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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 928 Bewertungen
Bewertung vom 01.01.2015
Steinfest, Heinrich

Der Allesforscher


weniger gut

Weniger wäre mehr gewesen

Surreales in Prosa zu übertragen scheint das spezielle Anliegen von Heinrich Steinfest zu sein, dessen Roman «Der Allesforscher» es unter die Finalisten des Buchpreises 2014 geschafft hat. Im Vergleich zu den fünf anderen Werken der Endrunde von Sujet und Stil her eine saloppe, populistische Prosa, die sich beim Leser anbiedert gleich von den ersten Zeilen an, und die ihn dann nicht mehr loslässt bis zum Epilog. Wen wundert’s auch bei einem Autor, der viele erfolgreiche Krimis geschrieben hat! Im Unterschied zum magischen Realismus als literarischer Form allerdings sprechen bei Steinfest keine Tiere, sie explodieren allenfalls wie der Pottwal gleich zu Beginn. Die Handlung bleibt durchweg realistisch, im Bereich des Möglichen also, Überirdisches ist in diverse Traumsequenzen ausgelagert, die gegen Ende des Buches dann einen ziemlich breiten Raum einnehmen.

Sixten Braun, der Held der Erzählung, erfolgreicher IT-Manager auf Geschäftsreise, wird nach einem aberwitzigen Unfall auf Taiwan von Dr. Lana Senft behandelt, man kommt sich auch privat näher. Auf dem Rückflug von Japan stürzt seine Maschine ab, er überlebt, kehrt nach Deutschland zurück, heiratet seine Verlobte und tritt in deren Vaters Firma ein, wird aber schon zwei Jahre später wieder geschieden. Er sattelt beruflich um und wird Bademeister. Eines Tages erreicht ihn ein Anruf der taiwanesischen Vertretung, er erfährt, dass Lana gestorben ist und einen Sohn hinterlassen hat, dessen Vater er vermutlich sei. Der siebenjährige Junge hat zwar unverkennbar chinesisches Aussehen, er adoptiert ihn trotzdem. Simon ist autistisch, ist einerseits ein hervorragender Kletterer und ebenso guter Zeichner, spricht aber in einer von niemandem verstandenen Sprache und ist auch nicht in der Lage, neue Wörter zu lernen, die Kommunikation mit ihm bleibt auf Gesten beschränkt. Kerstin, die Angestellte in der Vertretung Taiwans, und Sixten beginnen schon bald eine Beziehung, sie zieht bei ihm ein und kümmert sich ebenfalls um Simon.

In einem eingeschobenen Nebenstrang wird die Geschichte des Chinesen Auden Cheng erzählt, einem erfolgreichen Hersteller exklusiver Kosmetikprodukte, der sich mannhaft gegen mafiöse Übernahmeversuche großer Konzerne wehrt, nach einem bewaffneten Überfall aber plötzlich die Gefahr sehr ernst nimmt und abtaucht, eine neue Identität annimmt und alle Spuren hinter sich verwischt. Er hatte längere Zeit ein Verhältnis mit der Ärztin Lana, bis Sixten auftauchte. Beim Showdown in der Bergwelt Tirols, bei einem gemeinsamen Ausflug zu dem Gipfel, an dem Sixtens Schwester beim Bergsteigen ihr Leben verlor, treffen die beiden Liebhaber Lanas schließlich aufeinander, ohne voneinander zu wissen, und der Autor belässt es auch dabei.

Logik ist kein Kriterium, das Steinfest bremst in seiner im freundschaftlichen Plauderton erzählten, sprachlich verspielten Geschichte mit ihren geradezu hanebüchenen Wendungen. Er reiht slapstickartig groteske Bilder aneinander, erfindet immer irrwitzigere Szenerien, all das garniert mit wohlfeiler Alltagsphilosophie, die nicht selten ins Banale abgleitet. Eine unkonventionelle Sicht auf die Welt und ihre scheinbaren Realitäten ist prinzipiell ja durchaus bereichernd und wird von mir als Leser auch freudig goutiert, erscheint hier aber allzu aberwitzig konstruiert. Dieses literarische Konstrukt erreicht seinen peinlichen Höhepunkt in den unsäglichen Traumgeschichten, die mich ebenso gestört haben wie der hymnische Alpinismus am Ende der Geschichte. Mit seinem fast lakonischen Duktus ist dem Autor der ambitionierte Versuch, von ihm erdachte extreme Situationen und seltsam skurrile Figuren in einen realistisch erzählten Plot einzubauen, grandios danebengelungen. Das nervt regelrecht mit zunehmender Lesezeit, weniger wäre hier wirklich mehr gewesen, schade eigentlich!

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.12.2014
Melle, Thomas

3000 Euro


gut

Da ist ein Mensch drin

Mit seinem dritten Roman «3000 Euro» hat sich Thomas Melle auf vermintes Gebiet begeben, eine Reise in den sozialen Untergrund, zu den Verlierern der deutschen Wohlstandsgesellschaft und des Turbo-Kapitalismus im 21ten Jahrhundert. Während der Wohlstand einer elitären Oberschicht rasant wächst, vergrößert sich scheinbar ebenso unaufhaltsam die Gruppe der Bevölkerung am unteren Rande der Gesellschaft, im Prekariat, jenem modernen Nachfolger des Proletariats. Eine ungute Entwicklung, die nicht nur schreiend ungerecht ist, sondern irgendwann auch politisch brisant werden kann. Aber Politik ist kein Thema in diesem Roman, es geht ausschließlich um die Lebenssituation der Underdogs, dargestellt am Beispiel zweier symptomatischer Figuren aus dieser trost- und hoffnungslosen Gesellschaftsschicht.

«Da ist ein Mensch drin, auch wenn es nicht so scheint» heißt es im ersten Satz. «Unter den Flicken und Fetzen bewegt sich nichts. Die Passanten gehen an dem Haufen vorbei, als wäre er nicht da. Jeder sieht ihn, aber die Blicke wandern sofort weiter». Anton, ehemaliger Jurastudent, ist total abgestürzt und lebt auf der Straße, er ist der Mensch unter diesem das wohlanständige Stadtbild störenden Haufen. Er hat ganz unverantwortlich einen Berg von Schulden aufgetürmt, vegetiert dahin als Pfandflaschensammler, wird von seinen Gläubigern unerbittlich verfolgt, steht kurz vor einem Prozess, in dem es um dreitausend Euro geht, die er seiner ehemaligen Bank schuldet. Er beginnt, alle Adressen abzuklappern, bei denen er sich Hilfe erhoffen könnte, beginnend bei seiner schon etwas dementen Mutter, bei seinem Kommilitonen aus alten Uni-Tagen, der heute als Rechtsanwalt arbeitet, bei ehemaligen Freundinnen. Aber er hat keinen Erfolg, schämt sich oder hat Skrupel, zum Beispiel eine teure Armbanduhr seiner Mutter zum Pfandleiher zu bringen, obwohl die Mutter sie wohl gar nicht vermissen würde, verwirrt wie sie ist.

Denise ist alleinerziehende Mutter einer behinderten Tochter, hat einen der ziemlich mies bezahlten Jobs beim Discounter, kommt gerade mal so über die Runden, mehr schlecht als recht. Sie wartet ungeduldig auf den Lohn für einen Pornodreh, mit dem sie ihre Finanzen aufbessern wollte und für den sie sich im Nachhinein schämt, sie wartet auf dreitausend Euro immerhin, ihr großer Traum wäre eine Reise nach New York. In parallel verlaufenden Handlungssträngen erzählt der Autor von dem ebenso mühseligen wie freudlosen Leben der Beiden am Rande der Gesellschaft, von ihren Hoffnungen und von ihrer Resignation. Irgendwann kreuzen sich ihre Wege, und es keimt sehr zögerlich eine zarte Bindung auf zwischen den beiden so oft enttäuschten und gedemütigten Seelen. Der kitschfreie Schluss des mit Empathie erzählten Romans ist dann ziemlich überraschend, er soll deshalb mit Rücksicht auf potentielle Leser hier nicht schon vorab ausgeplaudert werden. Der Autor zeigt andererseits aber kühl und gnadenlos ebenso auch die emotionalen Schattenseiten seiner Protagonisten auf, berichtet vor allem von deren erschreckender Realitätsferne und Lebensuntüchtigkeit.

Ein Sujet wie dieses ist natürlich nicht geeignet zum Wohlfühlroman, die eigentlich unerfreuliche und betroffen machende Geschichte ist allerdings sehr berührend, und gut erzählt ist sie allemal. Thomas Melle findet stimmige Formulierungen, so wenn er zum Beispiel über die aufkeimenden Gefühle der skeptischen Denise schreibt: «Sie hat sich nicht verliebt, nein, eher verfühlt. Seit vorgestern denkt sie an Anton, aber nicht als eine Beute, sondern als etwas zu Bergendes». Man könnte den Roman einfach unter der Rubrik Kapitalismuskritik einstufen, obwohl das Wort Hartz IV nicht vorkommt, und von Westerwelle- Dekadenz kann erst recht keine Rede sein. Ich sehe in ihm eher eine durchaus lesenswerte Beschreibung des Prekariats der Jetztzeit, angereichert mit glaubwürdigen Psychogrammen von typischen Losern, scharf beobachtet und nüchtern analysiert.

Bewertung vom 22.12.2014
Leutenegger, Gertrud

Panischer Frühling


weniger gut

Die Frau ohne Eigenschaften

Die Schweizer Schriftstellerin Gertrud Leutenegger hat es mit ihrem neuen Roman «Panischer Frühling» auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2014 geschafft, die bisher bedeutendste Ehrung für sie. Als Autorin einem breiteren Lesepublikum bisher zumeist unbekannt, wirkt die Platzierung im Finale des diesjährigen Buchpreises nun wie ein Ritterschlag, der für sie als literarisch längst Anerkannte hauptsächlich finanzielle, sprich Auflage erhöhende Wirkung zeitigen dürfte. Der kurze Roman, mit verschwenderisch bemessenem Blattspiegel, üppiger Schriftgröße und satter Papierstärke vom Suhrkamp-Verlag trickreich zum knapp über 200 Seiten starken, ansehnlichen Buch aufgepeppt, wirkt von seinem Inhalt her ganz im Gegenteil eher bescheiden zurückhaltend mit seinen stillen Tönen.

Nach dem Ausbruch des Gletschervulkans auf Island mit dem unaussprechlichen Namen Eyjafjallajökull musste Mitte April 2010 der Flugverkehr in weiten Teilen Nord- und Mitteleuropas eingestellt werden. Eine namenlos bleibende Ich-Erzählerin hält sich während dieser Zeit vorübergehend in London auf, man erfährt im Übrigen nichts von ihren sonstigen Lebensumständen, «Die Frau ohne Eigenschaften» gewissermaßen. Dauernd unterwegs auf ziellosen Streifzügen durch die Stadt, trifft sie auf der London Bridge einen Mann, der dort eine Obdachlosenzeitung verkauft. Dieser zufälligen Begegnung folgen weitere, sie kehrt seltsam zwanghaft immer wieder dorthin zurück. Aus der anfangs kurzen Unterhaltung mit dem Zeitungsverkäufer, dessen halbes Gesicht von einem schlimmen Feuermal entstellt ist, werden mit der Zeit längere Gespräche, beide, deren Gemeinsamkeit der frühe Tod des Vaters ist, erzählen sich Geschichten aus ihrer Kindheit. Ihr Kontakt bleibt aber distanziert, es gibt keine weiteren Verbindungen zwischen ihnen außer den - lediglich durch das unangekündigte Erscheinen der Frau auf der Brücke - initiierten Begegnungen, lange kennt sie nicht mal seinen Namen. Bis Jonathan eines Tages spurlos verschwunden ist, sie trifft ihn mit seinem Zeitungsbündel nie mehr an auf seinem abgestammten Platze. Geradezu als kryptisch zu bezeichnen ist auch ihre Beziehung zur mutmaßlichen Tochter, über die es lapidar heißt: «Nachrichten vom Amazonas waren eingetroffen. Ich bin wirklich auf der anderen Seite der Welt, schrieb die junge Frau, das Kind von einst, immer mehr wird mir die Distanz bewusst, aber ich mag sie»! Mehr erfährt der Leser nicht, es gibt zusätzlich nur ein paar wenige und zudem noch deutlich kürzere Textstellen hierzu.

Gertrud Leutenegger benutzt für ihre assoziative Prosa einen sehr spezifischen Stil, der vermutlich zurückzuführen ist auf ihre Arbeit am Theater, findet sich doch auffallend häufig die Form des dramatischen Poems in ihrem Werkverzeichnis. Ihr meditativer Roman erinnert, nicht nur topografisch, an ein Kammerspiel durch seinen äußerst reduzierten erzählerischen Blickwinkel und seine lyrisch wirkende Sprache, die sehr bildhaft ist und zugleich durch große Sensibilität gekennzeichnet. Einen weiten Raum nehmen liebevolle Beschreibungen der großstädtischen Flora ein, ihre Protagonistin, in der manche die Autorin selbst zu erkennen glauben, besucht immerfort die Parks von London auf ihren Streifzügen durch die Stadt.

Ein nahezu handlungsloser Roman wie dieser ist von vornherein nicht jedermanns Sache, er wirft zudem durch seine nicht zu einem Ende hin führende, fragmentarische Erzählweise so viele Fragen auf, dass vielschichtiger Deutung und kühner Spekulation Tür und Tor geöffnet sind. Von dieser wahrscheinlich bewusst herbeigeführten Verwirrung der Leser zeugen offensichtliche Fehler in etlichen Inhaltsangaben bei deren Kritiken, ja sogar in solchen des Feuilletons. Wer Rätsel mag, wird hier also fündig, und wer gerne spintisiert, wer Anspielungen liebt, um selbst weiter zu fabulieren, kommt erst recht auf seine Kosten. Wer aber stringente Handlung sucht, der wird zutiefst enttäuscht sein. Fazit also: Wer’s mag!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.12.2014
Hettche, Thomas

Pfaueninsel


sehr gut

Ein leises Buch

Als (schon etwas älteres) Berliner Kindl hat mir der Romantitel «Pfaueninsel» schöne und ferne Erinnerungen an ein beliebtes Ausflugsziel wachgerufen, die ich mit dem neuen Roman von Thomas Hettche nicht nur wieder auffrischen, sondern auch um viele interessante Details ergänzen konnte. Der Mythos der Insel in der Havel dient dem Autor als exotischer Hintergrund seiner Biografie des kleinwüchsigen Schlossfräuleins Marie. Die Vorlage für seine Protagonistin bildet die historisch belegte Schlossjungfer Marie Strakow (1805-1878), deren Grabstein sich auf dem Friedhof Nikolskoe in Berlin-Wannsee befindet.

Marie Strakon, wie sie im Roman heißt, kommt als Kind mit ihrem kleinwüchsigen Bruder auf die Insel und verbringt dort ihr ganzes Leben, ohne sie je wieder zu verlassen. Nur an einem einzigen Tage ist sie, als ältere Frau schon, zu einem kurzen Besuch in Berlin, einer frisch aufgeflackerten Liebe wegen, die sich aber als Illusion erweist. Schockierend und sie ihr ganzes Leben verfolgend ist gleich zu Beginn der Geschichte eine überraschende Begegnung Maries mit Königin Luise, die auf der Suche nach einem verschlagenen Ball ihr im Wald plötzlich gegenübersteht und sie erschrocken «Monster» schimpft.

Den preußischen Königen diente die Pfaueninsel als Refugium, das sie zu einem künstlichen Paradies umgestalten ließen nach den naiven Vorstellungen der damaligen Zeit. Dazu gehörten denn auch neben den dort angesiedelten Pfauen und einer Vielzahl anderer freilebender Tiere eine Bepflanzung mit exotischen Gewächsen aus aller Welt sowie eine Menagerie. Hettche schildert in seiner auf umfangreichen Recherchen basierenden Geschichte die stetige Fortentwicklung dieser Insel im Neunzehnten Jahrhundert, erzählt von den Mühen und Rückschlägen bei dem Unsummen verschlingenden Versuch, mit Gewalt der Natur ins Handwerk zu pfuschen.

All dies ist eng mit der Lebensgeschichte von Marie verwoben, die als Zwerg zusammen mit ihrem Bruder ebenso zu der Kuriositätensammlung des Königs gehört wie ein Riese und ein Mohr. Es ist beklemmend zu lesen, wie Marie ihr Leben lang unter dem Fluch des bösen Wortes der Königin steht, als «Monster» eine Sonderrolle einnimmt. Als sie vom Neffen ihres Ziehvaters schwanger wird und einen gesunden Buben zur Welt bringt, muss sie enttäuscht erleben, wie sie allein gelassen wird, später wird ihr sogar das Kind weggenommen. Es gelingt Thomas Hettche, das subtile Beziehungsgeflecht seiner vielen, anschaulich geschilderten Figuren einfühlsam darzustellen, sie alle erscheinen geradezu leibhaftig vor dem Auge des Lesers.

Flora und Fauna nehmen einen breiten Raum ein in diesem ruhig erzählten Entwicklungsroman, in dem es um Naturfrevel, Schönheit, Menschenwürde und Seelenleben, aber auch um das Verrinnen der Zeit geht. Hettches minutiöse Naturbeschreibungen dürften allerdings nicht jedermanns Sache sein, und besonders langatmig wirken detaillierte Inventarlisten des Zoos mit Arten, die allenfalls Biologen etwas sagen. Absolut überflüssig aber und als Fremdkörper wirkend sind meiner Meinung nach die Gott sei Dank wenigen voyeuristischen Passagen, inzestuöse Spiele zwischen den beiden Zwergen zum Beispiel oder eine Orgie beim König, den Marie mit Fellatio beglückt. Das prächtige Palmenhaus der Pfaueninsel ist am Ende Schauplatz für den Tod der achtzigjährigen Marie. Sie trifft dort ein letztes Mal auf Peter Schlemihl, jener Figur von Chamisso gleich, dem Mann ohne Schatten, im Bunde mit dem Teufel. Ein verheerendes Feuer bricht aus, in dem Marie umkommt, - sie hat es selbst gelegt. Hettches Prosa lässt den Leser bei seinem Ausflug in eine fremde Welt ziemlich betroffen zurück, aber auch auf angenehme Weise bereichert von einem so wunderbar «leisen» Buch.

3 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.12.2014
Seiler, Lutz

Kruso


ausgezeichnet

Magischer Realismus

Sein Debüt als Romancier hat Lutz Seiler mit einem Schlage bekannt gemacht, «Kruso» wurde mit dem deutschen Buchpreis 2014 geehrt, und auch das Feuilleton war unisono voll des Lobes. Nun beschert ein derartiger Medienwirbel nicht nur hohe Auflagen, er sorgt auch dafür, dass der preisgekrönte Roman, - eines bis dato als Epiker kaum bekannten Autors zudem -, nun plötzlich einen sehr großen Leserkreis erreicht. Zu groß scheinbar, denn wie die Rezeption des Buches zeigt, sind viele Leser darunter, die mit dem Roman offensichtlich überfordert sind, die hohe Zahl negativer Laienkritiken ist jedenfalls ein unübersehbares Indiz dafür. Umso mehr ist deshalb die Entschlossenheit der diesjährigen Buchpreis-Jury zu loben, unbeirrt auch heuer wieder ein literarisch hochstehendes, ambitioniertes Werk auszuzeichnen.

Wenige Tage nach der Inthronisierung eines «Linken» zum thüringischen Ministerpräsidenten ist die DDR-Vergangenheit derzeit Thema vieler Diskussionen. Seilers Geschichte ereignet sich während der letzten Monate dieses üblen Unrechtsregimes, sie liefert fernab der Politik ein beklemmendes Bild der unsäglichen Bedingungen, unter denen die Menschen dort jahrzehntelang gelitten haben. Hiddensee, die Insel in der Ostsee, kaum fünfzig Kilometer von der verlockenden Küste Dänemarks entfernt, ist als Schauplatz des Romans ein geheimer Fluchtpunkt von Aussteigern, Gestrandeten, Verzweifelten. Aus eigenem Erleben schöpfend schildert der Autor, wie sein Protagonist Ed, nach dem Unfalltod seiner Freundin völlig aus der Bahn geworfen, dort in der Touristen-Gaststätte «Zum Klausner» als Saisonkraft unterkommt und schon bald Teil einer verschworenen Gemeinschaft wird. Sein Mentor ist Alexander Krusowitsch, genannt Kruso, Spiritus Rector dieser exotischen Kaste von Intellektuellen, die nicht ins sozialistische System passen, die ihren ganz eigenen Regeln und Wertvorstellungen folgen. Die zwölfköpfige Mannschaft im systemfernen Refugium des Klausners erscheint wie ein aberwitziges Panoptikum von wundervoll beschriebenen, ebenso markanten wie sympathischen Figuren, allesamt Gestrandete auf einer Arche namens Hiddensee, dem vermeintlichen Schlupfloch in die Freiheit.

Seilers Robinsonade währte, anders als bei Defoe, nur wenige Sommermonate bis zur sogenannten Wende im November 1989. Die politischen Ereignisse dieser Zeit sind im Roman weitgehend ausgeblendet, sie klingen nur im Hintergrund an, aus dem Lautsprecher der Viola nämlich, jenem permanent eingeschalteten Radioapparat, aus dem rund um die Uhr das Programm des Deutschlandfunks erschallt. Die Ritter der Klausner-Tafelrunde versammeln sich täglich um sieben Uhr früh zum gemeinsamen Frühstück am Persotisch, dessen zentrale Rolle im Roman der Autor durch eine beigefügte Handzeichnung am Ende des Buches betont. Nach und nach allerdings lichten sich dort die Reihen, verschwindet spurlos einer nach dem anderen, der Untergang des politischen Systems wird hier gekonnt am Exodus der Saisonkräfte gespiegelt. Bis schließlich nur noch Ed übrig bleibt, und als der das seit Tagen defekte Radio wieder repariert hatte, wusste er eine Weile lang nicht, ob er begriff, was er da hörte: «Alle Grenzen waren offen. Offen seit Tagen».

Mich hat die eigenständige, poetische Erzählform Seilers unwillkürlich an James Joyce erinnert. Der magische Realismus des Romans ignoriert die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Mythos, lässt Fakten und Irreales gleichberechtigt nebeneinander bestehen, kombiniert sie meisterhaft, ein Märchen für Erwachsene. In einem beklemmenden Epilog berichtet Ed als Ich-Erzähler von seinen hartnäckig verfolgten Recherchen nach den verschollenen Flüchtlingen, nach den unbekannten Toten, denen er damit ein Denkmal setzen will. Das ist spannend zu lesen wie ein Krimi und lässt den Leser tief betroffen zurück. Dieser grandiose Roman hat in vielerlei Hinsicht das Zeug dazu, ein Klassiker zu werden in der deutschsprachigen Literatur.

6 von 7 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.12.2014
Schirach, Ferdinand von

Tabu


schlecht

Nomen est omen

Als Senkrechtstarter der deutschen Literaturszene hat Ferdinand von Schirach mit «Tabu» einen Roman vorgelegt, an dem sich die Geister scheiden. Literarisch sei «noch reichlich Luft nach oben», urteilt beispielsweise die FAZ. Die Hassliebe des deutschen Feuilletons polarisiert sich in der hymnischen Rezension im «Spiegel» und dem gnadenlosen Verriss der «ZEIT». Was stimmt denn nun?

Letzteres, sage ich, der ich unwissend zu diesem Roman gegriffen habe, weder seine Thematik kennend noch die konträren Rezensionen oder gar ein anderes Werk des gefeierten Autors. Dieses Buch, war mein für mich ziemlich überraschendes Fazit, ist gründlich danebengelungen, und zwar aus vielerlei Gründen. Beginnen wir bei der Handlung, die grotesk unwirklich ist, zu abstrus, um hier komplett darüber zu berichten, auf einige wenige Einzelheiten will ich dennoch eingehen. Erzählt wird die Lebensgeschichte von Sebastian Eschburg, aus verarmtem «guten Hause» stammend, mit lieblosen Eltern, von Synästhesie betroffen, jahrelang Internatszögling. Anschließend Lehre als Fotograf, der dann in Rekordzeit ein weltweit gefeierter Künstler wird. Im zweiten Teil wechselt die Handlung abrupt, ein knorriger alter Rechtsanwalt übernimmt die Verteidigung des wegen Mordes angeklagten Protagonisten. All das wird in kurzen, präzise formulierten Sätzen nüchtern, geradezu «sachdienlich» erzählt, Schlag auf Schlag die Fakten aneinanderreihend und damit den Plot vorantreibend in einem selten so ausgeprägt zu erlebenden, komprimierten Text. Wer es sprachlich absolut schnörkellos mag, wird jubeln. Gar nicht schnörkellos hingegen ist der Plot selbst, man wundert sich über viele Abschweifungen, die dem Geschehen rein gar nichts hinzufügen, die eher falsche Erwartungen wecken wie das Nietzsche-Haus in Sils Maria mit seinen geraniengeschmückten Fenstern, um nur ein Beispiel zu nennen. Farblos bleiben auch die meisten Figuren, sie wirken gefühlsarm und ziemlich unsympathisch, allenfalls der Verteidiger vermag Empathie zu wecken beim Leser.

Zweifel sind angebracht, ob der anonyme Telefonanruf eines vermeintlichen Entführungsopfers und ein unter Folterandrohung erlangtes Geständnis tatsächlich einen Mordprozess ohne Leiche, - die einer unbekannten Frau obendrein, auszulösen vermag. Fragwürdig, um nicht zu sagen geradezu lächerlich, ist auch das ins Pornografische abgleitende, bis dato größte Werk des gefeierten Künstlers mit dem Titel «Sofias Männer», für das Goyas Zwillingsgemälde «Die nackte Maja» und «Die bekleidete Maja» die Idee geliefert haben. Auf Eschburgs Foto ist seine Freundin Sofia nackt und 16 Männer in Anzügen stehen um sie herum und starrten sie an. «Auf dem zweiten Bild trug Sofia die Kleider der Maja. Die Männer standen so wie auf dem ersten Bild, aber jetzt waren sie nackt. Mit der gleichen Kopfhaltung starrten sie Sofia an, ihre Schwänze waren steif, sie zeigten auf das Gesicht und auf den Körper Sofias. Zwei der Männer hatten ihr Sperma auf Sofias Bluse gespritzt». Was will uns der Autor damit sagen? Und natürlich wird dieses grandiose Kunstwerk sogleich an einen Japaner verkauft, «du bist jetzt reich», sagt Sofia dazu. Es gibt dergleichen Peinliches mehr in diesem Buch, mancherlei philosophisches Geschwafel und psychologische Plattheiten obendrein, allzu viel ist inkonsistent und reichlich irritierend.

Mit minimalistischen Hauptsätzen als Werkzeug malt man literarisch kein hinreißendes Ölbild wie das der nackten Maja, eher die hastige Entwurfsskizze eines Frauenakts. Dementsprechend wirkt dieser Roman mit seiner verworrenen Geschichte, deren tieferer Sinn sich wohl nur der geistigen Elite unter den Lesern zu erschließen vermag, stilistisch freudlos, bar jeder Emotion, garantiert humorfrei außerdem. Wer eine erfreuliche, eine bereichernde Lektüre schätzt, dem sei geraten, den nebulösen Buchtitel hier mal ganz wörtlich zu interpretieren, frei nach Plautus: «nomen est omen».

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.11.2014
Barnes, Julian

Arthur & George


gut

Very british

Dem Roman «Arthur & George» von Julian Barnes liegt ein der französischen Dreyfus-Affäre ähnlicher Justizskandal zugrunde, die Edalji-Affäre in England, die sich ebenfalls in der Zeit des Fin de Siècle ereignet hat. Wie in Frankreich Émile Zola, so setze sich auch in England ein berühmter Schriftsteller für den offensichtlich zu Unrecht verurteilten George Edalji ein, Sir Arthur Conan Doyle nämlich, der Schöpfer des berühmten Sherlock Holmes. Der Autor verknüpft in seiner weitgehend auf Tatsachen gestützten Geschichte geschickt Wahrheit und Fiktion, zitiert umfangreich aus zeitgenössischen Quellen und lässt andererseits seiner Phantasie freien Lauf, erfindet das, was nicht überliefert ist, ungeniert, aber durchaus stimmig, hinzu. War in Frankreich unverhohlener Antisemitismus der Treibstoff des Skandals, so war in England ein latenter Rassismus im Spiel, das Justizopfer war Sohn eines anglikanischen Pfarrers indischer Herkunft.

In sequenzieller Erzählweise, in jeweils abwechselnd «Arthur» oder «George» betitelten Kapiteln, schildert der für seinen unterschwellig ironischen Schreibstil bekannte Autor in dem vierteiligen Roman den Lebensweg der beiden ungleichen Männer, beginnend in deren frühester Jugend. Arthur stammt aus prekären Verhältnissen und wird Augenarzt, wobei ihm die nicht gerade florierende eigene Praxis viel Zeit lässt zum Schreiben, dem er sich nach ersten Erfolgen denn auch bald ganz zuwendet, und mit seiner faszinierenden Detektivfigur wird er schließlich dann weltberühmt. George, lebensfern und lustfeindlich erzogener Pfarrerssohn, eifert nicht dem Vater nach, er studiert Jura und lässt sich als Rechtsanwalt nieder, lebt aber weiterhin bei seinen Eltern und entwickelt sich allmählich zum Sonderling. Er wird für Straftaten, die er nicht begangen haben kann, zu einer siebenjährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Als er sich mit seinem Fall hilfesuchend an Doyle wendet, erreicht dieser in an Sherlock Holmes erinnernder, deduktiver Ermittlungsarbeit und mit Hilfe einiger aufsehenerregenden Zeitungsartikel aus seiner Feder eine halbherzige Rehabilitierung Edaljis.

Neben dem zweifellos spannenden Kriminalfall gewährt dieser Roman auch einen aufschlussreichen Einblick in die englische Gesellschaft jener Zeit, entlarvt deren erschreckende Doppelbödigkeit. Barnes erzählt weit ausholend und genüsslich, man fühlt sich regelrecht in das Geschehen hineingezogen in bester Sherlock-Holmes-Manier, sitzt mit Zigarre und Brandy ebenfalls mit am Kamin. Der Disput von Doyle mit dem böswilligen Polizeichef, der die stümperhaften, vorsätzlich einseitigen, sich bewusst auf unqualifizierte Gutachten stützende Ermittlungen zu verantworten hatte, geführt an eben jenem Kamin, gehört für mich zu den Höhepunkten dieses Romans. Geradezu süffisant erzählt sind die köstlichen Passagen, in denen der atheistische Autor die biedere anglikanische Kirche und den rührend naiven Glauben ihrer zumeist engstirnigen Mitglieder karikiert. Amüsant zu lesen auch die Details einiger Séancen des im Alter zunehmend zum Spiritismus neigenden Sir Arthur Conan Doyle, deren Höhepunkt eine grandiose Gedenkfeier nach seinem Tode bildet, die in der Royal-Albert-Hall mit zehntausend Teilnehmern zelebriert wird, unter denen natürlich auch ein zeitlebens dankbarer George Edalji zu finden ist.

Barnes bislang umfangreichster Roman ist nichts für ungeduldige, ihre Lieblingslektüre verschlingende Krimi-Leser. Man muss sich Zeit nehmen dafür, darf auch scheinbare Umwege nicht scheuen, wird aber stets gut unterhalten in diesem spannenden und den eigenen Horizont erweiternden Gesellschaftsroman aus einer längst vergangenen Epoche. Geduld aber, die gehört nun mal zu den elementarsten britischen Tugenden.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.11.2014
Boyle, T. C.

San Miguel


weniger gut

Vom Scheitern des American Dream

«Romane sind wie Rockkonzerte: Entweder bringst du die Leute zum Tanzen, oder sie feuern dir Bierdosen an den Kopf». Wendet man dieses Zitat von T.C. Boyle auf seinen letzten Roman «San Miguel» an, werden wahrscheinlich eher die Bierdosen fliegen, zum Tanzen animiert das elegische Buch wohl kaum. Unter den Fans dieses Romanciers hat es jedenfalls einige Verwirrung ausgelöst, steht es doch wie eine einsame Insel alleine da im üppigen Werk des schreibfreudigen amerikanischen Autors, der für witzige Formulierungen, kreative Plots und skurrile Figuren gleichermaßen bekannt ist (oder war?). Altersweisheit und –milde sei der Grund für den Stilwandel, wird gemutmaßt. «Am schwersten fiel mir, dass mein Buch weder ironisch noch lustig ist» hat der heute 66jährige Boyle geäußert, «Ich wollte sehen, ob ich das kann. Ich hätte tolle Szenen schreiben können, aber ich wollte nicht. Ich wollte, dass alles strikt an den historischen Hintergrund und die Insel gebunden ist. Es geht um San Miguel, diesen bedrohlichen Ort».

Gestützt auf gründliche Recherchen beschreibt der Autor in den drei nach seinen Protagonistinnen benannten Teilen des Romans aus spezifisch weiblicher Sicht das karge Leben auf einer einsamen Insel, im Pazifik vor Santa Barbara in Kalifornien gelegen. Die schwindsüchtige Marantha folgt 1888 ihrem Will auf die Insel, die reine Luft dort würde ihr gut tun, hat er versprochen. Sie hat ihr ganzes Geld hergegeben, er verspricht sich von der dort betriebenen Schafzucht ein gutes Geschäft. Aber schnell wird klar, daraus wird nichts, und für sie und die Stieftochter Edith ist die Insel auch nicht das versprochene Paradies, es ist die Hölle. Beide sind schon bald nur noch von dem einen Wunsch beseelt, der rauen Natur und den primitiven Lebensverhältnissen dort zu entfliehen, aufs Festland zurückzukehren, in die Zivilisation. Als Marantha stirbt, zwingt Will die noch minderjährige Edith, weiterhin mit ihm auf der Insel zu leben, er braucht sie für den Haushalt. Nach einigen gescheiterten Versuchen gelingt Edith schließlich die Flucht, sie strebt eine Karriere als Künstlerin an, wie es ihr ergeht dabei erfahren wir leider nicht. Im dritten Teil übernehmen vierzig Jahre später Elise und ihr Mann die Pacht der Insel, sie bekommen zwei Kinder und leben in deutlich besseren Verhältnissen, die ihnen der technische Fortschritt ermöglicht. Ihr Glück aber währt nicht lange, die Weltwirtschaftskrise und der zweite Weltkrieg bedrohen ihre Idylle, und als Ediths Mann nach einem Unfall depressiv wird und Selbstmord begeht, kehrt sie desillusioniert von einer ihr fremd gewordenen öden Insel aufs Festland zurück.

Geschichten von wagemutigen Pionieren in menschenfeindlicher Natur, der amerikanische Traum also, hier in Form einer auf wahren Geschehnissen basierenden Robinsonade, sind so ganz nach dem Geschmack des Lesepublikums jenseits des Atlantiks. Boyle lässt seine beiden Männerfiguren scheitern, und er erzählt von den tapferen Frauen, die dem stets drohenden Unheil die Stirn bieten, so gut sie eben können. Die Handlung folgt keinem kontinuierlichen Ablauf, sie ist kapitelweise in Einzelszenen gegliedert, die aneinandergereiht jeweils bestimmte Ereignisse fragmentarisch erzählen. Der für Boyle ungewohnt nüchterne Sprachstil ist fast pathetisch, seine Geschichte aber bleibt ohne Spannung und Höhepunkte. Viel wird erzählt, wenig passiert, wobei die gekonnt beschriebene, reizlose Natur der überweideten, baumlosen Insel stets im Mittelpunkt steht, aber irgendwann wird es dann doch langweilig für den Leser. Besser gelungen sind die Beschreibungen der Figuren, deren Innenleben nachvollziehbar und glaubhaft dargestellt ist, ohne wirklich emotionale Tiefe allerdings. Ein historischer Roman, der mich nicht hat überzeugen können, ohne dass ich deshalb nun gleich zum Bierdosen-Werfer werde.

Bewertung vom 14.11.2014
Faulkner, William

Die Freistatt


weniger gut

Ein sperriges Prosawerk

Im Werk von William Faulkner nimmt «Die Freistatt» eine Sonderrolle ein, gedacht als Garant für hohe Auflagen durch Sex and Crime, darf man vermuten, denn 1931, als der Roman erschien, wurde allein schon seine Thematik als anrüchig betrachtet im prüden Amerika. Mit feiner Ironie schildert der spätere Nobelpreisträger im Pulp-Fiction-Stil eine wilde Geschichte, in der die damals in den USA verhängte Prohibition Auslöser ist für Schwarzbrennerei und für das daraus entstehende kriminelle Umfeld. Wie üblich bei Faulkner ist sein Roman in den Südstaaten angesiedelt, im Bundesstaat Mississippi, genauer im Yoknapatawpha County, einem von seinen anderen Romanen her wohlbekannten, fiktionalen Verwaltungsbezirk. Mit Gewaltexzessen wie Mord, Vergewaltigung, Lynchmob und mit Unmoral in Form von Nymphomanie, Voyeurismus und Prostitution enthält der Roman typische Zutaten von Schundliteratur, er wurde bei seinem Erscheinen denn auch dementsprechend behandelt. Mit Recht?

Keineswegs, merkt man als Leser schon nach wenigen Zeilen, denn Faulkners Sprache ist anspruchsvoll und hochkomplex, alles andere als leicht zu lesen also, womit der Pulp-Fiction-Verdacht von vornherein ausgeräumt ist. André Malraux spricht bei diesem Roman vom «Einbruch der griechischen Tragödie in den Kriminalroman». Seine Figuren erinnern in ihrer Schicksalhaftigkeit in der Tat an die großen Dramen der Antike, ihre Determiniertheit ist bedingt durch ein unabänderlich scheinendes, schreckliches Geschehen, das kaum aufzuhalten ist. Erzählt wird auktorial in einem chronologischen Handlungsfluss, der durch viele Rückblenden angereichert ist, deren Zuordnung sich allerdings häufig als recht schwierig erweist, dem Leser also die volle Konzentration abverlangt. Die Dialoge werden oft in unvollständigen, wie abgehackt wirkenden Sätzen geführt und enden dann typischerweise mit --- , womit recht treffend die Alltagssprache abgebildet wird in ihrer unkorrekten Syntax. Häufig bleibt unklar, wer da eigentlich spricht, die Dialoge sind durch lapidar verwendete Personalpronomina oder vage Bezeichnungen wie «die Frau» nur mühsam nachvollziehbar.

Ausgangspunkt der komplizierten, hier nur stichwortartig wiedergegebenen Handlung ist eine einsam gelegene Schwarzbrennerei. Ein junges Pärchen strandet dort wegen einer Autopanne und befindet sich nun in Gesellschaft finsterer Gestalten, die den jungen Mann mit Alkohol bewusstlos machen und begehrlich nach dem Mädchen schielen. Einer der Männer, der sie beschützen will, wird erschossen, sie wird mit einem Maiskolben defloriert, missbraucht und in ein Bordell nach Memphis verschleppt. Der des Mordes angeklagte Betreiber der Schwarzbrennerei wird wegen einer bewussten Falschaussage des inzwischen zum verwöhnten Gangsterliebchen verwandelten Mädchens schuldig gesprochen und von einem Lynchmob verbrannt, der wahre Täter, Entführer und impotente «Besitzer» des Mädchens wird, ohne sich verteidigt zu haben, wegen eines anderen Mordes gehängt, den er nicht begangen haben kann.

Faulkner deutet alles Brutale oder Anstößige nur verschämt an in seiner pathetischen Geschichte, er verlässt sich dabei voll auf die Phantasie seiner Leser. Der komplexe Plot handelt im Wesentlichen von menschlicher Schuldhaftigkeit, lässt aber auch ganz versteckt das Gute hervorschimmern aus seinen Figuren. Nicht leicht zu lesen das Alles, man erlebt ein an antike Vorbilder erinnerndes Südstaatendrama des frühen Zwanzigsten Jahrhunderts, dessen Feinheiten sich einem nur durch detektivische Mitwirkung erschließen. Das sperrige Prosawerk dürfte also nicht jedermanns Sache sein, für mich selbst war es weder eine bereichernde noch gar eine erfreuliche Lektüre.

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Bewertung vom 10.11.2014
Némirovsky, Irène

Der Fall Kurilow


gut

Exekution des Pottwals

Vier Jahre nach dem literarischen Durchbruch von Irène Némirowski erschien 1933 ihr Roman «Der Fall Kurilow». Die Handlung ihrer spannenden Geschichte ist im Russland des Jahres 1903 angesiedelt, in der Zeit kurz vor dem Beginn der revolutionären Umwälzungen, die mit dem «Blutsonntag» 1905 einen ersten Höhepunkt erreichten und mit der «Oktoberrevolution» 1917 endeten.

«Auf der menschenleeren Terrasse eine Cafés von Nizza hatten sich, angezogen durch die Glut eines roten Kohleöfchens, zwei Männer niedergelassen» lautet der erste Satz des Romans. Léon M. ist einer der Beiden, der Andere, ein ehemaliger Polizist, spricht ihn als Marcel Legrand an, den er als mutmaßlichen Revolutionär 1903 zeitweilig beschattet hatte, das Ganze ist dreißig Jahre her. Die in einer Art Geheimdienstjargon nur in Andeutungen geführte, kurze Unterhaltung dreht sich um die revolutionären Aktivitäten im zaristischen Russland, dem von beiden Seiten ohne Rücksicht auf Menschenleben geführten Kampf um die Beseitigung des zaristischen Regimes. Damals war der Polizist als Personenschützer für die Sicherheit eines allseits verhassten Ministers namens Kurilow verantwortlich, auf den der Revolutionär Léon M. ein Attentat verüben sollte. Dieser geschickt vorgeschalteten Szene folgt der «eigentliche» Roman, der rückblickend die damaligen Ereignisse aus der Sicht des Attentäters schildert. «Ich habe im Hinblick auf eine eventuelle Biografie mit der Niederschrift dieser Notizen begonnen» erläutert der Ich-Erzähler Leon den Anlass für seinen umfassenden Bericht.

Es gelingt ihm, sich mit falscher Identität als Arzt bei Kurilow einzuschleichen, der lieber von einem ausländischen Hausarzt betreut werden will, weil er die russischen für unfähig hält. In dieser Position kommt Leon dem krebskranken Opfer sehr nahe, fast zu nahe, denn er beginnt den «Pottwal», wie der skrupellose Minister mit Spitznamen genannt wird, trotz seines hassenswerten Charakters und der verübten Missetaten als bemitleidenswerten, armseligen Menschen zu sehen, eine im Privaten geradezu lächerliche Figur. Denn ohne die Insignien der Macht, ohne sein Ministeramt ist er ein Nichts, wie sich zeigt, als er plötzlich sein Amt verliert und nun, völlig haltlos, mit sich selbst nichts mehr anzufangen weiß. Leon beginnt zu zweifeln, ob die von einem revolutionären Komitee geplante Exekution überhaupt noch sinnvoll ist. Als dem Nachfolger des Ministers ein schwerwiegender Fehler unterläuft, kommt der «Pottwal» doch wieder in Amt und Würden. Kurz darauf wird endlich auch Ort und Zeitpunkt des Attentates festgelegt, von den Terroristen ganz gezielt daraufhin geplant, eine größtmögliche öffentliche Wirkung zu erreichen, das verhasste Zarenregime also vor aller Augen möglichst effektiv bloßzustellen.

Die aus der Täterperspektive erzählte Geschichte entlarvt die Hauptakteure des zaristischen Regimes allesamt als «prächtig ausstaffierte Hampelmänner, von denen nichts geblieben ist». Der Roman gewährt dem Leser Einblick in ein ungerechtes und feudales Regime. Man ist als Leser geneigt, sich auf die Seite der Revolutionäre zu schlagen, Verständnis für ihre Ziele zu entwickeln, auch wenn sich später daraus, mit der UDSSR, ein ebenso schlimmes Unrechtsregime etabliert hat. Welches heute wiederum, mit dem «lupenreinen Demokraten» an der Spitze, als politisches System kaum weniger autoritär ist, und an die Stelle des Adels sind jetzt die Oligarchen getreten, es geht heute mitnichten gerechter zu als damals. Durch ihre einfache, geradlinige Erzählweise, mit einfühlsamer Charakterisierung ihrer beiden Hauptfiguren und einem gut durchdachten Plot erzeugt die Autorin einen erzählerischen Sog, der fast an einen Krimi erinnert und bewirkt, dass man den angenehm lesbaren, kurzen Roman nicht mehr aus der Hand legt, auch wenn man von Anfang an weiß, was passieren wird.

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