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Igelmanu
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Mülheim

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Insgesamt 1033 Bewertungen
Bewertung vom 17.07.2015
Montejano, Katja

Zerrspiegel


sehr gut

»Während das dampfend heiße Wasser in die Badewanne sprudelte, stand er vor dem Waschbecken und starrte in den Spiegel. Er sah müde aus. Nachdem er den Hahn zugedreht hatte, stieg er in die Wanne. Kaum hatte er es sich darin bequem gemacht, durchflutete die Wärme jede Faser seiner Muskeln.
„Herrlich!“, stöhnte er genussvoll und schloss die Augen. Der verführerische Duft des Badeöls drang in seine Nase, und sein Wohlbefinden stieg mit jeder Minute an. Die Stille rief Erinnerungen hervor. Er sah die Bilder der letzten Nacht klar vor sich. Polyesterfolie. Häcksler. Benzinkanister. Der zertrümmerte, lauwarme Körper der jungen Frau. Der Geruch von Blut und Eingeweiden…«

Das Leben der jungen Jazz wäre eigentlich schon kompliziert genug. Die junge Frau ist ein „Aspi“, wie sie sich selbst bezeichnet – sie leidet unter einer leichten Form des Asperger-Syndroms. Ein geregelter Tagesablauf, ein gewohntes Umfeld und die vertrauten Menschen geben ihr Sicherheit – aber genau diese Dinge verschwinden von einem Tag auf den anderen. Verschwinden, so wie ihre Mutter und ihre Zwillingsschwester. Sie selbst wird brutal überfallen, entkommt nur mit Glück dem Täter, der in ihrer Wohnung über sie herfällt. Ist der Täter auch für das Verschwinden von Mutter und Schwester verantwortlich? Merkwürdige Botschaften, die Jazz erhält, machen klar, dass sie kein Zufallsopfer sein kann. Aber welche Intention verfolgt der Täter? Was ist sein Plan?

Der Leser erfährt sehr schnell, dass es dem Täter um Rache geht. Das Besondere an diesem Buch ist nämlich, dass es abwechselnd aus der Sicht von Jazz und der Sicht des Täters erzählt. Im Grunde hat man dadurch zwei Erzähler, die verschiedener nicht sein können. Jäger und Opfer. Obwohl… ist es so einfach? Was den Jäger antreibt, erschließt sich nur langsam, seine Identität wird erst kurz vor Ende klar. Er will Rache, aber wofür? War auch er ein Opfer?

Zwei hochinteressante und komplexe Charaktere treffen somit aufeinander, die Spannung ist gleichbleibend hoch und das Buch verleitet dazu, es in einem Rutsch lesen zu wollen. Kleine Anmerkung aber für etwas empfindlichere Leser: Es wird ziemlich blutig.

Fazit: Spannend, flott zu lesen, tolle Charaktere und ordentlich Blut – ein klasse Thriller!

»Er lächelte. Dachte an die orangefarbene Tupperware, die er in den Kühlschrank gestellt hatte. Am Ende war ein Mensch nicht viel mehr als ein paar Eimer organisches Material.«

Bewertung vom 12.07.2015
Lochthofen, Sergej

Schwarzes Eis


ausgezeichnet

»Unter anderen Umständen hätte Lorenz die Geschichte brennend interessiert. Aber jetzt hörte er die Wortfetzen wie durch einen Nebelschleier, weit in der Ferne. Er saß auf dem Boden mit dem Rücken zur Wand und dachte nach.
War das alles falsch? War es falsch, Deutschland zu verlassen? War es falsch, nach Russland zu gehen? War es falsch zu studieren? Journalist zu werden? Hierzubleiben?«

Ein Mann und seine Überzeugung. Lorenz Lochthofen wurde 1907 im Ruhrgebiet als Kind eines Bergmanns geboren. Schon früh engagierte er sich in kommunistischen Organisationen, was dazu führte, dass er 1930 vor der SA fliehen musste. Seiner Überzeugung folgend emigrierte er in die Sowjetunion, wo er 1937 eines der vielen unschuldigen Opfer der Säuberungsaktionen unter Stalin wurde. Nach über 20 Jahren in Sibirien konnte er 1958 mit seiner Frau und den beiden Söhnen in die DDR ausreisen. Immer noch war da seine Überzeugung, die ihn dazu trieb, im Arbeiter-und-Bauern-Staat anzupacken, aktiv mitzuarbeiten, das Land voranzubringen. Tatsächlich konnte er so einiges bewirken und arbeitete sich innerhalb weniger Jahre vom Schlosser bis zum Werksleiter hoch. Er schaffte es sogar, Mitglied des Zentralkomitees der SED zu werden, bevor ihn 1967 ein schwerer Herzinfarkt letztlich doch ausbremste.

Dieses Buch erzählt seine Geschichte, aufgezeichnet von seinem Sohn Sergej. Über Jahre hinweg hat dieser die Erzählungen seines Vaters gesammelt und um eigene Erlebnisse (Sergej wurde 1953 in Workuta geboren) ergänzt. In chronologischer Reihenfolge, beginnend 1937, kann der Leser diese Geschichte mitverfolgen. Zu Beginn jedes neuen Jahres werden kurz wichtige politische oder andere historisch interessante Daten bzw. Fakten erwähnt und zudem gibt es Fotos, beispielsweise aus Workuta, Abbildungen von Originalbriefen und ähnliches, was zur Handlung im jeweiligen Zeitabschnitt passt.

Ein großer Teil des Buchs betrifft – wie man sich denken kann – die über 20 Jahre, die Lorenz Lochthofen in Sibirien verbringen musste. Zunächst im Arbeitslager Workuta, später zwar „frei“, was aber nur bedeutete, dass er außerhalb des Stacheldrahts leben konnte, Sibirien aber nicht verlassen durfte. Die Schilderungen der dortigen Zustände sind sehr drastisch und man fragt sich ständig, wie es Menschen schaffen konnten, so etwas zu überleben. Das Leben im Lager wird detailliert geschildert, Not, Kälte und die Schwerkriminalität einiger Gefangener sorgten dafür, dass manche Neuankömmlinge nicht mal die ersten Tage überstanden. Auch Lorenz muss Fürchterliches durchmachen, neben einem ungebrochenen Lebenswillen half ihm immer wieder auch Glück.

Auch die Zeit nach Workuta, in der DDR, ist sehr spannend. Ich war total fasziniert, wieviel Energie immer noch in diesem Mann steckte! Mit Kritik an „denen da oben“, an Führungspersonen aus Politik, Partei und Wirtschaft, wird nicht gespart, Lorenz Lochthofen war immer ein Mensch, der sich für „den kleinen Mann“ einsetzte, selbst, wenn er dabei über seine eigenen Kräfte ging. Er war mir sehr sympathisch!

Fazit: Viele Fakten und ein harter Stoff, aber die Art, in der er erzählt wird, fesselte mich förmlich ans Buch. Kein bisschen trocken und immer ganz nah dran an den Menschen: So liest sich ein Sachbuch wie ein Thriller.

»War es falsch, nach Deutschland zurückzukehren? War es falsch, als Schlosser nach Gotha zu gehen? War es falsch, das Werk zu übernehmen? Falsch, alles auf eine Karte zu setzen? Falsch, sich nicht zu schonen?
Nein. Er würde es so und nicht anders wieder tun.«

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.07.2015
Oelemann, Christian

Freundschaftspiel


sehr gut

»Wie du weißt, habe ich deinen Roman lesen dürfen. Ich habe ihn, um ehrlich zu sein, dreimal gelesen, weil ich es einfach nicht fassen konnte. Dann habe ich dein Liebesspiel meinem Cheflektor hingelegt, mit der Bitte um rasche Prüfung. Auch er ist von deinem Buch begeistert. Fazit: Wir wollen es drucken. Und jetzt kommst du!«

Tja, damit hätte der 14jährige Hendrix nie gerechnet. Natürlich träumt er davon, mal ein Schriftsteller wie sein Großvater Dieter Lange zu werden. Aber eigentlich hatte er doch nur die Erlebnisse des gemeinsam verbrachten Urlaubs aufgeschrieben und seinem Großvater geschenkt – der das Werk gleich an seinen Verleger weitergab. Nun freut er sich, dass daraus ein richtiges Buch werden soll, aber er steht auch vor einem Problem…
»Das Ende, Hendrix. Dein Ende ist kein Ende. Der Leser hängt am Schluss im luftleeren Raum; er fragt sich: Wie? Das soll alles gewesen sein?« … »Aber so war es alles. Mehr ist nicht passiert«, rechtfertigte ich mich. … »Weißt du, Junge, das spielt für den Roman eigentlich keine Rolle. Der Leser will wissen, was aus Marie und Hendrix wird. Ob sie eine Chance haben. … Lass das Buch so enden, dass wir, wenn wir es am Ende zuschlagen, einen Seufzer der Erleichterung oder des Mitgefühls ausstoßen …«

Was soll Hendrix nun tun? Im Grunde ist er ja auch nicht glücklich darüber, dass sein Urlaubserlebnis kein vernünftiges Ende gefunden hat. Und nun fühlt er sich unter Zugzwang. Was war eigentlich geschehen?

Dieter Lange und sein Enkel haben ein sehr inniges Verhältnis zueinander, unter anderem verbindet die beiden die Liebe zum geschriebenen Wort, die sie zum Beispiel mit speziellen „Schriftstellerspielen“ pflegen. Hendrix Eltern führen ein Bestattungsunternehmen und können die Begeisterung für seinen Großvater nicht nachvollziehen. Tatsächlich hat dieser einige Schrullen und scheut vollständig die Öffentlichkeit. Als er einen wichtigen Literaturpreis gewinnt ist dies für ihn Grund genug, die Flucht anzutreten. Und da gerade Sommerferien sind, fährt er gemeinsam mit Hendrix in ein kleines Nest namens Golgenude. Dort lernt Hendrix die Buchhändlertochter Sarah kennen, die über heilende Hände verfügen soll.

Kann Sarah wirklich durch Handauflegen heilen? Was ist mit dieser alten Dame geschehen, die kürzlich noch im Rollstuhl saß und nun wieder gehen kann? Wer hat auf dem Friedhof das Grab des verstorbenen Nachbarn geschändet? Was wird aus dem von Schließung bedrohten Buchladen von Sarahs Eltern? Kann der schwer verliebte Hendrix mit Sarahs Freund konkurrieren? Wer ist diese Frau, die angeblich schon lange für seinen Großvater schwärmt? Und vor allem: Wird Hendrix ein vernünftiges Ende für sein Buch und seine Geschichte finden?

Eins ist sicher: Dieser Sommer ist nicht langweilig und er stürzt Hendrix in ein einziges Gefühlschaos. Sein Weg, damit klarzukommen, ist das Schreiben. Und das ist ein Glück, denn so kann der Leser ebenfalls teilhaben an diesem ganz besonderen Sommer! Ich hatte jedenfalls viel Spaß mit dem Buch. Die Geschichte ist einfach schön geschrieben, ich flog durch das Buch und war erstaunt, wie sehr mich die Handlung in ihren Bann zog. Mal lustig, mal traurig, mal spannend: Ganz wie das Leben.

Fazit: Eine Geschichte über Jung und Alt, über Liebe, Freundschaft und die Leidenschaft zum Schreiben. Sehr empfehlenswert.

»Ich schaffe das nicht. … So ein Ende kann ich unmöglich erfinden. Ich kann überhaupt nichts erfinden! Du selbst hast gesagt, dass in der Literatur letztendlich die Wahrheit entscheidet.« »Das ist auch so, Hendrix. … Du fühlst dich deiner Wahrheit verpflichtet, aber es gibt auch andere Wahrheiten. Besonders interessant wäre natürlich Maries Wahrheit. Denk mal drüber nach!«

Bewertung vom 09.07.2015
Doyle, Arthur Conan

Eine Studie in Scharlachrot


ausgezeichnet

»Es ist ein Mord verübt worden, und der Mörder ist ein Mann. Er ist über sechs Fuß groß, im besten Alter, hat für seine Größe kleine Füße, trägt grobe Stiefel, die vorn viereckig enden, und hat eine Trichinopoly-Zigarre geraucht. Er ist zusammen mit seinem Opfer in einem vierrädrigen Wagen hergekommen, der von einem Pferd mit drei alten Hufeisen und einem neuen am rechten Vorderhuf gezogen wurde. Höchstwahrscheinlich hat der Mörder ein blühendes Aussehen, und die Fingernägel seiner rechten Hand sind bemerkenswert lang. Das sind nur ein paar Hinweise, aber sie könnten Ihnen nützlich sein.«

Was würde Scotland Yard wohl ohne ihn tun, ohne Sherlock Holmes? Ein Toter in einem leerstehenden Haus gibt der Polizei Rätsel auf. Überall am Fundort der Leiche finden sich Blutspuren, die Leiche jedoch weist keinerlei Verletzungen auf. Ohne die Hinweise unseres Meisterdetektivs wäre der Mörder womöglich ungeschoren davongekommen. So aber kann der Leser sich auf einen weiteren Fall freuen, den Holmes und Watson vollkommen logisch lösen werden ;-)

In diesem Buch schildert Dr. Watson nicht nur den Fall um das Rätsel von Lauriston Gardens, sondern er berichtet auch darüber, wie Holmes und er sich kennenlernten. Watson beginnt seinen Bericht mit einem Blick in seine eigene Vergangenheit, seine Zeit als Militärarzt. Er beschreibt, wie er zurück nach London kommt und dort eine günstige Unterkunft sucht. Kein leichtes Unterfangen, wenn das Heim auch noch gemütlich sein soll. Als ein Bekannter ihm von einem Studenten erzählt, der in einem chemischen Laboratorium arbeitet und jemanden sucht, mit dem er sich eine Wohnung teilen könnte, ist er sofort daran interessiert, diesen Mann kennenzulernen. Obwohl der Bekannte ihn warnt…
»Für meinen Geschmack ist Holmes ein bißchen zu wissenschaftlich – es kommt nahe an Gefühllosigkeit heran. Ich kann mir vorstellen, wie er einem Freund eine kleine Dosis des neuesten vegetabilen Alkaloids gibt; nicht böswillig, verstehen Sie, sondern einfach aus einem Forschungsdrang heraus, um sich eine genaue Vorstellung von der Wirkung machen zu können. … Er scheint eine Leidenschaft für präzises, exaktes Wissen zu haben.« »Das ist doch eine gute Sache.« »Ja, schon, aber man kann es übertreiben. Wenn es so weit geht, daß man die Leichen in den Sezierräumen mit einem Stock schlägt, dann nimmt es doch schon bizarre Ausmaße an.«

Der Rest ist so, wie man es erwartet. Holmes kombiniert meisterhaft und Watson staunt…
»Sie verblüffen mich, Holmes … Sie können doch bestimmt nicht so sicher sein, wie Sie vorgeben, was all diese von Ihnen aufgezählten Einzelheiten betrifft.« »Es gibt da keinen Spielraum für Irrtümer«, antwortete er.
Die Polizei kann ihm nicht nur nicht das Wasser reichen, sondern beweist auch immer wieder ihre Inkompetenz. Was Holmes nicht unkommentiert lässt…
»Ich fürchte, Rance, Sie werden in der Truppe nie aufsteigen. Ihr Kopf da, den sollten Sie nicht zur Zierde tragen, sondern auch gebrauchen.«

Neben dem eigentlichen Fall und der Kennenlerngeschichte von Holmes und Watson gefielen mir auch einige Kapitel sehr, die sich mit der Vorgeschichte des Verbrechens, der Frage nach dem „Warum“ befassten. Sie bilden eine Geschichte innerhalb einer Geschichte, die ebenfalls sehr spannend zu lesen ist.

Fazit: Der erste Fall für Holmes und Watson – wer ihn noch nicht gelesen hat, sollte das nachholen.

»Ich werde Ihnen nicht viel mehr über den Fall erzählen, Doktor. Sie wissen schon: Ein Zauberer bekommt keinen Applaus mehr, wenn er erst seinen Trick verraten hat; und wenn ich Ihnen zu viel von meiner Arbeitsmethode zeige, werden Sie zu dem Schluß kommen, daß ich schließlich doch ein ganz gewöhnliches Individuum bin.« »Zu diesem Schluß werde ich niemals kommen«, sagte ich. »Sie haben die Detektion einer exakten Wissenschaft so weit angenähert, daß man Sie in dieser Welt nicht mehr übertreffen wird.«

Bewertung vom 03.07.2015
Sieben, Johannes

Himmelsstaub


sehr gut

Dr. Johannes Sieben führt seit fast 30 Jahren eine Landarztpraxis in einem kleinen Dorf im Rheinland. Er liebt sein Leben und seinen Beruf, ist glücklich mit seiner Familie, dem Hund und dem alten Bauernhof, an dem immer etwas zu machen ist. Von einem Tag auf den anderen ist es damit vorbei. Johannes hat gerade noch einen Patienten behandelt, als er zu Boden sinkt.

Im Krankenhaus ist schnell für alle klar: Dieser Patient liegt im Wachkoma. Er ist ohne Bewusstsein, kann sich nicht bewegen, nichts hören, nicht sehen, nicht sprechen und nicht fühlen. Fatalerweise irren sie. Johannes ist sehr wohl bei Bewusstsein, er hört alles um ihn herum und er sieht, was im Blickfeld seiner starr aufgerissenen Augen passiert. Aber er kann sie nicht schließen, wenn man ihm mit Lampen hineinleuchtet, er kann sich nicht bemerkbar machen, wenn er Schmerzen leidet, er kann sich nicht im Geringsten mitteilen.
»Johannes, was machst du? Wie geht es dir? Hast du Schmerzen? Bleib hier! Verlass uns nicht! Wir brauchen dich doch noch!« Ich sehe ein paar Tränen in ihren rehbraunen Augen. Sie verschwindet aus meinem Blickfeld, meine Hand weiter festhaltend. Ich versuche, die Hand zu bewegen. Nichts. Ich will sprechen. Nichts. Ihr mit den Augen folgen. Nichts. Nichts. Nichts kann ich. Ich verzweifle. Muss ihr doch irgendwie klarmachen, dass ich sie höre, sehe, rieche, fühle!«

Wer sich auf dieses Buch einlässt, dem muss klar sein, dass er sich hier harten Stoff antut. Allein die Vorstellung dieser Situation ist ein Alptraum, die Schilderungen im Buch manchmal unerträglich. Wenn Johannes zwischendurch in gnädigen Schlaf fällt, träumt er sehr intensiv. In diesen Träumen tauchen Erinnerungen an sein Leben auf, an seine Kindheit, sein Studium, an Freundinnen und an seine Anfänge als Arzt. Diese Berichte sind sehr lebendig geschrieben, man empfindet deutlich die Lebensfreude, die Johannes eigentlich in sich trägt. Schon immer war er ein Kämpfer, einer, der gerne mal aneckt und nicht so schnell aufgibt. Das will er auch in seiner aktuellen Situation nicht. Manches Mal heißt sein Mittel gegen aufsteigende Depression Sarkasmus und die Flucht in die Träume ist ein Kraftholen für die nächste Runde in der Gegenwart.

Der Autor erzählt hier zum Teil seine eigene Geschichte. Er ist tatsächlich seit fast 30 Jahren Landarzt und alles, was er über sich, seine Vergangenheit und seine Familie erzählt, ist authentisch. Fiktiv ist natürlich der Teil, der sich mit dem Wachkoma befasst. Allerdings hat er seine Erfahrungen, die aus dem langjährigen Umgang mit Patienten, Kollegen, Krankenhäusern und Pflegeheimen resultieren, hier eingebunden. Bei diesen Erfahrungen gab es einige gute, aber leider auch einige sehr schlechte. Vor allem scheint es ihm ein Bedürfnis zu sein, all die Missstände im Gesundheitswesen und im Umgang mit Kranken und Pflegebedürftigen hier in aller Offenheit und schonungslos darzustellen. An dieser Stelle habe ich mich allerdings gefragt, ob es realistisch ist, dass all diese Dinge demselben Menschen widerfahren. Wobei – vielleicht will ich daran auch nur zweifeln. Auf jeden Fall bringt das Buch den Leser zum Nachdenken, ganz in der Intention des Autors:
»Ich dachte, ja, das könnte den ein oder anderen wachrütteln, zum Nachdenken bringen, sensibilisieren. Die Welt verändern zu wollen, wäre vermessen und größenwahnsinnig. Ein klein wenig dazu beizutragen, die Dinge anders, skeptischer zu sehen, das ist eher schon realistisch.«

So wenig, wie es dem Protagonisten und seinen Angehörigen leicht gemacht wird, so wenig wird es dem Leser leicht gemacht. Was richtig ist und was falsch, ist manchmal schwer zu sagen. Was sollte ein Arzt tun – was sollte er nicht tun? Leben oder Tod, Hoffnung oder Resignation, Kampf oder Aufgabe – diese Entscheidungen sind nicht einfach und sollten es auch nicht sein.

Fazit: Dieses Buch lässt keinen kalt. Schonungslos, intensiv und ganz viel Stoff zum Nachdenken.

Bewertung vom 19.06.2015
Feuchtwanger, Edgar;Scali, Bertil

Als Hitler unser Nachbar war


ausgezeichnet

München, 1929. Der fünfjährige Edgar Feuchtwanger schaut neugierig durchs Fenster auf den neuen Nachbarn, der genau gegenüber seines Hauses in der Prinzregentenstraße eingezogen ist. Edgar ist zu diesem Zeitpunkt ein glückliches Kind. Sein Vater ist Lektor des angesehenen Verlags Duncker & Humblot, seine Mutter ist Pianistin und sein Onkel Lion einer der meistgelesenen deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts. Finanzielle Sorgen hat die Familie auch nicht und so könnte alles perfekt sein – doch die Feuchtwangers sind Juden. Sie praktizieren ihre Religion zwar nicht, Edgar kann sich an jedem Weihnachtsfest über einen Baum und Geschenke freuen und hat ein katholisches Kindermädchen, aber – wie wir wissen – werden diese Dinge schon bald ohne jeden Belang sein.

Edgar ist nicht nur sehr zufrieden mit seinem Leben, sondern auch aufgeweckt und klug. Die Erwachsenen um ihn herum kennen tagein, tagaus nur noch ein Thema. Sie sorgen sich, mal mehr, mal weniger und sie debattieren. Anfangs noch mit einer gewissen Leichtigkeit…
»Ach! Ihr hättet Hitlers Gesicht sehen sollen, als er gesehen hat, wie wir einparkten,… Er hat uns nicht erkannt, sagt Onkel Lion. – Gott sei Dank, mein Schatz, bei dem, was du über ihn in den Zeitungen geschrieben hast, entgegnet Tante Marta.«
Irgendwann gibt es nur noch ernste Gespräche, in denen offen die Gefährlichkeit Hitlers diskutiert wird. Muss man sich wirklich Sorgen machen?
»Übrigens sieht er jetzt genauso aus wie die, die er neuerdings auf seine Seite ziehen will, die Kleinbürger, die Angst haben, alles zu verlieren und auf der Straße zu landen. Er sieht aus wie wir alle. Er wohnt im selben Viertel, er trägt den gleichen Anzug und er hat die gleichen musikalischen Vorlieben. Aber der Schein trügt, es ist nur eine Maske. In der Dunkelheit haben seine Leutnants weder etwas an ihren Methoden noch an ihren Zielen geändert.«

Der kleine Edgar hört alles, aber was davon versteht er? Zunächst nur eins: An diesem neuen Nachbarn ist irgendetwas, das den Erwachsenen um ihn herum Sorgen bereitet. In diesem Buch teilt er mit uns seine Erinnerungen aus den Jahren 1929 bis 1939. Sicher, Edgar wird älter und wird schon bald begreifen, wovon seine Eltern und Verwandten reden. Aber er geht dann auch zur Schule und dort lässt die Lehrerin ihn Hakenkreuze in sein Schulheft malen. Die Verwirrung des Kindes kann man sich leicht vorstellen. Und natürlich kann man so einem Nachbarn auch einfach mal auf der Straße begegnen…

Eine unglaubliche Geschichte ist das! Und doch ist es eine wahre Geschichte. Da lebt ein Junge 10 Jahre lang vis-à-vis mit einem Menschen, der ihn und seinesgleichen töten will. Aber natürlich wissen der Junge und seine Familie dies anfangs nicht, das Grauen und die Erkenntnis werden sich langsam immer mehr in ihr Bewusstsein schleichen. Aus heutiger Sicht, mit dem Wissen um all das, was später geschah, fragt man sich, wieso die Feuchtwangers nicht schon früh das Land verlassen haben. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass der menschliche Verstand sich lange sträubt, bestimmte Dinge auch nur für möglich zu halten.

Und so verfolgen wir Edgars Leben in den Folgejahren. Erleben mit, wie er zum Außenseiter in der Schule wird, wie sein ehemals bester Freund sich von ihm abwendet und wie sein geliebtes Kindermädchen von einem Tag auf den anderen nicht mehr da ist. Wir lesen von seinen Ängsten und Sorgen und wir sind dabei, wenn er Stück für Stück begreift, was um ihn herum geschieht und dies mal pragmatisch behandelt, mal leicht sarkastisch kommentiert. Und immer ist da dieser Nachbar, um den seine Gedanken unaufhörlich kreisen, dieser Blick aus dem Fenster…

Die Erinnerungen enden im Jahr 1939. Das Nachwort beantwortet die Frage, was aus Edgar, seiner Familie und seinen Freunden geworden ist und befasst sich mit der Entstehungsgeschichte dieses Buchs.

Bewertung vom 12.06.2015
Paasilinna, Arto

Im Jenseits ist die Hölle los


gut

»Mein Tod kam für mich völlig überraschend. Es war ein Nachmittag im August, ich befand mich auf dem Heimweg von meinem Arbeitsplatz, der Redaktion einer Zeitung, und ging durch die Kaisaniemenkatu. Meine Stimmung war heiter, und ich fühlte mich absolut vital. Ich war damals erst dreißig Jahre alt. Kaum je in meinem Leben hatte ich ernsthaft an die Möglichkeit gedacht, dass ich unverhofft sterben könnte, plötzlich und unwiderruflich. Doch genau das geschah.«

Der Erzähler dieser Geschichte sieht sich also ganz plötzlich mit der Tatsache konfrontiert, dass er verstorben ist. Mit gerade mal 30 Jahren hatte er sich mit diesem Gedanken zuvor noch nie auseinandergesetzt. Und wohl auch nicht mit der Frage, was dann wohl sein mag – also „danach“. Zutiefst verwirrt starrt er auf seinen toten Körper und den Autofahrer, der traurig den Schaden an seinem Wagen begutachtet und stellt fest:
»Ich war also tot. Der Gedanke erschien mir unfassbar. Wieso ausgerechnet ich? Ich hatte große Mühe, mich an die Situation zu gewöhnen.«

In seiner kreativen Art lässt Arto Paasilinna seinen Helden diese vielen neuen Erfahrungen erleben und kommentieren. (Wobei… kann man eigentlich von „erleben“ sprechen? ;-) Mit seiner enormen Phantasie, an der ich schon oft Freude hatte, erschafft er hier ein komplexes Jenseits, in dem ein frisch Verstorbener erst mal lernen muss, sich zurechtzufinden.
»Die ersten Tage nach meinem Tod waren voller Überraschungen, eine merkwürdiger als die andere. ... Ein ums andere Mal musste ich feststellen, dass der Mensch nach seinem Tod noch viel zu lernen hatte.«

Und so lernt der Ich-Erzähler. Wie funktioniert die neue Existenz? Wie bewege ich mich? Wie beschäftige ich mich? Wenn man nicht mehr arbeiten muss, keinen Hunger verspürt und keinen Durst, nicht mehr schlafen muss oder krank werden könnte – wie füllt man dann seine Tage aus? Und wenn man mit einem anderen Verstorbenen ins Gespräch kommt, was gibt es da für Gesprächsthemen? Natürlich kommt man auch um eine Frage nicht herum:
»Und wo ist Gott? Hier hat doch wohl jemand die Leitung?«

Wer Paasilinna kennt, der weiß, dass er es versteht, die bizarrsten Situationen zu schaffen und diese – immer mal wieder – mit kritischen und nachdenklichen Tönen zu versehen. Und worauf man immer gefasst sein muss, ist schwarzer Humor…
»Natürlich war meine Haut leicht bläulich verfärbt, und meine Lippen wirkten kalt und blass, ansonsten aber sah ich fast lebendig aus. Vielleicht hatte man mich gepudert? Wenn ja, war dies das erste und letzte Mal, dass ich geschminkt worden war, und das Ergebnis war keineswegs übel. Eigentlich war es eine Verschwendung, eine so gut aussehende Leiche zu beerdigen. Ob es nicht noch irgendeine Verwendung für mich gab…?«

Weshalb ich nur 3 Punkte vergebe? Weil ich Paasilinna sehr mag und fast alles gelesen habe, was von ihm auf dem deutschen Markt erschienen ist. Und davon gefielen mir viele Bücher einfach noch besser als dieses, es hat mich einfach nicht so vom Hocker gerissen, wie ich es erwartet hatte. Trotzdem verspricht das Buch ein paar kurzweilige Lesestunden und wer weiß? Vielleicht kann man die Erkenntnisse daraus ja mal gebrauchen ;-)

Fazit: Unterhaltsam und schwarzhumorig – aber es gibt für mich bessere Paasilinnas.

»Seien Sie ganz ruhig. Ich erzähle Ihnen gleich, was los ist. Sie sind nur gestorben, mehr ist nicht passiert.«

Bewertung vom 12.06.2015
Schulze Gronover, Sabine

Rote Schatten über Münster


ausgezeichnet

»Wissen Sie, was fehlt?« Dr. Horns Stimme klang zittrig.
Es war Corwin Standing Child, der nach kurzem Überlegen antwortete: »Es fehlen Waffen, darunter einige Bowiemesser und ein Zeremonienstab mit dazugehöriger Rassel.« Hier machte er eine Pause und schaute zu Chief Thomas. »Und es fehlt das Geistertanzhemd.«
Christine folgte Herrn Dr. Horn und Corwin Standing Child, die nun zur Information eilten. In der großen Eingangshalle des Museums kamen weitere Besucher auf sie zu und stellten Fragen. Doch der verstörte Schrei einer jungen Dame brachte alle gleichzeitig zum Verstummen. In die gespenstische Stille hinein hörte man nur noch die Schritte von Dr. Horn. An der Information, direkt vor dem grauen Telefon, saß die Frau, die noch vor zwei Stunden allen Gästen freundlich zugenickt hatte. Sie rührte sich nicht, die Augen waren starr aufgerissen und ihr Oberkörper blutüberströmt. Das Rot bildete einen makabren Kontrast zum Grün ihrer Bluse. Jemand hatte ihr die Kehle durchgeschnitten.

Ein Raubmord im Naturkundemuseum Münster? Diese Überlegung steht eigentlich nur ganz kurz im Raum, denn die geraubten Gegenstände haben für einen „normalen“ Einbrecher keinen Wert. Als kurz danach weitere Mordopfer auftauchen, findet sich schnell eine Gemeinsamkeit: Alle hatten irgendetwas mit der Indianerausstellung des Museums zu tun. Die junge Journalistin Christine Neustedt, die ursprünglich nur einen Artikel schreiben wollte, muss plötzlich feststellen, dass der unbekannte Täter sie mehr in sein Tun einbezieht, als ihr lieb sein kann…

Die Indianerausstellung des Naturkundemuseums Münster – wie oft bin ich schon dadurch gelaufen! Dieses (übrigens auch ansonsten) sehr schöne und informative Museum gehört seit vielen Jahren zu unseren regelmäßigen Ausflugszielen. Daher kenne ich die Räumlichkeiten gut und stellte beim Lesen hocherfreut fest, dass ich dank präziser Beschreibungen der Ausstellungsorte und -objekte stets genau wusste, wo ich mich gerade befand.

Dieser Krimi punktet bei mir aber nicht nur mit seinem Wiedererkennungswert, sondern verknüpft eine wirklich spannende Handlung mit reichlich Infos über die „Native Americans“, über ihre Vergangenheit und ihr Leben im Jetzt, über Mythen, heilige Gegenstände, Rituale und Zeremonien. Über ein Leben zwischen den Kulturen, über den Spagat, in der heutigen Gesellschaft zu leben ohne die eigenen Wurzeln zu verleugnen. Diese Themen finde ich hochinteressant und sie sind hier für mein Empfinden sehr gut umgesetzt.

Christine mag ich, wenn sie auch – ganz Journalistin – chronisch neugierig ist und eine unglückliche Begabung hat, sich ständig in Schwierigkeiten zu bringen. Letzteres trägt regelmäßig dazu bei, den ermittelnden Kommissar Delbrock (intelligent und sympathisch) auf amüsante Weise in die Nähe eines Nervenzusammenbruchs zu bringen. Und dann sind da noch mehrere indianische Künstler und Kunsthistoriker, die die Ausstellung besuchen. Allesamt interessante Charaktere, die den Leser sehr lange grübeln lassen, auf welche Art sie möglicherweise in die Vorfälle involviert sind. Es ergeben sich immer wieder nette kleine Dialoge, an denen ich großen Spaß hatte…
»Beten Sie eigentlich? Zu Gott oder zu Manitu oder wem auch immer?«
»Nun, ich tanze jedenfalls nicht mehr halb nackt ums Feuer und schwinge den Regenmacher. Ja, ich bete. Vermutlich zu demselben Gott, zu dem Sie hier üblicherweise beten, nur dass wir Native Americans eventuell unterschiedliche Auffassungen über einige Aspekte seiner Persönlichkeit haben.«

Die Handlung bleibt durchgehend spannend, den Schluss empfand ich als schön und realistisch und auch an Logik und Auflösung gab es für mich – trotz Mythen – nichts auszusetzen. In Kürze fahre ich wieder ins Museum und hoffe zuversichtlich, die nette Dame von der Info bei guter Gesundheit anzutreffen ;-)

»Was schleichst du dich auch immer so heran!«
»Das ist ein Gendefekt, den ich von meinen Ahnen habe.«