird doch die «Grande Nation» darin alles andere als ruhmreich beschrieben. Irène Némirovsky lebte als russische Exilantin und Schriftstellerin in Paris, wo ihr 1929 mit dem Roman «David Golder» der Durchbruch als Autorin gelang. Ihr Opus magnum «Suite française» blieb unvollendet, fertig wurden nur die ersten beiden Teile des fünfteilig angelegten Epos über den Zweiten Weltkrieg aus französischer Sicht. Wie man ihren im umfangreichen Anhang des Buches abgedruckten Notizen entnehmen kann, hatte sie dabei durchaus auch Tolstois «Krieg und Frieden» im Blick, wobei sie ihren Roman allerdings als zeitnah entstehende und damit bestmöglich authentische Erzählung nicht im Nachhinein, sondern quasi als Live-Mitschnitt niederschreiben wollte. Sie arbeitete bis unmittelbar vor ihrer Verhaftung am 13. Juli 1942 an ihrem Manuskript, einen Monat später starb sie in Auschwitz.

Der erste Teil des Romans mit dem Titel «Sturm im Juni» behandelt den bevorstehenden Einmarsch der deutschen Truppen 1940 in Paris. In Panik fliehen viele Franzosen Richtung Süden, wobei auf den heillos verstopften Fluchtwegen schließlich niemand mehr voran kommt, alles im Chaos versinkt. Némirovsky baut hier ein umfangreiches Figurenkabinett auf mit den verschiedensten Charakteren, die sie kapitelweise abwechselnd in etlichen parallel verlaufenden Strängen der Handlung auftreten lässt. Sie schafft damit ein großformatiges Panorama der französischen Gesellschaft, dargestellt speziell unter den moralischen Aspekten einer Ausnahmesituation wie der des Krieges. Vom einfachen Bauern über die verschiedenen Schichten der Bourgeoisie bis in höchste Kreise der Regierung hinein zeigen die Menschen ihr wahres Ich, sind Feiglinge oder Helden, Aufrechte oder Lumpen, der Exodus entlarvt allenthalben böse charakterliche Mängel. Und auch historische Gesichtspunkte sind im Spiel, wie man ihren Notizen entnehmen kann: «Niemand wird wissen, wie es zugegangen ist, es wird um alles eine solche Verschwörung aus Lügen geben, dass man daraus wieder einmal eine glorreiche Episode der französischen Geschichte machen wird».

Unter dem Titel «Dolce» wird im zweiten Teil, ein Jahr später, im Sommer 1941, die Okkupation im Dörfchen Bussy beschrieben, wobei die von General de Gaulle denn auch prompt heroisch verklärte Résistance der Franzosen hier von der Autorin als kleinmütiges Wegducken, als bloßes Ignorieren und ängstlich verborgenes Verachten der deutschen Besatzer dargestellt wird, die man bauernschlau übervorteilt, wo immer es geht. Insgeheim, zuweilen auch offen, bewundert man aber die einquartierten Soldaten, sie werden als korrekte, nette und oft auch gebildete Männer geschildert, mit denen man bald schon gute Kontakte hat, mehr noch, es entstehen natürlich auch zarte Liebesbande. Mit der Kriegserklärung gegen Russland endet dieser Teil dann ziemlich abrupt, alle deutschen Soldaten werden an die neue Front verlegt.

Dieser unter allen literarischen Aspekten großartige Roman ist ebenso aufwühlend wie das Schicksal der Autorin selbst, die ihren Tod voraussah, obwohl sie das Thema Judenverfolgung mit keiner Silbe erwähnt. «Gefangenschaft», «Schlachten» und «Frieden» sollten die drei folgenden Teile betitelt werden, wie wir aus ihren Notizen wissen, und dort sind auch ihre Überlegungen nachzulesen, wie sie die Fäden der Handlung zu verknüpfen gedachte, alles natürlich unter dem Vorbehalt der realen Entwicklung. Ein grandioses Werk zweifellos, die ergänzenden Informationen über seine Entstehung, die abenteuerliche Wiederentdeckung und seine Schöpferin aber machen es einzigartig.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.07.2014
Heidenreich, Gert

Die andere Heimat


gut

Besser lewe wie sterwe

Im Nachwort dieses Buches, um mal ganz am Ende zu beginnen, erläutert der bekannte Filmregisseur Edgar Reitz seine Motive, warum er den Autor beauftragt hat, «unseren Recherchen, Gesprächen, Motivsuchen im Hunsrück und Spielen mit den Figuren der Schabbach-Geschichte in einer freien literarischen Erzählung, unabhängig von jeglicher Filmdramaturgie, Ausdruck zu verleihen». Herausgekommen ist dabei «Die andere Heimat», eine Erzählung aus dem Hunsrück, in welcher der vielseitig begabte Autor Gert Heidenreich, Ex-Mann der aus dem Fernsehen bekannten Literatur-Kritikerin Elke Heidenreich, das entbehrungsreiche ländliche Leben in der Mitte des 19ten Jahrhunderts beschreibt.

Schabbach heißt das kleine Dorf, in dem der Schmied Johann Simon seine Familie recht und schlecht durchbringen muss, wobei Schicksalsschläge und Naturkatastrophen seine Mühen immer wieder zunichte machen, seine Existenz bedrohen. Geschildert wird das unglaublich karge Leben fast aller Menschen in dieser Dorfgemeinschaft, einzig der Großbauer und Bürgermeister muss wohl nicht hungern. Waldfrevel ist deshalb an der Tagesordnung, man sammelt Pilze, Beeren, Eicheln, Bucheckern, natürlich auch Holz und anderes mehr, obwohl strenge Strafen drohen, wenn man erwischt wird. Die Kindersterblichkeit ist hoch, die medizinische Versorgung rudimentär, mit vierzig Jahren ist man alt. Jakob, jüngster Sohn des Schmieds, träumt vom besseren Leben in Brasilien, verschlingt geradezu alle Bücher über Südamerika und ist fest entschlossen, bei sich bietender Gelegenheit auszuwandern, in «die andere Heimat» also, um dort sein Glück zu machen. Es kommt anders, mehr sei hier aber nicht verraten.

Natürlich gibt es auch allerlei Liebesleid, Verwirrungen zwischen den Geschlechtern, es finden nicht immer die zusammen, die eigentlich zusammen gehören, und oft ist die Vernunft und wirtschaftliches Kalkül der Ehestifter, den Gefühlen zum Trotz. Der Autor entwickelt seine Geschichte in etlichen Rückblenden, seine diversen Figuren sind anschaulich und glaubhaft beschrieben, genau so, wie sie das karge Landleben geformt hat. Für fast alle Dialoge benutzt er die heimische Mundart, - was mich aber nicht weiter gestört hat, zu meinem Erstaunen, muss ich hinzufügen. Denn Fontanes Roman «Unterm Birnbaum» zum Beispiel, mit vielen Passagen in Plattdeutsch, ist für mich schlichtweg unlesbar, obwohl ich bekennender Fontane-Fan bin, - ich bin deshalb übrigens auf die Hörbuchversion mit Westphal ausgewichen, aber das nur nebenbei. Hier bei Gert Heidenreich nun verstärken seine, für mich jedenfalls, deutlich leichter lesbaren Mundart-Dialoge das Lokalkolorit, die zu vermittelnde Atmosphäre wird wunderbar homogen dadurch und wirkt überaus authentisch. Sprachlich ist die detailreich erzählte Geschichte geradlinig und unprätentiös angelegt, insgesamt jedoch ziemlich holzschnittartig wirkend, fast naiv. Leicht lesbar mithin, wobei allenfalls die beachtliche Figurenfülle, zusätzlich erschwert noch durch einige Namensvarianten, zu erhöhter Aufmerksamkeit (oder zum Spickzettel) zwingt.

Zweifellos ist dieses Buch vor allem auch ein Zeitdokument, gut recherchiert offenbar und ebenso komprimiert wie stimmig über ein heute weitgehend unbekanntes Milieu informierend, in jenen Zeiten angesiedelte Literatur bewegt sich ja sonst zumeist in Adelskreisen oder in der Bourgeoisie. Der Leser begegnet immer wieder einer erstaunlichen Gottergebenheit, ein Fatalismus übrigens, der fast allen Protagonisten zueigen ist und uns Heutige nun doch einigermaßen überrascht. Aber man trifft eben auch auf Figuren wie die vom Schicksal gebeutelte Lotte, die weinselig ihre schlichte Devise verkündet: «Besser lewe wie sterwe». Dem ist nichts hinzuzufügen.

Bewertung vom 25.07.2014
Boyle, T. C.

Greasy Lake und andere Geschichten


gut

Amerikanisch, daran ist kein Zweifel

Der als Thomas John Boyle geborene US-amerikanische Schriftsteller änderte seinen Namen in jungen Jahren zu Ehren eines schottischen Vorfahren in Tom Coraghessan Boyle, bekannt geworden ist er dann jedoch unter dem Kürzel T. C. Boyle. Wie bei seinem Namen sind auch im Werk des Autors unbändige Kreativität und sprachliche Knappheit die entscheidenden gestalterischen Merkmale, der 1985 erstmals veröffentlichte Band «Greasy Lake und andere Geschichten» ist ein prägnantes Beispiel dafür. In ihm sind vierzehn seiner Kurzgeschichten zusammen gefasst, insgesamt gibt es mehr als sechzig davon, die von ihm in etlichen derartigen Bänden publiziert wurden, gleichwertig neben seinen Romanen.

Und es geht gleich richtig zu Sache in der titelgebenden ersten Geschichte «Greasy Lake», eine durchaus schockierende Erzählung über eine Gruppe Jugendlicher, von der es da im ersten Absatz heißt: «Wir waren neunzehn. Wir waren böse. Wir lasen André Gide und nahmen ausgeklügelte Posen ein, um zu zeigen, dass wir auf alles schissen. Abends fuhren wir meistens zum Greasy Lake rauf». Es folgt ein von Alkohol und Drogen geförderter, völlig sinnloser Gewaltexzess. Wie hier sind auch in den anderen Kurzgeschichten zumeist Außenseiter der Gesellschaft als Protagonisten vertreten, oft komische Sonderlinge, die Boyle mit wenigen Worten glaubhaft und treffend skizziert. Er tut dies mit einer unterschwelligen Ironie, die aus dem ernstesten Geschehen eine amüsante Story entstehen lässt. Sprachlich ist all das brillant umgesetzt durch einen metaphernreichen, gleichwohl aber eher nüchternen, knappen und pointierten Schreibstil, der mich zuweilen an Hemingway erinnert hat.

Boyles Themen sind nicht nur originell, sie verblüffen den Leser auch durch ihre Vielfalt. Da geht es um eine verhängnisvolle Leihmutterschaft, eine heimliche Liaison des amerikanischen Präsidenten Eisenhower mit der Frau des KPdSU-Generalsekretärs Chruschtschow, einen grausamen indischen Bettlerkönig, um üble Geschäfte mit naiven Überlebensängsten, fanatische Walschützer, den Erfolg der Neumondpartei in den USA, einen gescheiterten Elvis-Presley-Imitator, die Einbürgerung der Stare 1890 mit ihren unerwünschten Folgen 1980, es geht um den grotesken materiellen Mangel im kommunistischen Russland und anderes mehr. Detailreich geschildert und immer wieder überraschende Wendungen nehmend, wobei wie gesagt auch der Humor nicht zu kurz kommt, sind diese wahrhaft abenteuerlichen Geschichten eine gleichermaßen abwechslungsreiche wie kurzweilige Lektüre.

«Literatur kann in jeder Hinsicht großartig sein, aber sie ist nur Unterhaltung». Wie stimmig dieses Zitat von T. C. Boyle ist, speziell für ihn persönlich, das zeigt sich für mich recht deutlich in der vorliegenden Sammlung von Geschichten. Der Autor hinterlässt mit ihnen beim Leser keine nachhaltige Wirkung, man hat sie vergessen, kaum dass man sie gelesen hat, mithin eine ziemlich belanglose Lektüre, für die U-Bahn oder den Badestrand geeignet. Gut und Böse sind da immer klar getrennt, Zwischentöne fehlen weitgehend, Philosophisches gar ist nirgendwo zu finden, obwohl die interessanten Themen ja bestens dazu geeignet wären, die Dinge etwas tiefer auszuloten, ihnen auf den Grund zu gehen, auch andere Facetten zu beleuchten. Man wird also nicht gerade bereichert durch dieses Buch, aber immerhin sehr gut unterhalten, amerikanisch eben, daran ist kein Zweifel.