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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 928 Bewertungen
Bewertung vom 18.02.2015
Smith, Zadie

London NW


gut

Bewundert und ungeliebt

Nach sieben Jahren hat Zadie Smith, eine im englischen Sprachraum mit vielen Preisen geehrte Autorin, unter dem Titel «London N-W» erneut einen Roman vorgelegt, ihren vierten mittlerweile. Die Tochter eines Engländers und einer Mutter, die aus Jamaika stammt, ist in dieser Arbeitergegend im Nordwesten Londons aufgewachsen, sie ist mit dem trostlosen Milieu in ihrem multiethnischen Kietz also bestens vertraut, er diente auch schon in ihrem Debütroman als Schauplatz. Ihre in der Jetztzeit angesiedelte Erzählung bricht mit ihrem narrativen Stil radikal alle Konventionen, sie konterkariert damit die Erwartungen eines breiten Lesepublikums. Und eine Geschichte wird hier streng genommen auch nicht erzählt, es passiert so gut wie nichts. Also muss es wohl etwas anderes geben, das die mehr als vierhundert Seiten dieses Buches lesenswert macht.

Es ist fürwahr eine rasante Lektüre, die da auf ihren Leser wartet, ein in fünf Abschnitte und mehr als zweihundert Kapitel extrem unterschiedlicher Länge aufgeteiltes Kaleidoskop der menschlicher Befindlichkeiten, dargestellt am Beispiel von vier Mittdreißigern, die alle aus dem gleichen Londoner Problemviertel stammen und sich kennen. Stilistisch der Postmoderne zuzurechnen ist der erste Abschnitt, der Leah gewidmet ist. Sie ist bei einer karitativen Organisation beschäftigt, mit einem Franzosen verheiratet und aus tiefster Überzeugung kinderlos. Ihre während der Teenagerzeit beste Freundin ist Keisha, eine Farbige, der ein weiterer, der längste Abschnitt, gewidmet ist. Schon in der Schule zielstrebiger, schafft sie tatsächlich den Aufstieg in die Middle-Class, nennt sich fortan Natalie, wird Rechtsanwältin und heiratet einen Beau, ihren Traummann, ein Banker, mit dem sie zwei Kinder hat. Mit viel Hintersinn schildert die Autorin das Auseinanderdriften der beiden heranwachsenden Mädchen, deren Freundschaft durch ein deplaziertes Geburtstagsgeschenk dann für längere Zeit völlig unterbrochen wird. Die beiden männlichen Protagonisten sind Losertypen, antriebslos und ständig bekifft. Während Felix seiner neuen Freundin zuliebe bemüht ist, sich aus dem verhängnisvollen Kreislauf von Rauschgift und Kleinkriminalität zu befreien, ist der dunkelhäutige Nathan als Zuhälter und Dealer total heruntergekommen.

Trotz rascher Wechsel zwischen den vielen, teilweise beziehungslos nebeneinander stehenden Szenen bewirkt Zadie Smith, oft im Bewusstseinsstrom erzählend, doch einen kontinuierlichen Lesefluss mit ihrem atemlosen Schreibstil, welcher das hektische Leben, besser gesagt den Moloch, den eine moderne Megacity wie London nun mal darstellt, treffend abbildet. Ihre leichtverständliche, klare Sprache ist mit Slang durchmischt, in kurzen Sätzen werden stakkatoartig Einzelszenen, Dialoge, Aphorismen und Reflexionen aneinander gereiht. Dabei ändert sich ihr Stil gleitend vom postmodernen Anfang zum eher konventionell erzählten Ende. Dort treffen die weiblichen Hauptfiguren, die sich beide gleichermaßen schuldhaft in einer bedrohlich zugespitzten Ehekrise befinden, nochmals wie früher zusammen, ein versöhnlicher Abschluss allerdings wäre realitätsfern für Zadie Smith.

Migration, Prekariat, Aufstiegskampf sind Themen, die ihr am Herzen liegen, und dabei hebt sie Bildung als entscheidende Komponente hervor, ohne jedoch zu beschönigen, dass der daraus normalerweise resultierende Wohlstand beileibe keine Garantie für Wohlergehen ist, Konsumsucht ebenso verwerflich sei wie Haltlosigkeit und die ständige Jagd nach einem Joint. Es ist eine pessimistische, illusionslose Weltsicht, die da verbreitet wird, schon die Geburt sei eine Zumutung, da ihr zwingend der Tod folge, und die Spanne dazwischen bedeute allenfalls Chaos und Scheitern. Wozu also das Ganze? Natürlich ist es auch Zadie Smith nicht möglich, diese von ihr verklausuliert gestellte Frage stimmig zu beantworten, sie versucht es auch gar nicht erst. Man darf ihn bewundern, diesen Roman, lieben wird man ihn sicher nicht.

Bewertung vom 09.02.2015
Oksanen, Sofi

Fegefeuer


sehr gut

Eine Ahnung vom Ende

Die finnische Autorin Sofi Oksanen hat die Handlung ihres dritten Romans «Fegefeuer», dem ein Jahr vorher ein gleichnamiges Theaterstück vorausging, in Estland angesiedelt, dem sie durch ihre estnische Mutter verbunden ist und dessen Sprache sie beherrscht. Als ausgewiesene Feministin angesehen, sind ihre bisherigen Themen konsequent frauenbezogen gewesen, sie widmen sich Problemen wie Gleichberechtigung oder Gewalt gegen Frauen in patriarchalisch geprägten Gesellschaften. Schon der Titel dieses autofiktiven Romans, in dem sie Autobiografisches mit Erfundenem vermischt, deutet voraus, dass es um Unerquickliches gehen dürfte, dass die Hölle darin zur Realität wird, und diese Hölle heißt hier UDSSR. Die zornige Autorin scheut sich nicht vor schwierigen Themen, das kommunistische System, nach ihren eigenen Worten eines der schlimmsten der Weltgeschichte, sei bisher im Gegensatz zum Nationalsozialismus viel zu selten thematisiert worden.

Zara, eine junge russische Prostituierte, landet auf der Flucht vor ihren brutalen Zuhältern bei Aliide, einer alten Bäuerin in Estland. Widerwillig nimmt diese die geschundene junge Frau auf und versteckt sie in ihrem Haus. Erst allmählich stellt sich heraus, dass Zara nicht zufällig bei Aliide Unterschlupf gesucht hat, ihre Oma ist deren Schwester. Diesem nur wenige Tage im Jahre 1992 dauernden Handlungsstrang, also nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Unabhängigkeit Estland, steht ein zweiter gegenüber, der zeitlich mehr als vierzig Jahre zurückliegt und Aliides Leben als junge Frau schildert. Deren Schwester heiratet Hans, einen estnischen Nationalisten, und stürzt sie damit in ein lebenslanges Trauma, war Hans doch ihr Märchenprinz. Sie selbst heiratet später einen kommunistischen Apparatschik, und in einer spannenden Geschichte um Schicksal, Gewalt, Eifersucht, Verrat, Angst und Scham schält sich nach und nach das Bild einer menschlichen Tragödie heraus, die sich damals abgespielt hat, während Stalins Schreckensherrschaft. Bei dieser kurzen Skizzierung will ich es bewenden lassen, mehr zu verraten wäre einfach unfair den potentiellen Lesern gegenüber.

Die Autorin versteht es meisterhaft, mit einfacher Sprache verwickelte Zusammenhänge zu schildern, sie erweitert immer nur fein dosiert mit zusätzlichen Details ihr fiktionales Werk, das sich dann allmählich puzzleartig zu einem Panorama fügt. Und trotz der sprachlichen Schlichtheit schafft sie es, ihre Figuren und das Umfeld, in dem sie leben, glaubhaft und plastisch vor dem Auge des Lesers entstehen zu lassen, das Rotlicht-Milieu in Berlin ebenso wie das Landleben in Estland. Ähnlich polarisierend sind auch ihre beiden Protagonistinnen angelegt, Russin aus Wladiwostok gegen Estin, Jung gegen Alt, Nutte gegen Bäuerin, und die zwei wichtigen Männerfiguren sind ebenfalls konträr, estnischer Nationalist gegenüber sowjetischem Apparatschik. All das verleiht der atmosphärisch dicht erzählten Geschichte eine zusätzliche Dramatik. In Form der erlebten Rede rekapitulieren ihre Figuren häufig das Geschehene und dessen Hintergründe, eine detektivische Methode zur Klärung des Erkenntnisstands, die auch dem Leser hilft, den Durchblick zu behalten. Ergänzend werden Tagebucheinträge des untergetauchten estnischen Nationalisten eingeblendet, letzte Klärung bringen dann viele am Ende des Romans angefügte KGB-Dossiers, die das fünfte Kapitel bilden, ein raffinierter Schluss, der dem Roman fast so etwas wie Authentizität verleiht.

Ohne Pathos stellt Oksanen mit ihrem großartigen Roman geschundene Frauen in den Mittelpunkt, denen jedwedes Grundvertrauen abhanden gekommen ist, die ihr Martyrium mit unglaublicher Zähigkeit ertragen, es mutig abzuwenden versuchen und dabei selbst auch nicht schuldlos bleiben. Trotz der menschlichen Abgründe, in die uns Sofi Oksanen blicken lässt, trotz aller brutalen Härte, ist am Ende ihres raffinierten Psychodramas ein versöhnlicher Ausgang immerhin zu erahnen.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.02.2015
Härtling, Peter

Nachgetragene Liebe


gut

Von der Seele geschrieben

In dem autobiografischen Band «Nachgetragene Liebe» widmet sich der 1933 geborene Schriftsteller Peter Härtling seiner eigenen Vergangenheit, er erinnert sich darin an seine Kindheit bis hin zum Ende des Zweiten Weltkriegs, zeitlich also denkungsgleich mit der unsäglichen Geschichte des Nationalsozialismus. Es ist eine späte Aufarbeitung des Verhältnisses zu seinem Vater, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner Erinnerungen war Härtling immerhin schon sechzig Jahre alt. Im umfangreichen Werk dieses vielseitig interessierten, mit Vielem befassten Autors hat die Thematik des Erinnerns und der Bewältigung der Vergangenheit, sowohl in seiner Lyrik als auch in seiner Prosa, einen gewichtigen Anteil.

«Mein Vater hinterließ mir eine Nickelbrille, eine goldene Taschenuhr und ein Notizbuch, das er aus grauem Papier gefaltet und in das er nichts eingetragen hatte als ein Gedicht Eichendorffs, ein paar bissige Bemerkungen Nestroys und die Adressen von zwei mir Unbekannten. Er hinterließ mich mit einer Geschichte, die ich seit dreißig Jahren nicht zu Ende schreiben kann». Diesen einleitenden Worten folgt eine im Präsens erzählte Geschichte, beginnend mit den ersten Entdeckungstouren des fünfjährigen Peter Härtling auf dem Dreirad, der wissbegierig seinen Heimatort Hartmannsdorf bei Chemnitz erkundet. Schon die ersten Seiten dieser Erzählung erzeugen einen Sog, dem man sich als Leser kaum entziehen kann, mir ging es jedenfalls so, man fühlt sich wohl im Strom der Worte und will mehr wissen. Besonders reizvoll dabei ist die ungewohnte Ich-Perspektive eines Kindes, aus der heraus der Autor erzählt, er hat dafür eine überzeugende sprachliche Form gefunden, die man nirgendwo als aufgesetzt oder unglaubwürdig empfindet.

Härtlings Vater erscheint abweisend, fast unnahbar, ist als Richter und später als Rechtsanwalt immer beschäftigt, er ist die Respektsperson der Familie, nur selten auch Vollstrecker von Strafen, kümmert sich aber sonst kaum um die Erziehung des Sohnes. Umso stärker ist deshalb die Beziehung zur Mutter und zu den Großeltern, zu Onkeln und Tanten, die Peter in regem Wechsel gerne besucht. Zunehmend jedoch spielt die politische Situation in dieses friedliche Leben hinein, die Familie zieht nach Olmütz in Mähren um, wo sich Peter der Hitlerjugend anschließt, eine unbedachte und grobe Provokation seinen regimekritischen Eltern gegenüber, er entfernt sich dadurch erschreckend weit von seinem Vater. Der hilft als Anwalt tschechischen und jüdischen Mitmenschen gegen die Naziwillkür, ohne viel bewirken zu können, und wird bald zur Wehrmacht eingezogen, Peter sieht ihn für längere Zeit nicht mehr. Gegen Kriegsende, die Front rückt immer näher, taucht der Vater unerwartet wieder auf und evakuiert die Familie nach Zwettl in Niederösterreich. Dort hilft er im Chaos der Truppenauflösung als Offizier beherzt den flüchtenden Soldaten, indem er ihnen unautorisiert Entlassungsscheine ausstellt. Allmählich erscheint er dem vom Endsieg träumenden Peter in einem ganz anderen Licht. Kurz darauf jedoch stirbt der Vater in russischer Gefangenschaft, ohne dass Peter Gelegenheit zu einer Versöhnung mit ihm hatte, ohne dass er vorbehaltlos wieder Sohn werden konnte.

Als Zeitdokument beleuchtet dieses Buch eindrucksvoll das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte, vor dessen Hintergrund sich schicksalhaft eine Vater-Sohn-Beziehung entwickelt, die mit ihrer zunehmender Entfremdung die politischen Ungeheuerlichkeiten widerspiegelt. Präzise erinnert, ebenso detailreich wie glaubhaft erzählt, entsteht das damalige Leben vor dem Auge des Lesers, und mittendrin immer Peter Härtling, der sich Jahrzehnte später hier offensichtlich etwas von der Seele schreiben musste.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.02.2015
Schlink, Bernhard

Die Frau auf der Treppe


schlecht

Reine Inhaltsliteratur

Bernhard Schlinks neuer Roman «Die Frau auf der Treppe» hat schnell Bestsellerstatus erreicht, ob er allerdings an seinen großen Erfolg «Der Vorleser» anknüpfen kann, bleibt abzuwarten. Denn dessen origineller Geschichte, die sich einst so trefflich zur Verfilmung eignete, steht hier nichts Vergleichbares gegenüber, nur der Titel des Romans wirkt geheimnisvoll und macht neugierig. Aber reicht das aus, einen Roman lesenswert zu machen, nicht nur reiner Zeitvertreib zu sein? Mitnichten, wird erkennen, wer den kurzen Roman gelesen hat, zum Lesegenuss gehört eben mehr als nur ein verheißungsvolles Sujet. Sprachliche Eleganz zum Beispiel, ein raffiniert aufgebauter Plot, eigene Reflexionen anregende Gedanken oder Geschehnisse, den Horizont erweiternd, den Leser inspirierend und bereichernd, literarische Imagination mithin. Von all dem kann hier nicht die Rede sein!

Vordergründig geht es um ein Gemälde, das sich im Titel dieses Romans widerspiegelt, wobei Gerhard Richters «Ema - Akt auf einer Treppe» dem Autor erklärtermaßen als Inspiration gedient hat. Irene, die nackte Frau auf diesem Bild, wird von drei Männern umworben, ihrem verlassenen Ehemann, der das Bild gekauft hat, dem derzeitigen Liebhaber, der es gemalt hat, und einem Rechtsanwalt, der den Maler vertritt beim erbitterten Streit um die Wahrnehmung seiner Rechte an dem Gemälde. Der verliebte Anwalt hilft Irene beim Diebstahl des Gemäldes, sie verschwindet damit spurlos, seine Hoffnungen auf ein gemeinsames Leben mit ihr bleiben unerfüllt. Vierzig Jahre später entdeckt er das Bild in einer Galerie in Australien und findet auch Irene wieder, die illegal in der Einsamkeit eines Naturschutzgebietes versteckt lebt und an einem Pankreaskarzinom im Endstadium leidet. Auch der Eigentümer des Bildes und der Maler tauchen schon bald dort auf, in einer Art Showdown wird nochmals ergebnislos um das Bild gestritten. Irene hat es der Galerie geschenkt, sie endet durch Selbstmord, nachdem sie mit dem Anwalt einem Buschbrand entkommen ist.

Schlinks drei männliche Hauptfiguren sind grotesk überzeichnete, egoistische Erfolgsmenschen. Der Ich-Erzähler, als Spießer im Luxus lebend, mit juristischer Bilderbuchkarriere und wenig bilderbuchartigem Familienleben, erfährt in der vor Klischees geradezu strotzenden Geschichte zuletzt eine an naive Bibelgeschichten erinnernde Läuterung. Der Maler ist zur höchstbezahlten Nummer Eins der Kunstwelt aufgestiegen, der Eigentümer des Gemäldes schwimmt als erfolgreicher Unternehmer ebenfalls im Geld. In einer Diskussion mit dem Maler über die politischen Bedrohungen der Zeit lässt ihn der Autor sagen: «Sie machen sich Sorgen wegen der Armen? Solange der Fernseher läuft und Bier auf dem Tisch steht, sind sie keine Bedrohung, und dafür langt es allemal». Es wimmelt von derartigen Plattitüden, die der Autor aber erkennbar ernst zu meinen scheint, eine Denkweise, die in diesem Kitschroman häufig vorkommt, ohne dass sich Anzeichen einer satirischen Überzeichnung dieser schablonenhaft gestalteten Figuren finden. Die übrigens allesamt ziemlich blass bleiben und weit davon entfernt sind, Empathie beim Leser zu wecken.

Sprachlich uninspiriert, mit einfachster Syntax und massentauglich begrenztem Wortschatz, wurde hier ein banaler Plot konstruiert, die sich allenfalls als Strandlektüre eignet. Die Leser werden darin vieles wiederfinden, was sie am Stammtisch schon ganz ähnlich gehört haben, der Autor übt sich als Möchtegern-Philosoph. Der sonst so geschwätzige Plot lässt vieles offen, Irenes kriminelle Taten zum Beispiel, deretwegen sie steckbrieflich gesucht wird, und über ihre Tochter erfahren wir ebenfalls nichts. Reiner Inhaltsliteratur, wie sie Schlinks Werke darstellen, verzeiht man derartige Konstruktionsfehler nicht. Und literarisch kompensieren lassen sich solche Mängel in einem Schundroman auch nicht, womit denn?

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.02.2015
Modiano, Patrick

Unfall in der Nacht


sehr gut

Der wassergrüne Fiat

«Leben heißt, beharrlich einer Erinnerung nachzuspüren» lautet ein Zitat, dem Nobelpreisträger Patrick Modiano in vielen seiner Werke als Leitgedanken folgt, so auch in dem Roman «Unfall in der Nacht». Peter Handke ist es zu danken, dass der in Frankreich hochangesehene Autor auch in Deutschland bekannt wurde, ohne allerdings den Durchbruch bei einem breiteren Lesepublikum erreichen zu können. Wie der vorliegende Roman eindrucksvoll belegt, ist eine derartige Zurückhaltung nicht nur unbegründet, sie stellt vielmehr einen unnötigen Verzicht der Leserschaft dar, ein Versäumnis besser gesagt, wird doch Modiano als skeptischer Romantiker schon zu Lebzeiten als ein Klassiker der Weltliteratur angesehen. Ein Schriftsteller, der eine Fülle zeitloser Kunstwerke geschaffen hat, denen zweifellos eine sehr individuelle, so nur ihm eigene schöpferische Intention zugrunde liegt.

In Form einer literarischen Collage beschreibt der Autor die Suche des zwanzigjährigen Ich-Erzählers, der als Fußgänger Opfer eines Autounfalls wurde, nach der jungen Lenkerin des Wagens und ihrem wassergrünen Fiat. Ein geheimnisvoller Mann, dessen Funktion zunächst unklar bleibt, im Roman als brünetter Klotz bezeichnet, hatte ihn und die Fahrerin nach dem Unfall in die Klinik begleitet, ihn später ein Dokument unterschreiben lassen und ihm einen Umschlag überreicht, in dem sich ein dickes Bündel Geldscheine befand. Die spannende Geschichte ist in den 1960ziger Jahren angesiedelt, und auch hier finden sich die für Modiano so typischen, minutiösen geografischen Angaben, denen andererseits recht vage Zeitangaben gegenüberstehen. Namen unzähliger Straßen und Plätze also, Cafés und Kneipen der französischen Metropole, die der orientierungslose Protagonist, stundenlang und oft nachts, seltsam rastlos durchstreift. Bei diesem odysseeähnlichen Herumstreifen begegnet er, von dessen Vergangenheit und gegenwärtigen Lebensumständen der Leser nur andeutungsweise etwas erfährt, einem mysteriösen Philosophen, der wie ein Guru eine Schar von Jüngern um sich versammelt, zu denen auch Hélène gehört, die Musik studieren will. Ihre kurze Zweisamkeit endet abrupt, als sie nach London geht. Geradezu traumverloren sucht der Held der Geschichte nach Orientierung, nach festem Boden unter dem Treibsand seines Lebens. «Und ich zählte», heißt es dazu im Roman, «auf den wassergrünen Fiat und seine Fahrerin, um ihn zu entdecken». Er findet schließlich beide, und ganz Modiano-untypisch geht die nebulöse Geschichte diesmal gut aus.

Der kurze Roman ist flüssig geschrieben, in einer eleganten Sprache, die stark der gesprochenen Sprache ähnelt, wie die Übersetzerin angemerkt hat, zugleich aber sehr poetisch sei, ohne deshalb jedoch in einen gehobenen Ton zu verfallen. Eine Fülle von Assoziationen drängt sich dem Leser auf, mysteriös ineinander verwoben, dem Ätherrausch ähnelnd, der sich leitmotivisch in der Geschichte findet und die Grenzen zwischen Realität und Traum, zwischen Vergangenheit und Gegenwart verwischt. Es ist eine leise Stimme, mit der Modiano da spricht, lakonisch oft von unwichtig scheinenden Dingen erzählend, die uns gleichwohl aber in Bann schlagen, die uns geradezu zwingen, dem Fluss der Erzählung zu folgen, die subtilen Prozessen des Seelenlebens nachzuspüren. Ihm ist es wichtig, Stimmungen einzufangen, das Vergessene wiederzuentdecken.

Mit den Anklängen an die «Ewige Wiederkehr» Friedrich Nietzsches, wie sie sich im Verschwinden der Fahrerin, der Freundin Hélène oder des unnahbaren Vaters, ja auch dem eines Hundes zeigt, mit dem stets Nebelhaften seiner Geschichte zudem, in der vieles nur angedeutet wird, fordert der Autor vom Leser ein reflektierendes Mitwirken über die bloße Lektüre hinaus. Wer dazu willens ist, wird reich belohnt.

Bewertung vom 31.01.2015
Junge, Ricarda

Die letzten warmen Tage


gut

Resignative Melancholie

In ihrem vierten Roman «Die letzten warmen Tage», pünktlich zum 25jährigen Jahrestag des Mauerfalls herausgekommen, thematisiert Ricarda Junge die jüngste deutsche Vergangenheit in der Form eines Familienromans. Dessen Protagonistin und Ich-Erzählerin Anna entspricht in unübersehbar vielen Details der Autorin selbst, ist wie diese Pfarrerstochter und vor allem Romanautorin und damit dem nicht selten ja durchaus begründeten Verdacht ausgesetzt, eine brotlose Kunst zu betreiben. Und so ist die 29jährige Heldin denn auch prompt gezwungen, als «Produktbeschreiberin» schnöde Werbetexte für ein Online-Versandhaus zu verfassen, in Scheinselbständigkeit natürlich und damit in prekärer Beschäftigung ohne jede soziale Absicherung, - gleichwohl aber glücklich damit, nebenher auch schriftstellerisch tätig sein, an ihrem Roman weiterschreiben zu können.

Ein in der Jetztzeit angesiedelter Handlungsstrang umschließt klammerartig Annas Geschichte. Sie lernt einen zwanzig Jahre älteren Mann kennen und landet auch gleich im Bett mit ihm, obwohl sie kaum etwas von ihm weiß. Constantin ist vielbeschäftigter Manager, immer auf Geschäftsreisen in aller Welt, er lebt auf großem Fuße. In einer zweiten, deutlich umfangreicheren Handlungsebene werden Annas Entwicklung als Schülerin in Wiesbaden, die erste Liebe und ihre ersten Schritte ins Erwachsenenleben geschildert. Rasch und sehr geschickt zwischen diesen beiden Zeitebenen hin und her pendelnd wird außerdem in zahlreichen Rückblenden die Vorgeschichte der Eltern und beider Großeltern-Paare erzählt, der Roman umfasst zeitlich also drei Generationen. Dabei sind in die ganz persönlichen Geschichten dieser Familien gekonnt die politischen Zustände und soziologischen Entwicklungen in den beiden deutschen Staaten mit eingewoben, zeitlich markiert durch die deutsche Teilung und die Wiedervereinigung mit allen ihren Problemen. Annas Großeltern waren 1961 kurz vor Errichtung der Berliner Mauer in den Westen geflüchtet, zwei Monate später verschwand der Großvater spurlos. Er wolle nur rasch Zigaretten holen, hatte er Annas Mutter noch zugerufen und war dann nie wieder aufgetaucht. Eine mysteriöse Familientragödie, deren Geheimnis Anna aber durch Zufall schließlich doch auf die Spur kommt. Und ähnlich dramatisch geht es auch in ihrer Liebesbeziehung weiter.

Wer als Leser selbst die Zeiten miterlebt hat, von denen die Geschichte erzählt, wird einiges sehr Vertraute darin wiederfinden, sich an manches Vergessene zurückerinnern. Glaubhaft und nachvollziehbar werden viele Begebenheiten geschildert, Orte beschrieben, Zusammenhänge dargestellt, Gedanken und Meinungen wiedergegeben. Geschrieben ist das alles in einer leicht lesbaren, angenehm schnörkellosen Sprache, wobei mich besonders die realitätsnahen Dialoge überzeugt haben. Auch in vielen der Reflexionen, die sie zahlreich in ihren Text eingebaut hat, kann man den Gedankengängen der Autorin problemlos folgen, sie sind durchaus plausibel.

Obwohl die meisten Figuren der Geschichte lebensnah skizziert sind und überwiegend sympathisch rüberkommen, bleibt die Heldin Anna seltsam konturlos. Sie wird als Messie geschildert, als fast pathologisch schreibwütig, erscheint aber als weiblicher Teil der Liebesgeschichte ziemlich farblos, vermag kaum Empathie zu erzeugen beim Leser. Es ist keine heile Welt, die da aus der verengten Perspektive der Ich-Erzählerin geschildert wird, vielmehr sind hier das Private und das Politische geradezu schicksalhaft aneinander gekettet. Eine resignative Melancholie ist die vorherrschende Stimmung, die auf dem gesamten Geschehen lastet in diesem vielschichtigen Roman, der als Ganzes literarisch weniger überzeugend ist als in etlichen seiner Teilaspekte. Die ganz große Lesefreude vermochte sich deshalb bei mir nicht einzustellen, lesenswert ist der Roman aber allemal.

Bewertung vom 28.01.2015
Tóth, Krisztina

Pixel


schlecht

Wie gewollt und nicht gekonnt

Bereits mit dem Titel «Pixel» und der dazu passenden Covergrafik gibt die ungarische Autorin Krisztina Tóth einen Hinweis auf die Struktur ihres Buches, eine Sammlung von dreißig Kurzgeschichten, von ihr als Novellen bezeichnet. So wie sich aus kleinsten Bildelementen ein digitales Bild zusammensetzt, so ergibt sich auch aus ihren Geschichten von dreißig menschlichen Körperteilen, die sie für ihre kapitelweise aneinandergereihten kurzen Prosatexte jeweils thematisch nutzt, ein Gesamtes.

Als vorherrschendes Thema dieser Kurzgeschichten kann man im weitesten Sinne die Liebe bezeichnen, in allen ihren Spielarten, von Trieben ausgelöst und von Urinstinkten gesteuert. Der Leser folgt der Autorin in einem tollkühnen Parforceritt durch das verminte Gelände aller Arten von menschlichen Bindungen, die nicht immer allen Belastungen standhalten, manchmal in ausweglose Situationen münden und dort nicht selten seelische Abgründe offenlegen. Gleich im ersten Kapitel mit der Überschrift «Die Geschichte der Hand» wird es dramatisch, eine Szene aus dem Warschauer Getto. Mit kindlichen Patschhändchen malt ein kleiner Junge mit Schneiderkreide Kreise auf den Tisch. «Die Tür wird eingetreten, die drei Menschen im Zimmer werden in die Ecke gedrängt. Celina springt auf, sie bemerkt noch die Schneiderkreide, doch sie kann nichts mehr sagen, weil sie erschossen wird». Es folgt ein Verwirrspiel, bei dem die Autorin als personale Erzählerin ihre Erzählung korrigiert, aus dem in Treblinka gestorbenen Jungen das Mädchen Irena macht, die zuletzt in Wirklichkeit Gavriela heißt und gar nicht tot ist. «Ich weiß, das hört sich so immer komplizierter an, doch können wir die widerstrebenden wirren Fäden der Wahrheit nicht zu einer glänzenden Quaste glätten».

Die literarisch bisher vorwiegend als Lyrikerin hervorgetretene Autorin biedert sich, ein wenig zu aufdringlich für meinen Geschmack, immer wieder ihren Lesern an. Sie treibt ihre kleinen Geschichten vehement voran, brilliert mit originellen Einfällen und verblüfft häufig mit überraschenden, manchmal wahrhaft aberwitzigen Wendungen. Erzählt ist das alles sehr distanziert, fast lakonisch, in einer einfach strukturierten, etwas holprigen Sprache, der man anmerkt, dass hier vom Ungarischen ins Österreichische übersetzt wurde; - ein Deutscher wie ich fragt sich beispielsweise verblüfft, was denn ein «Unterstandsloser» ist. Einige der Figuren tauchen in den dreißig Geschichten immer wieder mal auf, die «Frau mit den weinroten Haaren» ist so eine. Aus scheinbar zusammenhanglosen Begebenheiten formen sich auf diese Weise allmählich schwache Beziehungsfäden, es entsteht eine zeitliche Abfolge von miteinander verbundenen, sich gegenseitig bedingenden Ereignissen, die sich puzzleartig zu einem Gesamtbild fügen wie die Pixel eines digitalen Bildes. Auf ihren Text bezogen schreibt die Autorin im Klappentext dazu: «Die Worte für die Prosa stellen sich ein».

So kühn der Entwurf für dieses Buch auch anmutet, so wenig kann mich die daraus entstandene Prosa überzeugen. Das beginnt schon bei den Körperteilen, deren erzählerische Funktion häufig sehr aufgesetzt wirkt, eine geradezu zwanghafte Konstruktion, nur um ein vorgegebenes Schema durchzuhalten. Einige der Kurzgeschichten erscheinen mir weitgehend sinnfrei, die für eine übergeordnete Sinnhaftigkeit beschworenen Querverbindungen sind oft nur schemenhaft zu erkennen, zuweilen auch gar nicht. Alle Figuren bleiben unkonturiert, erzeugen keine Empathie, sie stehen schablonenhaft für bestimmte menschliche Typen. Der lobenswerten Intention der Autorin folgt leider keine adäquate literarische Umsetzung, alles bleibt gutgemeintes Stückwerk, wirkt «wie gewollt und nicht gekonnt», und der Unterhaltungswert all dessen erscheint mir ebenfalls äußerst dürftig.

Bewertung vom 26.01.2015
Faulkner, William

Schall und Wahn


gut

Read it four times

Nach eigenem Bekunden war «Schall und Wahn» für William Faulkner «das wichtigste, ihm liebste seiner Bücher», merkt Frank Heibert im lesenswerten Nachwort zu seiner jüngst erschienenen Neuübersetzung an. Als Südstaatler hat sich Faulkner in seinem Werk immer wieder der Tragik seiner Heimat gewidmet, eine «kraftvolle und künstlerisch selbstständige Leistung in Amerikas Romanliteratur», wie das Nobelkomitee 1949 befand.

Erzählt wird der Niedergang der Familie Compson, deren Wurzeln in der fiktiven Stadt Jefferson bis ins siebzehnte Jahrhundert zurückreichen. Der Roman ist vierteilig aufgebaut und überrascht seine Leser gleich im ersten Teil, welcher aus einer wahrhaft ungewöhnlichen Perspektive erzählt ist, der des 33jährigen, schwachsinnigen Benjamin Compson. Geistig auf dem Niveau eines Kleinkindes, kann er nicht sprechen, gleichwohl lässt der Autor ihn als Ich-Erzähler fungieren, was stilistisch durch eine ebenso chaotische wie surreale Erzählweise realisiert ist, die dem Leser von Beginn an viel Geduld abverlangt. In einem Zeitsprung von 18 Jahren, zurück auf das Jahr 1910, erleben wir im zweiten Teil dessen Bruder Quentin als Ich-Erzähler an seinem Todestage in Harvard, am Ende seines Studiums. Er erträgt die Beherrschung nicht mehr, sich der inzestuösen Liebe zu seiner Schwester Caddy zu enthalten, und ertränkt sich.

Der jüngste Bruder Jason ist Protagonist des dritten Teils, in dem, jetzt wiederum aus einer weiteren Ich-Perspektive, seine Rolle als Familienvorstand erzählt wird, eine Aufgabe, an der er scheitern muss. Er hat sich an der Börse verspekuliert, und seine Nichte stielt ihm auch noch alle seine Ersparnisse und brennt mit einem Schausteller durch. Abgeschlossen wird dieser Roman vom Untergang einer einst stolzen Familie im vierten Teil mit der auktorial erzählten Lebenswelt der gutmütigen schwarzen Hausangestellten Dilsey, die mit Mann und Kindern im Nebenhaus wohnt und bemüht ist, das desaströse Familiengefüge der Compsons wenigstens einigermaßen intakt zu halten. Aus dieser Außenperspektive heraus wollte der Autor seine Geschichte, wie er selbst sagte, noch ein viertes Mal erzählen, jetzt jedoch aus einer gewissen Distanz.

Sieben Jahre nach dem «Ulysses» von Joyce benutzt auch Faulkner in längeren Passagen, insbesondere in der ersten Hälfte seines vierten Romans, den Bewusstseinsstrom als modernes Stilmittel. Vom Verlag auf dem Buchumschlag als «eines der sieben stilistischen Weltwunder des 20.Jahrhunderts» gefeiert, brennt er ein literarisches Feuerwerk ab, wie man es selten findet, und führt damit unbeirrt alle Lesegewohnheiten ad absurdum. Ihm zu folgen ist Schwerstarbeit in vielerlei Hinsicht, das beginnt schon bei seinen Figuren, die nicht nur unter verschiedenen Namen auftreten, sondern ihren Namen zuweilen mit anderen Figuren teilen. Quentin ist einmal er, der Sohn, im gleichen Satz aber auch sie, die uneheliche Tochter der Schwester nämlich, und Faulkner lässt uns im Ungewissen, wen von den beiden er denn meint. Mit rigoroser Negierung aller Regeln von Satzbau und Grammatik, einem besonders in den ersten beiden Teilen häufigen Stilmittel, das sich gleitend bis hin zum interpunktionslosen Text in Kleinschreibung entwickelt, der seitenlange Passagen einnimmt, wird dem arglosen Leser viel Geduld abgefordert, detektivische Scharfsicht sowieso. Ganz abgesehen davon, dass dem Allen erwartungsgemäß keine stringente Handlung zugrunde liegt und auch kein hilfreicher roter Faden das Verständnis fördert, sind die vielen undurchschaubaren Zeitsprünge ebenfalls kontraproduktiv für den Leser. Darauf angesprochen, dass manche Leser selbst nach dreimaligem Lesen noch immer Verständnisprobleme hätten, war Faulkners lapidare Empfehlung: »Read it four times». Allerdings, das sei noch angemerkt, erleichtern sowohl Faulkners später hinzugefügter Appendix (sic!) sowie das ausführliche Nachwort des Übersetzers das Verständnis ungemein. Ich empfehle dringend, Beides vorab zu lesen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.01.2015
Streeruwitz, Marlene

Nachkommen.


gut

Kein Geschichterl

Diesen Roman. Den hat sie geschrieben. 2014 erschienen. Marlene Streeruwitz. Aus Österreich. Die kennt man doch. «Nachkommen» ist der neue Titel. Den hat sie sich gewählt. Für ihr Buch. Wie die Verlagsheinis das immer nennen. 432 Seiten bedrucktes Papier. Dieses Buch.

Nur Umsatzbringer für die. Im besten Fall auch Gewinnbringer. Verkaufte Auflage ist wichtig. Roman sagen die nicht. Nur Buch. Ist denen egal. Hauptsache Geld kommt rein. Reichlich Geld. Brauchen die immer. Inhalt zählt bei denen nicht. Botschaft. Anliegen. Sprache. Kunst. Alles unwichtig für die. Das muss einen ja wütend machen. Auf den Literaturbetrieb. Die Schickeria der Verlage. Die mit ihren schwarzen SUVs durch Frankfurt brausen. Denkt Nelia Fehn. Zwanzig Jahre alt. Protagonistin im Roman der Streeruwitz. Jungstar der Frankfurter Buchmesse. Absolut jüngste Finalistin bisher. Unter den letzten Sechs. Ist eingeladen zur Preisverleihung. Ihr Verleger übernimmt die Kosten. «Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland». Das hat sie geschrieben. Den Preis bekommt aber doch eine andere Autorin. Macht nichts. Sie sei ja noch so jung. Sagen alle. Wenigstens ist sie schon mal dabei gewesen. Kann ja noch kommen. Später. Obwohl. Das Preisgeld hätte sie gut brauchen können. Sie ist ja ziemlich abgebrannt. Wie man so sagt. Hat auch noch keinen Vorschuss bekommen. Muss sie mal klären. Wenn die Mami das wüsste. Die hat ja auch geschrieben. Autorin war sie. Ist aber tot. Schon lange. Und der Opa ist heute Morgen beerdigt worden. Der hat sie großgezogen. Die Mami fehlt ihr so. Den Vater hat sie nie gesehen. Den hat die Mami damals verstoßen. Jetzt ruft der sie plötzlich an. Wohnt ja hier. Kennt ja wenigstens ihren Namen. Will sie treffen. Dringend. «Ich wollte kein Kind». Sagt er. Wie kann er so was sagen. Ihr ins Gesicht. Was soll das denn bringen. Mit ihnen. Vater und Tochter. Das wird nichts mehr. Alles umsonst. War doch schlimm genug heute auf der Messe. Der Trubel. Kein Durchkommen. Interviews. Warum haben sie den Roman geschrieben. Dumme Frage. Immer ruhig bleiben. Fernsehaufnahme bei 3Sat. Sie ist doch keine Anarchistin. Jetzt ist aber genug. Kamera aus. Raus ins Freie. Mal durchatmen. Schon wieder jemand. Der sie kennt von den Fotos überall. Sie anspricht. Bloß weg hier. Was zu essen wäre nicht schlecht. Vegetarisch. Schon ist sie am Ausgang. Hat nichts gefunden. Wann geht der nächste Flug. Sie recherchiert auf ihrem Smartphone. Da gibt es ja Bordverpflegung. Ihr Rucksackrollköfferchen klappert auf dem Pflaster. Frankfurt. Nur weg hier.

Literarisch eine Rebellin ist diese Frau Streeruwitz. Gegen den Strich gebürstet ihre komplexe Prosa. Man könnte sie feministisch nennen. Streng. Sarkastisch. Im Stil des Dekonstruktivismus. Immer kritisch hinterfragend. Aufgeteilt in kleine Satzfragmente. Analytisch. Immer im Stakkato. Mit radikal vereinfachter Interpunktion. Zunächst etwas störend für den Leser. Fast nur Punkte. Gewöhnt man sich aber schnell dran. Nelia als Protagonistin ist mir unsympathisch geblieben. Zu zickig. Ich konnte keinen Zugang finden. Zu ihr. Man erfährt auch nicht wirklich viel über sie. Keine markante Persönlichkeit jedenfalls. Als Nachkomme strickt jede Verantwortung ablehnend. Für alle Generationen vor ihr. Immer aufmüpfig und nachdenklich.

Ist die Literatur im Niedergang begriffen. Wie der Klappentext behauptet. Fragt man sich. Vom schnöden Gewinnstreben zu Boden gerungen. Ein korrumpiertes Literatur-Establishment als Totengräber einer Kunstrichtung. Hat die renitente Protagonistin recht mit ihrem Widerstand. Mit ihrem Wutausbruch. Mit ihrer Erregung. Wie Thomas Bernhard das genannt hat. Es muss Romane geben, ist sie sich sicher. «Romane und nicht Geschichterln. In die Erfindung gebündelte Wahrheit und nicht diese dünne Soße des Echten. Ins Zweidimensionale gepresster Kitsch». Wen mein Stakkato-Text nicht schreckt, der sollte diesen Roman lesen, er ist herzerfrischend anders, kein Geschichterl eben.

Bewertung vom 14.01.2015
Balzac, Honoré de

Verlorene Illusionen


ausgezeichnet

Vom Scheitern

In dem gewaltigen Zyklus «Die menschliche Komödie» von Honoré de Balzac, der von den geplanten 137 Romanen und Erzählungen «nur» 91 Werke fertig stellen konnte, ist der 1843 erstmals in einem Band herausgegebene, dreiteilige Roman «Verlorene Illusionen» das umfangreichste und wohl auch schönste Werk. Die vorliegende Neuübersetzung von Melanie Walz macht die Lektüre dieses im Stil des literarischen Realismus erzählten, grandiosen Gesellschaftsromans sprachlich zu einem Leseerlebnis besonderer Art, ist es ihr doch gelungen, den vor etwa 180 Jahren geschriebenen, anspruchsvollen altfranzösischen Text in ein flüssig zu lesendes, modernes Deutsch zu transferieren. Gleichwohl wird dem Leser volle Aufmerksamkeit abverlangt in diesem großangelegten Sittengemälde, sowohl was die gewaltige Zahl an Figuren anbelangt als auch das adäquate Milieu, der uns Heutigen unbekannte Erfahrungshintergrund der damaligen Epoche, insbesondere in Hinblick auf die politischen, sozialen, wirtschaftlichen und künstlerischen Gegebenheiten im Frankreich der ersten Hälfte des 19ten Jahrhunderts. Hilfreich dabei sind die Vorworte aus Balzacs Feder zu den ursprünglich drei einzelnen Bänden sowie insbesondere ein umfangreicher Anhang, in dem neben einem kenntnisreichen Nachwort der Übersetzerin vor allem deren umfangreiche Anmerkungen zum Text mir unabdingbar erscheinen zum tieferen Verständnis des Geschehens.

Julien Chardon, ein auffallend schöner junger Mann, der sich für einen großen Dichter hält, wird von Madame de Bargeton protegiert, unumstrittene Grande Dame der Salons in der Provinzstadt Angoulême. Als sie mit ihm nach Paris geht, schämt sie sich dort plötzlich seiner Armut und Provinzialität wegen und überlässt ihn einfach sich selbst. Es gelingt Julien, sich in der Boheme der französischen Metropole als Journalist nach oben zu arbeiten, in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Eine schöne Schauspielerin wird seine Mätresse, er lebt in Saus und Braus, bekommt aber schon bald Missgunst und Neid zu spüren und gelangt in einen finanziellen Abwärtsstrudel, dem er auch durch Glücksspiel und, als letzte Rettung, das Fälschen dreier Wechsel auf seinen Freund Daniel Séchard nicht entkommt. Er flüchtet aus Paris und kehrt nach Angoulême zurück. Daniel, der Juliens Schwester geheiratet hat, arbeitet dort verbissen an einer Erfindung zur Papierherstellung und vernachlässigt sträflich seine Druckerei, er bringt sich damit letztendlich in den Ruin. Die bei Fälligkeit präsentierten Wechsel kann er nicht einlösen und landet schließlich im Gefängnis. Julien als Schuldiger an diesem Unglück will sich daraufhin das Leben nehmen, trifft aber auf der Landstraße einen geheimnisvollen spanischen Abbé, der ihn von seinem Vorhaben abbringt. Er gibt ihm sogar das Geld für Daniel, mit dem der sich von allen seinen Schulden befreien kann, und macht ihn zu seinem Sekretär unter der Bedingung, dass er ihm blind gehorchen müsse, wofür er ihm in Paris eine glänzende Karriere ermöglichen werde.

Es sind in der Tat viele Illusionen, die Balzac als auktorialer Erzähler in seinem Roman platzen lässt. Er führt seine vielen überaus lebensvollen Figuren zielstrebig durch eine weit ausholende Handlung, immer mit dem Ziel, die Usancen und Hintergründe der vornehmen Gesellschaft und des korrupten Literaturbetriebs sowie der Theaterwelt seiner Zeit detailliert und so realistisch wie möglich darzustellen. Insoweit handelt es sich bei seinem Werk auch um ein wichtiges Dokument der Zeitgeschichte. Dünkel und Hochmut, Missgunst, Neid und Hass sind Auslöser absolut skrupelloser Ränkespiele und korrupter Machenschaften in dieser Erzählung, dem Sieg des Bösen stehen nur wenige ins Positive weisende Lebenslinien gegenüber, ein fürwahr pessimistisches Menschenbild, das Balzac da entworfen hat. Wer sich die Zeit nimmt, genüsslich in diesen Kosmos einzutauchen, dem stehen viele anregende Lesestunden bevor mit einem Klassiker der Weltliteratur.