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Igelmanu
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Insgesamt 1033 Bewertungen
Bewertung vom 26.04.2015
Bischoff, Marc-Oliver

Golanhöhen


ausgezeichnet

»Etwas raschelte hinter ihr im steif gefrorenen Laub. Sie fuhr herum. Eine Bewegung, ein dunkler Fleck am Boden. Eine Saatkrähe, furchterregend groß, die sie aus schwarzen Knopfaugen anstarrte. Sie legte den Kopf schräg. Der Schnabel sah gefährlich spitz aus. Überhaupt waren Krähen richtig große Vögel. Was man erst dann bemerkte, wenn sie nur ein paar Schritte von einem entfernt im Gras hockten und einen anstarrten.
Die Anwesenheit des Tieres jagte Rita Schauer über den Rücken. Der Vogel machte ein paar Sprünge, dann landete er auf etwas, das kaum drei Meter von Rita entfernt im Gras lag. Etwas, das sie bis jetzt nicht bemerkt hatte, obwohl es so groß war. Die Krähe stieß ihren Schnabel in die Beute, auf der sie hockte, und zog etwas Längliches heraus. Auf den ersten Blick glich es einem Wurm.
Fasziniert beobachtete Rita das Schauspiel. Dann erkannte sie, dass es sich bei der Beute im Gras nicht um einen Tierkadaver handelte.
Sondern um eine menschliche Leiche.«

Frankfurt am Main. Die Wohngegend am Ben-Gurion-Ring ist wirklich keine, in der man gern leben möchte. Mit schöner Regelmäßigkeit muss die Polizei dort anrücken und auch das Haus, vor dem die Leiche gefunden wurde, ist für Gideon Richter und seine Kollegen kein unbekanntes. Zunächst vermutet jeder einen Suizid – die Tote wäre nicht die erste Person, die ihr Leben in diesem sozialen Brennpunkt durch einen Sprung vom Dach beendet. Doch bald schon kommen Zweifel an dieser Theorie auf und Gideons Team muss sich nun, nach dem Fund einer Babyleiche in der Nacht zuvor, um zwei Tötungsdelikte kümmern. Keine einfache Situation für Gideon, dem der durch die 3-Monats-Koliken seines Söhnchens hervorgerufene Schlafmangel an die Substanz geht. Zumal er, wenn er denn mal schläft, regelmäßig von Alpträumen gequält wird…

Das war mal wieder ein Krimi ganz nach meinem Geschmack! Die Fälle sind spannend und bleiben es auch, da man beim Lesen immer wieder auf falsche Fährten gelockt wird. Die Ermittlungsarbeiten wirkten auf mich sehr realistisch, ein Eindruck, der unter anderem durch Kompetenzgerangel im Präsidium noch unterstützt wurde. Besonders gefiel mir ein Kapitel, in dem zeitgleich in mehreren Verhörräumen Verdächtige und Zeugen vernommen wurden – den ständigen Wechsel von einem Verhör zum anderen fand ich ungemein spannend!
Sehr realistisch wirkten auch die Beschreibungen des Umfelds – die Wohnblöcke am Ben-Gurion-Ring, die den Spitznamen „Golanhöhen“ tragen und als sozialer Brennpunkt gelten, sah ich richtig vor mir. Auch die dort lebenden Menschen und ihre Schicksale wurden ausdrucksstark beschrieben, sozialkritisch die Ursache für viele Probleme auf den Punkt gebracht:
»Man kann den Leuten nicht in den Kopf reinschauen. Und es ging mich ja auch nichts an.«
»Genau das ist das Problem … Es geht nie jemanden was an.«

Aktuell wirkt der Krimi auch, wenn er Themen wie Blockupy und Teilzeitarbeit aufgreift. Das Thema Kindstötungen ist ohnehin leider immer ein aktuelles, dem kaum jemand emotionslos gegenüberstehen dürfte.

Auch die private Seite Gideons und einiger anderer Ermittler fand ich sehr gut dargestellt. Seine Ausgelaugtheit, Übermüdung und verstärkte Reizbarkeit können die meisten Menschen, die sich schon einmal um die Rund-um-die-Uhr-Betreuung eines Säuglings kümmern mussten, sicher gut nachvollziehen. Außerdem hat Gideon eine unglückliche Neigung dazu, sich durch unüberlegtes Handeln in Schwierigkeiten zu bringen. An einer Stelle habe ich kopfschüttelnd vor meinem Buch gesessen und Gideon mit unschönen Vokabeln wie „dämlich“ bedacht, aber andererseits wirkte er dadurch sehr menschlich – und das wiederum finde ich sympathisch. Den Umfang, in dem sich das Buch mit dieser menschlichen Seite seiner Ermittler erfasst, empfand ich als genau richtig: Genug, um als Leser eine Beziehung zu ihnen aufzubauen aber nicht so viel, dass dadurch Spannung und der Fall in den Hintergrund treten würden.

Fazit: Toller Krimi, spannend und realitätsnah.

Bewertung vom 17.04.2015
Riggs, Ransom

Die Insel der besonderen Kinder / Die besonderen Kinder Bd.1


sehr gut

»Gerade als ich mich an den Gedanken zu gewöhnen begann, dass dieses Leben keine großen Abenteuer für mich bereithalten würde, geschah etwas Seltsames. Es war das erste einer Reihe von Ereignissen, und es versetzte mir einen furchtbaren Schock. So wie alles, was einen für immer verändert, teilte es mein Leben in zwei Hälften: vorher und nachher. Und wie bei so vielen der außergewöhnlichen Dinge, die sich noch ereignen würden, war mein Großvater, Abraham Portman, darin verwickelt.«

Englewood, eine kleine Küstenstadt in Südflorida. Sein Großvater ist der Mensch, der dem 15jährigen Jacob am nächsten steht. Als Jacob noch klein war, erzählte er ihm Geschichten von einer geheimnisvollen Insel vor der walisischen Küste, auf der er in einem Kinderheim aufwuchs. In einem ganz besonderen Kinderheim mit ganz besonderen Kindern. Jedes von ihnen besaß phantastische Fähigkeiten und sie erlebten herrliche Abenteuer. Nun, mit 15 Jahren, ordnet Jacob diese Erzählungen natürlich auf der gleichen Stufe ein wie alle anderen Märchen, die Großeltern gewöhnlich ihren Enkeln erzählen. Und die jüngsten Ängste Abrahams vor irgendwelchen Monstern sind ganz sicher nur Folgen seiner Altersverwirrtheit.
Als der Großvater unter sehr mysteriösen Umständen ums Leben kommt, ist Jacob schockiert. Und die letzten Worte, die Abraham seinem Enkel noch zuflüstern kann, irritieren ihn völlig. Haben die alten Geschichten womöglich doch einen wahren Kern? Wenn Jacob das herausfinden und dem Wunsch seines Großvaters entsprechen will, muss er sich aufmachen. Zur Insel Cairnholm vor der walisischen Küste…

Auf dieses Buch war ich nach dem Lesen vieler begeisterter Rezis neugierig geworden. Nun, nachdem ich es selbst gelesen habe, kann ich sagen, dass ich viel Spaß dabei hatte, obwohl es nicht zu meinen bevorzugten Genres gehört.

Der Schreibstil gefiel mir sehr und das Buch las sich sehr flüssig. Der Autor fand wunderbare Worte, um eine mal gruselige, mal phantastische Atmosphäre zu schaffen. Mir gefielen dabei vor allem die herrlich schaurigen Abschnitte und auch die Kapitel, die sich mit Jacobs psychischer Belastung nach dem Tod seines Großvaters befassten, empfand ich als sehr eindringlich. Unterstützt wird das Ganze durch eine Reihe von sehr interessanten Fotos – einen Vorgeschmack dazu sieht man auf dem Cover. Der Rest ist ein Mix aus Abenteuer und Phantasy und nach dem spannenden Ende möchte ich nun vor allem eins wissen: Wie geht es jetzt weiter?

Fazit: Spannend, gruselig, phantastisch – schreit geradezu nach Fortsetzungen.

»Finde den Vogel. In der Schleife. Auf der anderen Seite vom Grab des alten Mannes. 3. September 1940. … Emerson – der Brief. Erzähl ihnen, was passiert ist.«

1 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.04.2015
Ehlers, Jürgen

Der Wolf von Hamburg


gut

»Das ist sie?« Bernd deutete auf den Leichnam einer Frau, der auf dem vom Regen der Nacht noch nassen Kopfsteinpflaster lag. Vincent nickte. Die Tote hatte schwere Bissverletzungen im Kopf- und Halsbereich. Die Oberlippe war aufgerissen, die linke Wange war regelrecht zerfetzt worden, sodass das Jochbein freilag. … »Sie ist totgebissen worden«, sagte der Mediziner. »Jedenfalls sieht es so aus. Zahlreiche Bisse in Gesicht und Hals. Hier, hier hat er ihre Kehle erwischt, das hat ihr den Rest gegeben.«

Der grausige Leichenfund gibt dem Hamburger Hauptkommissar Bernd Kastrup und seinem Team einige Rätsel auf, Todesfälle durch Tierbisse sind in einer Großstadt schließlich nicht an der Tagesordnung. Zudem findet sich bei der Toten ein Zettel mit dem Wort „Wolf“. Was mag das bedeuten? Sollten die Bisswunden etwa nicht von einem Hund, sondern von einem Wolf stammen? Für Kastrup ist klar: Hier wird ein Tier als Mordwerkzeug genutzt.
Und während die aus unbekannter Quelle informierte Presse die Bevölkerung in Angst versetzt, erfolgt schon der nächste Angriff…

Dieser flott zu lesende Krimi überrascht mit Ideenreichtum und interessanten Charakteren. Durchaus einfallsreich arbeitet der von Rache getriebene Täter seine Todesliste ab. Besonders gut gefielen mir die ebenfalls überraschende Auflösung und ein geradezu klassischer Showdown am Ende.
An ein paar Stellen erschien mir der Handlungsverlauf aber nicht logisch bzw. unrealistisch. Auch das Handeln und die Beweggründe einiger Charaktere waren mir nicht immer schlüssig – ich glaube, da hätte man noch mehr draus machen können. Die Beziehungsebenen zwischen dem Täter und seinen Opfern sowie zwischen einigen Opfern strotzten nur so von Konflikten, da hätte ich mir mehr Tiefe gewünscht. Mit Bernd Kastrup konnte ich gar nicht warmwerden, hingegen war sein Kollege Vincent für mich ein richtiger Sympathieträger.

Fazit: Flotter und einfallsreicher Krimi mit kleinen Logiklöchern. Prima für zwischendurch. Ich vergebe 3,5 Sterne.

»Sie hatte ihn verraten, genau wie all die anderen. Aber irgendwann würde die Stunde der Abrechnung kommen. Acht lange Jahre hatte er auf diesen Moment gewartet. Nun war es soweit.«

Bewertung vom 09.04.2015
Winter, Mia

Janusmond


weniger gut

»Leon spürte, dass sie sich über ihn unterhielten. Er lächelte die Frauen an. Das mochte er, diesen Moment. Die Zeit, da sie noch nicht ahnten, wie er in Wirklichkeit war.«

Mit diesem Krimi ging es mir ähnlich wie besagten Frauen mit Leon. Als ich die Leseprobe las, ahnte ich noch nicht, wie das Buch in Wirklichkeit war.

Ein heißer Sommertag in einer Stadt namens Louisson in Südfrankreich. Als Inspektor Christian Mirambeau mit dem Deutschen Leon Bernberg spricht, der seine Zwillingsschwester Lune sucht, glaubt er noch an einen normalen Vermisstenfall. Lune war vor ungefähr 11 Jahren nach Louisson gezogen, um dort zu studieren. Seit über 10 Jahren soll sie spurlos verschwunden sein und Christian ist zurecht irritiert, weshalb nun erst nach ihr gesucht wird. Zumal der Bruder eigentlich nur eine Bescheinigung haben möchte, damit Lune in Deutschland für tot erklärt werden kann. Da er ein guter Polizist ist, stellt er natürlich nicht einfach eine solche Bescheinigung aus, sondern begibt sich auf die Suche nach der Verschwundenen. Während dieser Suche wird es in seiner Stadt einige grausame Morde geben, er wird auf weitere lang verschwiegene Verbrechen stoßen und ganz nebenbei sein bisheriges Leben auf den Kopf stellen.

Wie schon gesagt, die Leseprobe gefiel mir gut. Leons Gedanken kreisen unaufhörlich um seine Schwester, man bemerkt diese besondere innige Verbundenheit, die man bei Zwillingen häufig erlebt. Die anfänglichen Rückblenden in seine Kindheit offenbaren ein stark gestörtes Verhältnis zwischen seiner Schwester und ihrer Mutter. Spontan dachte ich mir: Hier wäre ganz dringend eine Familientherapie nötig gewesen, oder alternativ ein guter Kinderpsychologe für die Tochter und ein Spitzentherapeut für die Mutter. Stattdessen ergehen sich Mutter und Großmutter immer wieder in der Aussage:
»Dieses Mädchen bringt das Schlechteste in den Menschen zum Vorschein.«

Bis hierhin war ich immer noch sehr neugierig. Ich erwartete eine spannende Handlung mit mehreren psychisch kranken Menschen. Diese kranken Menschen sind auch zweifelsfrei da, sogar noch weit mehr als die schon genannten, aber Spannung kam für mich leider überhaupt nicht auf. Ich fand das sehr schade, denn die Ansätze der Geschichte waren prima. Aber die Charaktere boten, auch in Bezug auf ihre Taten, für mich keine Überraschungen. Dafür redeten sie einfach allesamt viel zu viel. Leicht überspitzt könnte ich zusammenfassen: Sie dachten über all ihre Probleme, über Gott und die Welt und insbesondere ihr eigenes Schicksal nach, dann schrieben sie das alles auf und schickten es als Brief an einen der anderen Charaktere, der vieles davon schon wusste und selber schon erzählt hatte, aber trotzdem noch mal den ganzen Brief vorlas. Ich vermute, das sollte die Störung der jeweiligen Personen verdeutlichen, allerdings hätte ein Bruchteil davon auch ausgereicht, um diesen Zweck zu erfüllen.

Ein Teil der Handlung spielte im städtischen „Hurenviertel“, spezielle sexuelle Vorlieben wurden thematisiert und es gab einige Charaktere mit freizügiger Lebensweise. Auch hier hätten diverse Szenen sehr interessant oder erotisch sein können, wenn sie nicht ebenfalls total zerredet worden wären.

Hinzu kamen noch ein paar für mich absolut unrealistische Dinge. Beispiel: Ich weigere mich einfach zu glauben, dass ein gestandener Polizist einen Mann, den er im Rahmen einer Ermittlung kennengelernt hat und seit drei Tagen kennt, in seiner Wohnung aufnimmt und ihn dort tagelang mit seiner Ehefrau und drei kleinen Kindern allein lässt, weil er nicht mehr in sein Hotel zurückmöchte, nachdem er dort sein Zimmer zerlegt hat. Vermutlich sollte mich das davon überzeugen, was für ein überaus einnehmendes Wesen dieser Mann hat, aber ich glaube es einfach nicht.

Fazit: Gute Idee, aber in der Umsetzung für meinen Geschmack völlig totgeredet.

Bewertung vom 06.04.2015
Doerr, Anthony

Alles Licht, das wir nicht sehen


ausgezeichnet

1940, in einem Waisenhaus in Essen, mitten im Ruhrgebiet. Trotz seiner außergewöhnlichen technischen Begabung scheint der Weg von Werner Hausner vorbestimmt. Niemand außer Frau Elena, der Nonne, die das Haus leitet, glaubt an ihn. Unaufhaltsam rückt der Tag näher, an dem er wie alle Jungen aus seiner Gegend erstmalig in die Zeche einfahren soll. Doch es ist auch Krieg und irgendjemand erkennt, dass ein Junge mit einer solchen Begabung von großem Nutzen sein kann und es wert ist, gefördert zu werden. Ein Glück und eine große Chance für Werner?
Zur gleichen Zeit in Saint-Malo, einem kleinen Ort an der Küste der Bretagne. Die früh erblindete Marie-Laure ist mit ihrem Vater aus dem brennenden Paris hierhin geflüchtet. In einer Welt, die ihr Tag für Tag weniger Sicherheit bietet, versucht sie, sich nur durch Tasten, Hören und Riechen zurechtzufinden, liebevoll angeleitet durch ihren Vater. Doch dieser führt auch einen wertvollen Schatz mit sich, den er im Auftrag des „Muséum National d’Histoire Naturelle“ vor den deutschen Besatzern in Sicherheit bringen soll. 1944 wird eine Spezialeinheit der Wehrmacht in Saint-Malo eindringen, unter ihnen ein junger, begabter Techniker…
Das ist nun wieder eine von den Rezensionen, bei denen ich nach angemessenen Worten suche. Nach dem Beenden des Buchs habe ich das Gefühl, dass ich nur langsam wieder in die Wirklichkeit auftauche, zu tief hat mich die Lektüre in ihren Sog gezogen.
Das Buch verfolgt zwei Schicksale aus der Zeit des 2. Weltkriegs. Zwei Schicksale, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten. Auf der einen Seite ein blindes, französisches Mädchen und auf der anderen Seite ein deutscher, hochbegabter Junge. Beide haben, abgesehen vom Krieg, mit ihren ganz persönlichen Problemen zu kämpfen und beide Charaktere sind so sympathisch, dass ich sie von Anfang an in mein Herz schloss und das ganze Buch mit einem flauen Gefühl im Magen las. Bei dem Realismus, mit dem sämtliche Szenarien dargestellt wurden, fürchtete ich schon früh, dass es für wenigstens einen der beiden kein gutes Ende geben wird.
Weitere wundervolle Charaktere gesellten sich zu den beiden: Werners Schwester Jutta, die Leiterin des Waisenhauses, sein Freund Frederick, Maries Vater und ihr Großonkel Etienne. Ach, es kamen noch weitere hinzu, mit denen ich mitfieberte und hoffte, kaum ein Charakter im Buch ließ mich eine neutrale, unbeteiligte Leserin bleiben. Es gab die anderen Charaktere, die eindeutig bösen, denen ich ohne schlechtes Gewissen fiese Dinge an den Hals wünschte und die, bei denen ich mich mal schüttelte und ihnen im nächsten Moment Sympathie entgegenbrachte – weil ich erkannte, wie sie zu dem werden konnten, was sie waren und weil ich in ihnen noch gute Dinge entdecken konnte.
Die Geschehnisse waren wie die Charaktere. Manche wunderschön, andere abgrundtief schrecklich. Und manche ließen mich sehr nachdenklich werden. Ich glaube, es ist nicht möglich, dieses Buch zu lesen ohne sich immer mal wieder die Frage zu stellen, was man selbst getan hätte.
Zu den schönen Dingen gehören beispielsweise die Beschreibungen, wie Marie sich ihre Welt ertastet. Der Autor schuf wundervolle Sätze und Abschnitte, die mich beim Lesen tief bewegten. Diese herrliche Sprache zieht sich durch das ganze Buch, immer wieder lösten die gelesenen Worte bei mir starke und tiefe Empfindungen aus.
Ich möchte jeden einladen, sich auf dieses Buch einzulassen. Mich bewegte es zutiefst und führte mich einmal durch die ganze Skala möglicher Gefühle. Spannend war es zudem, denn man hofft und fiebert so sehr mit – aber wie wird es ausgehen? Die kurzen Kapitel, die mal von Werner, mal von Marie berichteten, verführten mich ständig, noch eins und noch eins zu lesen. Andererseits las ich nicht wenige Kapitel zweimal, einfach um die Worte noch mal aufzunehmen und um ja keins zu verpassen. Und nach jedem Zuklappen lebte die Handlung in meinem Kopf weiter…
»Öffnet eure Augen und seht mit ihnen, was ihr könnt, bevor sie sich für immer schließen.«

Bewertung vom 01.04.2015
Weiss, David G. L.

Recht


ausgezeichnet

Die grässlich zugerichtete Leiche, die an diesem Morgen aus einer Müllpresse in Wien gezogen wird, schockiert Müllwerker und die herbeigerufene Polizei. Deren Entsetzen wird sogar noch größer, als die ersten Rückmeldungen aus der Gerichtsmedizin kommen…
»Irgendein krankes Schwein hat ihm bei lebendigem Leib einen Schnitt im Genick zugefügt und durch die Öffnung die Zungenspitze hinten durch den Hals gezogen.«

Fast zeitgleich geschehen weitere Morde, teils in Frankfurt am Main, teils in Wien. Eine Ethnologin der Universität Frankfurt erhält eine Postkarte mit einer schwarzen Billardkugel und dem Text „Sie stehen auf Roter Erde – Laufen Sie!“, einem Ex-Soldaten in Wien bringt der Paketbote eine Phiole mit roter Erde. Zunächst erkennt niemand einen Zusammenhang, aber bald schon stehen der Wiener Chefinspektor Ernst Wotruba und der Frankfurter Kriminalhauptkommissar Sebastian Kniewasser vor Problemen, die sie sich nie hätten träumen lassen…

„Thrillern für Anspruchsvolle“ – so lautete eine Ankündigung, die ich zu diesem Buch las und die ich hier übernehmen möchte, weil sie so passend ist. Tatsächlich passiert enorm viel und es erschien mir zweckmäßig, mir ein Schaubild der Personen, Taten, Orte und der bestehenden Verbindungen zu erstellen. Das war hilfreich und machte zudem Spaß ;-) Überhaupt machte mir aber das ganze Buch Spaß.

Spannung ist reichlich da, es gibt interessante Charaktere, diverse Verschwörungen und wirklich jeder hat irgendwelche Geheimnisse. Ich habe einige Male vor meinem Schaubild gesessen, mir neue Tathergänge, Motive und Lösungen überlegt um sie kurz danach zu verwerfen und neu zu raten. Selbst Dinge, von denen ich lange annahm, dass sie zutreffen würden, stellten sich am Ende als falsch heraus. Was soll ich sagen? Ich fand das klasse!

Wenn ich nicht gerade gerätselt habe, habe ich mich amüsiert. Auch dafür sind genügend Anlässe vorhanden. Es gibt ein paar herrlich lustige Stellen, mittendrin, zwischen diversen Morden. Dieser Mix gefiel mir sehr. Schön fand ich auch, dass die einzelnen Personen in ihren jeweiligen Dialekten „sprachen“. Zugegeben: Den ein oder anderen Satz Hessisch, Sächsisch oder Österreichisch musste ich zweimal lesen, aber das war zum einen sehr unterhaltsam und unterstrich zudem noch die Komplexität der Ermittlungen ;-)

Und dann gibt es natürlich das große Thema, das sich durch das ganze Buch zieht: Recht und Gerechtigkeit. Schon gleich zu Beginn wird der Leser mit so manchen Situationen konfrontiert, die man nur zu gut aus dem Alltag kennt. Situationen, in denen man aus der Haut fahren könnte, in denen man sich so ungerecht behandelt fühlt – und zeitgleich so hilflos ist…
»Diese Antwort war die nächste Ohrfeige. Sie bedeutete, Gernot konnte zwar Anzeige erstatten, aber die ganze Sache würde einfach im Sande verlaufen. Der Typ fiel durch den Rost der Gerechtigkeit.«

Die meisten Menschen fressen diesen Ärger in sich rein, andere kämpfen für die Gerechtigkeit. Aber mit welchen Mitteln? Wann wird Recht zu Unrecht? Wie fließend die Grenzen sind, zeigt dieses Buch.

Fazit: Spannend, komplex, unterhaltsam und anspruchsvoll. Ein tolles Buch!

»Der Rechtsweg ist unentschlossen … Aber man trifft sich immer zweimal im Leben, mein Freund …«

Bewertung vom 27.03.2015
Kidd, Sue Monk

Die Bienenhüterin


sehr gut

South Carolina im Juli 1964. Die 14jährige Lily hat nicht gerade das, was man eine glückliche Kindheit nennen könnte. Ihre Mutter starb, als sie ein kleines Mädchen war. Geschwister, Großeltern oder andere Verwandte hat sie nicht, nur ihren Vater. Und der ist gewalttätig und gemein, ist so wenig Vater, dass sie ihn nicht Daddy nennt, sondern T. Ray. Die einzig guten Dinge in ihrem Leben sind die farbige Hausangestellte Rosaleen und die Bienen, die nachts durch ihr Zimmer fliegen. So scheint es wie ein Zeichen des Himmels zu sein, dass sie, als sie eines Tages von zuhause wegläuft, bei drei farbigen Schwestern Unterschlupf findet, die sie die Bienenzucht lehren. Und noch viel mehr…

Dieses Buch gehört wieder zu der Sorte, die mich packt und während des Lesens ständig emotional durchschüttelt, mich mal „ist das schön“ seufzen lässt um mich im nächsten Moment richtig wütend werden zu lassen.

Da ist zunächst mal der Ort der Handlung, die Südstaaten der USA. Sehr schön spiegeln die Beschreibungen die Widersprüchlichkeiten dieser Gegend wieder. Da sind einerseits enorme Weite, andererseits sich daraus ergebende Einsamkeit. Da sind (wie hier in den Sommermonaten) glühende Hitze und auf der anderen Seite herrliche Schilderungen von Flora und Fauna. Wie wichtig Wasser in einer solchen Ecke der Welt ist, merkt man deutlich, wenn ein Fluss oder ein Regenguss beschrieben werden. Ich sehe dann das Wasser richtig vor mir, fühle, wie erfrischend es ist, höre die Geräusche, die es macht.
Eine große Rolle kommt in diesem Buch den Bienen zu. Ich gestehe, dass ich zwar keine Angst vor Bienen habe, auch nicht allergisch bin, ich es mir aber trotzdem nicht als schön vorstellen kann, wenn diese Tiere im Schwarm um mich herumfliegen würden. Auch meine Sympathie gegenüber anderem Krabbeltier hält sich schwer in Grenzen, umso faszinierter habe ich hier von Menschen gelesen, die diese Tiere wirklich lieben. Ganz nebenbei erfährt man so einiges über Bienen und die Imkerei – ich fand das sehr interessant und habe mir heute früh gleich mal ein leckeres Honigbrot gemacht ;-)

Kommen wir zur Zeit der Handlung. Das amerikanische Bürgerrechtsgesetz von 1964 verurteilte die Rassentrennung, verbot „jegliche auf Rasse, Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder nationaler Herkunft begründete Diskriminierung in öffentlichen Einrichtungen, in der Regierung und in der Arbeitswelt.“ Nun, bekannterweise bedeutet die Verabschiedung eines Gesetzes nicht, dass es auch mit der Umsetzung klappt. In diesem Buch erleben wir Menschen, farbige Menschen, die nun endlich die ihnen zustehenden Rechte durchsetzen möchten und brutal ausgebremst werden. Das sind dann so Stellen, an denen ich beim Lesen richtig wütend werde, an denen mir diese Ungerechtigkeiten förmlich auf den Magen schlagen! Aber das Buch ist fair genug, um auch „andere“ Weiße zu zeigen und um klarzumachen, dass Rassenvorurteile auch andersherum existieren.

Und dann das junge Mädchen, das nicht nur mit den normalen Widrigkeiten des Erwachsenwerdens zu kämpfen hat, sondern eine wirklich üble Ausgangssituation hat und sich zudem mit Schuldgefühlen herumplagen muss. Der Kontakt zu den Schwestern, die Lily aufnehmen, bringt ihr nicht nur einen Unterschlupf in der Not und Kenntnisse über Bienen, sondern auch Lebenshilfe in vielerlei Hinsicht. Ich habe mich lange Zeit gefragt, wie sich diese Situation wohl auflösen lässt und hatte entweder einen deprimierenden Schluss befürchtet oder einen übertriebenen „plötzlich-ist-heile-welt-und-alles-gut“ Schluss. Beides ist zum Glück nicht der Fall, das Ende wirkt angenehm realistisch.

Die Schilderung, durchgehend aus Lilys Sicht, ist sehr schön zu lesen. Lily hat manchmal eine herrlich trockene Art, die mir selbst in eigentlich ernsten Situationen ein Grinsen entlocken konnte.

Fazit: Eine herrliche Geschichte, zugleich leicht und anspruchsvoll, bedrückend und Hoffnung machend.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.03.2015
Pieper, Tim

Dunkle Havel


ausgezeichnet

»Schließlich hob Toni die transparente Tüte an, in der das Foto steckte. Als er es umdrehte und der Frau ins Gesicht blickte, stockte ihm der Atem. Für einen Moment stand die Welt still, kein Laut drang zu ihm durch. Auch wenn die katzengrünen Augen verweint waren, auch wenn sich die Flügel ihrer feinen Nase blähten, auch wenn sie ihre Lippen schürzte, konnte es keinen Zweifel geben. Er hatte ihr schönes Antlitz sofort wiedererkannt. Das war nicht die Ehefrau des Mordopfers, das war seine eigene Ehefrau, das war Sofie.«

Schon einmal hatte für Hauptkommissar Toni Sanftleben die Welt stillgestanden: Sechzehn Jahre zuvor, sechzehn Jahre bevor er in der Brieftasche eines aufgefundenen Mordopfers das Foto seiner Frau Sofie fand, war diese während eines wunderschönen gemeinsamen Abends auf dem Baumblütenfest in Werder spurlos verschwunden. Seit diesem verhängnisvollen Abend war Tonis Leben von der Suche nach Sofie bestimmt, er hatte keinen Stein auf dem anderen gelassen, Himmel und Hölle in Bewegung versetzt. Und nun dieses Foto in der Tasche eines Mordopfers!

Toni ist klar, dass er sich wegen Befangenheit aus diesem Fall heraushalten müsste, doch passiv auf andere Menschen zu vertrauen, ist nicht sein Ding. Und eins ist ihm klar: Findet er den Täter, findet er auch endlich einen Hinweis darauf, was mit seiner Frau geschehen ist.

»Toni griff sich an die Wange und stellte fest, dass seine Fingerspitzen nass waren. Er hätte nicht gedacht, dass er noch weinen konnte. In den vergangenen sechzehn Jahren war er zu einem Funktionszombie geworden, aber jetzt, in diesem Moment, löste sich ein Klumpen in ihm.«

Interessant! Der Ansatz dieses Krimis war mal ein ganz anderer, allein das war schon reizvoll. Aber auch die Umsetzung brachte Spannung und Überraschungen, was den Krimigenuss richtig rund machte. Ich habe praktisch von der ersten Seite an gerätselt und spekuliert, die wildesten gedanklichen Szenarien inszeniert und durfte mich trotzdem von der Auflösung überraschen lassen. Klasse, so muss es sein!

Natürlich geht es nicht nur um den Fall (der übrigens herrlich verstrickt ist und ein ordentliches Ausmaß erlangt), sondern auch Tonis Privatleben ist ein Schwerpunkt. Wie lebt er schon seit so vielen Jahren mit einer solchen Ungewissheit? Zumal er und Sofie zum Zeitpunkt ihres Verschwindens einen erst einjährigen Sohn hatten, den er nun alleine großziehen musste. Mit dem nun 17jährigen Aroon gibt es einige Vater-Sohn-Konflikte, die ich besonders gut beschrieben fand.

Tim Pieper, dessen historische Krimis ich liebe, konnte mich auch mit seinem ersten Gegenwartskrimi überzeugen. Ich würde mich freuen, wenn es weitere Fälle für Toni geben würde.

Fazit: Spannend und bis zum Ende überraschend – das freut das Herz des Krimifreunds :)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.03.2015
Eckert, Horst

Schattenboxer


ausgezeichnet

»Linker Hand näherten sich die frischen Reihengräber für die Sargbestattung. Das jüngste von ihnen war noch ohne Grabstein oder Kreuz. Eine Gymnasiastin lag seit gestern dort, sie hatte sich umgebracht, wie er gehört hatte. … Wie immer hatten die Kollegen sämtliche Kränze und Blumengebinde auf der zugeschütteten Grube angerichtet, in diesem Fall ein wahrer Blütenberg. … Etwas schimmerte dort obenauf. Torsten stoppte das Bokimobil und stieg aus, um sich die Sache anzusehen. Hatte sich jemand einen bösen Scherz erlaubt? Nach wenigen Schritten wurden ihm die Knie weich. Seine Eingeweide verkrampften sich. Er hielt die Luft an.
Nein. Bitte nicht.«

Ein toter Mensch kann einen Friedhofsangestellten normalerweise nicht aus der Ruhe bringen. Doch der Körper der jungen Frau, der auf dem frischen Grab einer anderen jungen Frau abgelegt wurde, ist über und über mit Wunden übersät. Ganz eindeutig wurde sie vor ihrer Ermordung grausam gefoltert.

Vincent Veih, der Leiter des Düsseldorfer KK11, weiß schon bald nicht, wo ihm der Kopf steht. Am Vortag noch war er dabei, als Stefan Ziegler, einer seiner Kollegen, seine 17jährige Nichte Pia zu Grabe tragen musste und nun liegt auf dem frischen Grab der Körper eines anderen – ermordeten – Mädchens. Die beiden hatten scheinbar nichts miteinander zu tun – oder vielleicht doch?
Zeitgleich gerät Vincents Behörde unter Beschuss: Bei den Ermittlungen gegen einen jungen Farbigen soll unsauber gearbeitet worden sein. Wurde ihm tatsächlich ein Mord in die Schuhe geschoben? Vincent, der an diesen Ermittlungen nicht beteiligt war, muss nun die Aktivitäten seiner eigenen Kollegen hinterfragen.

Und auch privat ist einiges los. Seine Freundin Saskia – eine Journalistin - möchte nicht nur mit ihm zusammenziehen, sondern sie arbeitet zudem an einem Buchprojekt, bei dem sie den 1991 erfolgten Mord an dem Präsidenten der Treuhandanstalt wieder aufrollen möchte. Der Todesschütze konnte nie ermittelt werden, aber Saskia sieht nun neue Ansatzpunkte und vielleicht kann ja auch Vincent mithelfen und einen Kontakt zu seiner Mutter vermitteln…?

Wer „Schwarzlicht“, den ersten Fall für Vincent Veih gelesen hat, der ahnt schon, wie das Treffen zwischen Vincent und seiner Mutter Brigitte ablaufen wird. Brigitte war aktives Mitglied der RAF, ist nun nach Verbüßung ihrer Haftstrafe auf freiem Fuß und alles andere als glücklich darüber, dass ihr Sohn „ausgerechnet“ Polizist geworden ist. Das Verhältnis der beiden kann man vorsichtig formuliert als angespannt bezeichnen. Trotzdem stellt Vincent den Kontakt zwischen Saskia und seiner Mutter her, allerdings hat er zu diesem Zeitpunkt noch keine Vorstellung davon, was das Wühlen in der Vergangenheit in der Gegenwart für Auswirkungen haben kann. (Anmerkung noch an dieser Stelle: Wer „Schwarzlicht“ nicht gelesen hat, muss keine Verständnisprobleme befürchten.)

Das war mal wieder ein großartiger Krimi! Vincent ist mir als Charakter sehr sympathisch, zudem finde ich seinen persönlichen Hintergrund faszinierend. Er ist ein Mann, der als Junge von seinem Nazi-Großvater aufgezogen wurde, weil sich seine linksextreme Mutter zwischen ihren Terrorakten nicht um ihn kümmern konnte oder wollte. Der erwachsene Vincent ist nicht immer einfach im Umgang, aber ein guter Polizist ist er auf jeden Fall. Daher konnte ich miterleben, wie er sich Stückchen für Stückchen die anstehenden Probleme vornimmt.

Der Schreibstil gefiel mir sehr und lud mich ein, durch das Buch zu fliegen ;-) Dabei war es trotz der teilweise komplexen Zusammenhänge nicht schwierig, diese nachzuvollziehen.
Im Verlauf der Handlung gibt es immer wieder Rückblenden, bei denen der Leser ebenfalls stückchenweise Informationen erhält. So kann man wunderbar mitraten und versuchen, irgendwelche Zusammenhänge zwischen den einzelnen Vorfällen herzustellen. Eins kann ich verraten: Es wird richtig spannend!

Fazit: Spannend, verstrickt, überraschend. Ein Krimi, wie er sein muss.