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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 928 Bewertungen
Bewertung vom 23.03.2015
Reich-Ranicki, Marcel

Nichts als Literatur


sehr gut

Gedanken einer Lichtgestalt

Schon im Vorwort zu seiner Sammlung von Aufsätzen und Anmerkungen unter dem Titel «Nichts als Literatur» brilliert Marcel Reich-Ranicki durchaus passend mit einer Hommage an die altehrwürdige Reclam Universal-Bibliothek. Sie «repräsentiert und verkörpert ein Stück deutscher Kulturtradition», wie er schreibt. Welcher Leser wird ihm da nicht zustimmen und, sofern er der älteren Generation angehört, wehmütig an die eigene Schülerzeit zurückdenken? Der in vier Teile gegliederte, 1985 erschienene Band befasst sich mit allen Aspekten der Literatur, vornehmlich der deutschen allerdings, zu der natürlich die Rezeption ebenso gehört wie auch die Kritik als deren unentbehrlicher Bestandteil, selbst wenn, wie er launig von einem Treffen der Gruppe 47 berichtet, deren Vertreter dort von Martin Walser mal als «Lumpenhunde» beschimpft wurden.

«Wer schreibt, provoziert die Gesellschaft» beginnt das erste Kapitel «Unser literarisches Leben», in dem er die Funktion der Literatur als Waffe ebenso beleuchtet wie die unterhaltende Wirkung, die sie auszuüben vermag, dem Sport vergleichbar. Er bricht eine Lanze für die alte Oberlehrerfrage «Was wollte der Autor sagen», einer modernistischen Wertung der literarischen Form allein eine Absage erteilend, weil Aussage und Form «sich gegenseitig bedingen und eine Einheit bilden müssen». Die Bedeutung von Sex in der Literatur ist ebenso Thema wie die Rolle der Übersetzer, er verteidigt das Leichte am Beispiel Fontanes und wendet sich engagiert «Gegen die linken Eiferer». Und beendet dieses Kapitel mit einer kenntnisreichen Betrachtung über «Erfolg und Ruhm», in dem er Simmel mit Böll, Grass und Lenz vergleicht und zu dem Schluss kommt: «Auflagenhöhe und Ruhm decken sich eben nicht». Die Vorliebe für Ich-Erzählungen wird im zweiten Kapitel «Deutsche Literatur heute» als «Hang zum Monologischen» gedeutet. Die Konfektionäre unter den Literaten würden ihre Unfähigkeit durch «repetieren und kopieren, imitieren und montieren» tarnen, es gäbe ferner einen Trend zum «Schriftsteller am stillen Herd», der Rückzug in die Ruhe ländlicher Idylle. Walter Jens habe 1961 eine Tendenz zur kleinen Form konstatiert, die Abkehr von den dickleibigen Romanen, wie sie Proust, Joyce, Musil und Thomas Mann perfektioniert hätten. «Wer aber in einer Kurzgeschichte einen Absatz oder auch nur einen einzigen Satz nicht wahrnimmt, riskiert, dass sie ihm unverständlich bleibt». Er beschwört wehmütig einen wenig hoffnungsvollen Herbst der Literatur herauf (mit Recht, wie wir heute wissen), dessen Symptome er ebenso kundig wie humorvoll beschreibt, widmet sich sehr ausführlich dem panegyrischen Begriff der deutschen Innerlichkeit, um mit einer Betrachtung über die Ich-Besessenheit der Autoren zu enden, welche nützlich sei für die literarische Produktion.

Unter «Dichter und Richter» behandelt der Autor im dritten Kapitel das Phänomen der Gruppe 47, jene von Hans Werner Richter initiierten literarischen Tagungen, deren Prozeduren er sehr gründlich untersucht, wobei er etliche konzeptionelle Mängel aufzeigt, zum Beispiel die Probleme der Sofortkritik oder der sachfremde Einfluss der rezitatorischen Fähigkeiten des vorlesenden Autors. Ebenso kritisch beschäftigt er sich mit dem Klagenfurter Wettbewerb und dessen Jury, wo prozedurale Unzulänglichkeiten zu falschen Bewertungen führen würden. Gleichwohl, erläutert MRR, wäre trotz der antikritischen Mentalität der Deutschen, manifestiert in der (historisch ja erwiesenen, möchte ich hinzufügen) Vorliebe für den Untertanenstaat, wäre also die Kritik ein integraler Bestandteil des Literaturbetriebes, das Salz in der Suppe aus Schriftsteller, Verleger und Leserschaft, kurz und in seinen Worten: «Kritik will Literatur ermöglichen – das ist alles». Mit einem Epilog über das Herz als Joker der deutschen Dichtung endet dieses kenntnisreiche Buch unseres 2013 verstorbenen Kritikerpapstes, einer wahren Lichtgestalt der deutschen Literatur.

Bewertung vom 18.03.2015
Barnes, Julian

Lebensstufen


weniger gut

Ein literarisches Taj Mahal

In seinem neuen Buch «Lebensstufen» verarbeitet der englische Schriftsteller Julian Barnes seine Trauer über den Tod seiner innig geliebten Frau. «Zwischen Diagnose und Tod lagen 37 Tage», wie er schreibt, und diese wenigen Tage waren beherrscht von «Angst, Schrecken, Sorge, Entsetzen». Nun könnte jemand, der das Buch schon kennt, einwenden, es gäbe neben dem letzten Teil über die Trauerarbeit des Autors ja noch zwei weitere, vorangehende Teile, in denen es um Anderes geht. Und in der Tat, der für sein Romanwerk mit bedeutenden Literaturpreisen geehrte Autor hat im vorliegenden Band versucht, so Verschiedenes wie die Anfänge der Ballonfahrt und der Fotografie mit solchen Themen wie Liebe und Trauer zu verbinden. Dieser Versuch aber ist gescheitert, es würde dem Buch nichts fehlen, hätte er die beiden ersten Teile einfach weggelassen. Denn die wenigen Stellen, in denen vage Bezüge zwischen ihnen geknüpft werden, sind keineswegs überzeugend, sie wirken konstruiert und nur dazu bestimmt, die seltsame literarische Melange aus einem Essay, einer Kurzgeschichte und einem autobiografischen Bericht irgendwie zu rechtfertigen.

Unter der Überschrift «Die Sünde der Höhe» wird im ersten Teil von den Anfängen der Ballonfahrt erzählt, als kühne Männer den Traum vom Fliegen verwirklicht haben auf den Spuren von Ikarus. Der von mir ungemein geschätzte, ironische Erzählton von Julian Barnes, sein trockener britischer Humor, blitzt hier - aber leider nur hier - an einer Stelle kurz auf. Wenn nämlich die englischen Ballonfahrer nach glücklicher Landung in Frankreich dem Wind dankbar sind, der sie dorthin getrieben habe, der kulinarischen Genüsse wegen, denen sie bei der Begrüßungsfeier entgegensehen, kein Vergleich mit dem, was sie bei einer Landung irgendwo auf englischem Boden erwarten würde, erklärt der frankophile Autor. Auch «La divine Sarah» wagt sich in den Ballon, die legendäre Schauspielerin Sarah Bernhardt, die Göttliche, und Gaspard Félix Tournachon alias Nadar macht aus der Gondel die ersten Luftaufnahmen. Zu den kühnen Aeronauten gehört auch Fred Burnaby, der sich im mehr fiktional angelegten zweiten Teil «Auf ebenen Bahnen» in die Diva verliebt und natürlich scheitert, eine Göttin heiraten zu wollen muss ja schiefgehen.

«Ein Buch über das Wagnis zu lieben» kündet der Klappentext an, und so ist denn schließlich, nach einem Zeitsprung von mehr als hundert Jahren, auch der dritte Teil das, worum es eigentlich geht: Die tiefe Liebe des Autors zu seiner Frau Pat Kavanagh und der Schrecken, als er sie nach dreißig Ehejahren plötzlich verliert. Es ist eine wahrhaft grenzenlose Liebe, die da vor uns ausgebreitet wird, man ist geschockt und tief gerührt als Leser über den unbewältigten Schmerz dieses Mannes, der mit seiner neuen Lebenssituation nicht umgehen kann, sie nicht akzeptieren will, auch nach mehreren Jahren noch nicht. Mit einer Fülle von Gedanken und leidvollen Erfahrungen als Hinterbliebener versinkt Julian Barnes in eine scheinbar nicht enden wollende Trauer, bei der ihn, der sich einmal selbst als glücklichen Atheisten bezeichnet hat, keine Jenseitsversprechen, kein Glaube an Wiedergeburt oder den Eingang ins Nirwana trösten.

In seiner posthumen literarischen Liebeserklärung, die souverän konventionelle Gattungsgrenzen ignoriert, hat Julian Barnes, den man der Postmoderne zuordnet als Autor, in beeindruckender Weise die Schrecken geschildert, die der Tod auf den hinterbliebenen Partner auszuüben vermag, ja die in seinem Fall sogar Gedanken an Suizid ausgelöst haben. Nicht alle seiner diesbezüglichen Reflexionen sind überzeugend, manche Vergleiche erscheinen mir missglückt in seiner sehr persönlich gehaltenen Geschichte. Er erzählt unpathetisch und atmosphärisch dicht von der unsäglichen Trauer um seine Frau, der er mit diesem intimen Buch eine Art literarisches Taj Mahal errichtet hat, das mir allerdings in etlichen Aspekten nicht als gelungen erscheint.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.03.2015
Vargas Llosa, Mario

Ein diskreter Held


gut

Potenzschwäche

In seinem 2013 erschienenen Roman «Ein diskreter Held» thematisiert der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa die Ehrbarkeit - nicht die Diskretion, wie der Titel suggeriert - am Beispiel zweier älterer Männer, die sich standhaft mafiosen Machenschaften widersetzen. Der vielfach prämierte, in seiner Heimat hochangesehene Autor mit politischen Ambitionen hat sich nach der verlorenen Stichwahl um das Amt des peruanischen Präsidenten wieder ganz dem Schreiben zugewandt und wurde 2010 mit dem Nobelpreis geehrt «für seine Kartographie der Machtstrukturen und scharfkantigen Bilder individuellen Widerstands, des Aufruhrs und der Niederlage», wie es das Nobelkomitee in seinem typisch gestelzten Ton formuliert hat.

Felícito aus der Stadt Piura im Norden Perus, der sich mit harter Arbeit eine florierende Firma aufgebaut hat, sieht sich plötzlich mit Schutzgeldforderungen konfrontiert. Unbeirrt bleibt er jedoch hart, hält sich strikt an die Worte seines Vaters «Lass dich niemals von irgendwem herumschubsen», er weigert sich zu zahlen. Vielmehr wendet er sich an die Polizei und veröffentlicht außerdem eine Zeitungsanzeige, in der er den Erpressern lakonisch erklärt, von ihm würden sie nichts erhalten, nicht mal einen Centavo. Dabei bleibt er, auch nachdem Feuer gelegt wird in seinem Büro, erst als seine Mätresse entführt wird, beginnt er zu wanken. Als im zweiten Handlungsstrang der 81jährige Chef des gerade in den Vorruhestand gegangenen Don Rigoberto in Lima seine halb so alte Haushälterin heiratet, setzten dessen missratene Söhne wegen der ihnen entgangenen Erbschaft alle Hebel in Bewegung, um diese Ehe annullieren zu lassen. Ihr Vater sei unzurechnungsfähig, behaupten sie, und natürlich versuchen sie mit allen Mitteln, die beiden Trauzeugen, den Chauffeur des reichen Unternehmers ebenso wie dessen ehemaligen Generaldirektor, unter Druck zu setzten, damit sie dies bezeugen.

Es ist ein spannender Plot, zeitlich in der Gegenwart angesiedelt, wobei die zwei tragenden Stränge der Handlung am Ende zusammenlaufen, mehr sei hier aber nicht verraten. Dies ist bereits der vierte Roman des in wenigen Tagen 79jährigen Autors, den ich gelesen habe, ein Alterswerk mithin. Und ein recht handlungsreicher Roman, von seinem Autor gekonnt erzählt in farbenfrohen Bildern, mit lebendigen Figuren bevölkert, von denen die eine oder andere aus den vorhergehenden Romanen schon bekannt ist. Auch das Grüne Haus wird erwähnt, obwohl dieses Bordell aus dem berühmten gleichnamigen Roman von 1965 inzwischen längst abgerissen ist. Viele der für Vargas Llosa typischen Techniken finden sich auch in diesem Roman. Er erzählt seine Geschichte in Fragmenten, lässt bewusst Lücken in der Handlung, verschachtelt nicht zusammengehörende Teile der Handlung ineinander. So wechselt er zum Beispiel mehrfach von einem Dialog zweier Figuren völlig unvermittelt und ohne jede Kennzeichnung, also direkt Satz an Satz montierend, in einen ganz anderen Dialog zweier ganz anderer Personen. Diese von ihm bewusst betriebene, den Lesefluss arg störende Desorientierung ziele darauf ab, wie er in einem Aufsatz erklärt hat, die orientierungslose Sinnsuche seiner Romanfiguren analog auch auf den Leser zu übertragen. Zusätzlich benutzt er auch esoterische Elemente, hier eine an den «Doktor Faustus» von Thomas Mann angelehnte, den gesamten Plot begleitende, mysteriöse Teufelserscheinung.

Im Duktus von Elke Heidenreich handelt es sich zweifellos um eklige Altmännerliteratur, hier in der Variante des südamerikanischen Machismo. Und auch der Ödipus-Mythos wird variiert, in zwei sehr spezielle Vater-Sohn-Beziehungen nämlich, den Vätern allein aber gilt die Sympathie des Autors. Vieles bleibt ungesagt, die Erwartung des Lesers auf Szenen aus dem Mafiamilieu zum Beispiel wird geradezu konterkariert. Nach dem kitschigen Schluss musste ich konsterniert feststellen, dass Vargas Llosas Erzähltalent ebenso schwächelt wie die Potenz der alten Männer, über die er berichtet.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.03.2015
Morrison, Toni

Heimkehr


sehr gut

Vom moralischen Potenzial der Literatur

Mit «Heimkehr» hat die afroamerikanische Schriftstellerin Toni Morrison einen Zyklus fortgesetzt, der mit dem Roman «Jazz» begann. Dabei steht die Situation der farbigen Bevölkerung der USA zu verschiedenen Zeiten im Mittelpunkt, hier ist es der Rassismus der frühen Fünfzigerjahre. «Hätte Amerika eine Nationalschriftstellerin, so wäre es Toni Morrison» hat die New York Times über die Nobelpreisträgerin von 1993 geschrieben. Eine derartige Wertung kann nur qualitativ interpretiert werden, widmet sich die streitbare Autorin in ihrem Werk doch ausschließlich dem unterprivilegierten farbigen Teil der amerikanischen Bevölkerung, leiht also nur einer Minderheit ihre Stimme, nicht dem gesamten Volke. «Es wird niemand meine Literatur verstehen, der nicht versteht, aus welch anderem Humus sie wuchs als die Literatur der John Updike oder Saul Bellow», hat sie im Interview mit dem kürzlich verstorbenen Fritz J. Raddatz gesagt. Und ebenso eindeutig ist der feministische Blickwinkel, aus dem heraus sie schreibt, die Männer kommen allesamt schlecht weg in ihren Geschichten, so auch in ihrem vorliegenden neuen Roman.

Frank kehrt traumatisiert aus dem Koreakrieg zurück, in dem er seine zwei Kumpels verloren hat. Er stürzt ab, versinkt in Alkohol-Exzessen, trennt sich von seiner Freundin und landet in der geschlossenen Psychiatrie, ohne sich recht erinnern zu können, was ihn dort hingebracht hat. Weil er schlimme Nachrichten über seine innig geliebte Schwester erhalten hat, die im Sterben läge, bricht er aus von dort, will schnell zu ihr. Auf seiner Flucht erlebt er die Solidarität vieler Menschen, die ihm selbstlos weiterhelfen. Er findet Cee in schlimmem Zustand vor, ein dilettantischer Gynäkologe hatte in Narkose medizinische Experimente an ihr vorgenommen. Es sind die schwarzen Frauen ihres Heimatdorfes, die sie wieder aufpäppeln mit allerlei Heilkünsten jenseits der Schulmedizin. Diese starken Frauen, allesamt Analphabetinnen, sind die Stütze der kleinen Gemeinde, sie sind es, die heilen, die für Essen und Kleidung sorgen, den eigenen Garten bestellen, ihre Tiere füttern, Feldarbeit leisten, die bösen Geister fernhalten. Und die bei alledem noch singen, sich die alten Geschichten erzählen, dem Leben zugetan sind trotz aller Fährnisse und Widrigkeiten.

Es mangelt nicht an Grausamkeiten in diesem Roman, auf dem Kriegsveteranen lastet die Erinnerung an den grausamen Mord, den er in Korea an einem kleinen Mädchen verübt hat. Ein Trauma schon im Kindesalter war für die bei ihrer lieblosen Großmutter aufgewachsenen Geschwister, wie sie unfreiwillig Zeugen wurden, als ein Schwarzer heimlich auf einer Pferdekoppel verscharrt wurde. Frank findet heraus, dass es sich damals um das Opfer eines grauenhaften Kampfes gehandelt habe, zu dem zwei Farbige, Vater und Sohn, von einem weißen Mob gezwungen wurden, einem Hahnenkampf ähnlich, bei dem einer von Beiden in jedem Fall sterben musste. Ganz untypisch für Toni Morrison endet ihre Geschichte jedoch versöhnlich, um nicht zu sagen kitschig, Frank überwindet seine Psychosen, findet in seiner Fürsorge für Cee wieder Halt und Lebenssinn.

Abwechselnd auktorial und personal aus der Perspektive Franks erzählt, zuweilen sogar durch innere Monologe, in denen er die Autorin selbst anspricht, vermittelt der Roman das Bild eines zutiefst traumatisierten Mannes, dem gleichwohl seine Menschlichkeit erhalten geblieben ist. In schnörkelloser Sprache, mit ungekünstelten Dialogen und in diversen Rückblenden wird in dem schmalen Band das Bild einer typischen Südstaaten-Gesellschaft auf dem Lande gezeichnet. Zeitlich ist das Geschehen im Vorfeld der Rassenkämpfe angesiedelt, die diese Zuständen bis zum heutigen Tage allenfalls abmildern, nicht aber wirklich beseitigen konnten - als Stichwort sein nur Ferguson genannt, derzeit Thema in allen Medien. Gerade in Hinblick darauf ist «Heimkehr» ein überzeugender Beweis für das moralische Potenzial der Literatur.

Bewertung vom 10.03.2015
Petrowskaja, Katja

Vielleicht Esther


sehr gut

Google sei Dank

Die in Kiew geborene, russischsprachige Autorin Katja Petrowskaja hat mit «Vielleicht Esther» ein Buch vorgelegt, das ausdrücklich nicht als Roman firmiert, sondern der Rubrik «Geschichten» zugeordnet ist. Mit der gleichnamigen Geschichte aus diesem Band hat sie 2013 das Wettlesen um den renommierten und hochdotierten Ingeborg-Bachmann-Preis der Stadt Klagenfurt gewonnen. «Ich habe alles so aufgeschrieben, wie es passiert ist. Es ist leider eine wahre Geschichte» erklärte die seit 1999 in Berlin lebende Autorin, die mit ihrer Kolumne «Die west-östliche Diva» in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung als Journalistin bekannt geworden ist.

Es geht in ihrem Debüt um ihre Herkunft und Biografie, um die Geschichte ihrer Familie, die sich unversehens zu einem ergreifenden Spiegelbild einer ganzen Epoche erweitert, dem unheilschwangeren zwanzigsten Jahrhundert, dem Säkulum der Massenmorde. In einer hartnäckig verfolgten Recherche, die sie in Berlin beginnend nicht nur nach Warschau, Moskau und Kiew führt, sondern auch nach Auschwitz und Mauthausen, stöbert sie, alle modernen Mittel der Kommunikation nutzend, nimmermüde entfernte Verwandte und Zeitzeugen auf, ehemalige Nachbarn, Kollegen, Mithäftlinge, durchforscht staubige Archive ebenso wie das Internet. «Google sei Dank» heißt denn auch gleich die Überschrift der als Einleitung fungierenden ersten Geschichte, die sich am Berliner Hauptbahnhof abspielt. «Manchmal ist es gerade die Prise Dichtung, welche die Erinnerung wahrheitsgetreu macht» schreibt sie an einer Stelle, und in der Tat, die Erinnerungen sind brüchig nach so vielen Jahren und bedürfen fiktionaler Ergänzung.

So erinnert sich ihr Vater nicht mehr genau an den Namen der Urgroßmutter. «Vielleicht Esther» sagt er, und die Autorin erzählt die beklemmende Geschichte, wie die von ihrem Vater nur Babuschka genannte Greisin 1941 bei der Flucht vor den deutschen Truppen, weil sie dafür schon zu gebrechlich war, ganz allein in der Wohnung in Kiew zurückgelassen werden musste. Und wie «Vielleicht Esther» dann dem Aufruf der Besatzer zum Abtransport nachkommen wollte, einen Soldaten auf Jiddisch ansprach und gleich auf offner Straße erschossen wurde, während alle anderen ihren Tod in Babi Jar fanden. Es waren 33.771 Juden, die in dieser Schlucht am 29. und 30. September erschossen wurden, wie die Nazis mit groteskem buchhalterischem Eifer notierten. In dem aufsehenerregenden Roman «Die Wohlgesinnten» von Jonathan Littell, sei hierzu noch angemerkt, wird das schreckliche Geschehen dort aus der Täterperspektive beschrieben. Und nicht minder grauenvoll sind die Untaten während der Ära Stalins, von denen Katja Petrowskaja auch berichtet. Damals hätte man eifrig versucht, erfahren wir, durch Pfropfen neue Apfelsorten zu züchten, «gleichzeitig wurde zielstrebig an der Reduzierung der Menschentypen gearbeitet». Ihr Großonkel verübte 1932, dem Herostratos-Syndrom erliegend, ein Attentat auf einen deutschen Botschaftsrat in Moskau, der aber nur verletzt wurde. Nach einem gut dokumentierten Prozess wurde der meschugge Onkel zum Tode verurteilt, die wahren Hintergründe aber wurden nie aufgeklärt. Ein Urgroßvater wiederum gründete in Warschau ein Waisenhaus für taubstumme jüdische Kinder, über mehrere Generationen hinweg waren deshalb viele Vorfahren der Autorin als Lehrer solcher Kinder tätig.

In sechs Kapiteln mit 72 erfreulich schnörkellosen Geschichten entsteht das mosaikartige Familienbild einer eifrigen Ahnenforscherin, die klug und mit fein durchscheinender Ironie aus dem Abstand vieler Jahrzehnte erzählt, was eigentlich unerzählbar ist. Und ernüchtert feststellt: «Geschichte ist, wenn es plötzlich keine Menschen mehr gibt, die man fragen kann, sondern nur noch Quellen». Man folgt der Autorin gerne bei ihren spannenden Recherchen, sie zieht darüber hinaus ihre Leser mit einer assoziationsreichen Sprache in Bann, die noch lange nachklingt.

3 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.03.2015
Buwalda, Peter

Bonita Avenue


weniger gut

Ein literarisches Enschede

Mit dem so gar nicht an Holland erinnernden Titel «Bonita Avenue» für seinen Debütroman hat Peter Buwalda auf Anhieb einen Bestseller geschrieben, der anderthalb Jahre die niederländische Bestsellerliste bevölkert hat und inzwischen auch in einigen Übersetzungen vorliegt. Nun gilt heutzutage, hier wie dort, für anspruchsvollere Leser die aus leidvoller Erfahrung aufgestellte Regel: Vorsicht vor Bestsellern! Ausnahmen bestätigen allerdings die Regel, wie man weiß. Liegt hier eine solche Ausnahme vor?

Der dickleibige Band mit mehr als sechshundert Seiten ist eine Familiensaga der besondern Art, in dem die heutige Zeit mit ihren Patchwork-Idyllen ad absurdum geführt wird. Seine Geschichte ist singulär angelegt, die niederländische Gesellschaft spielt nur eine Nebenrolle, sie wird nicht widergespiegelt in dem turbulenten Geschehen um die Familie Sigerius. Ganz genüsslich demontiert der Autor seine wenigen Figuren, nachdem er sie zunächst als erfolgreiche Idealtypen aufgebaut hat. Und deren wichtigste ist Siem Sigerius, einst erfolgreicher Judoka, der nach einem Unfall die vielversprechende sportliche Karriere aufgegeben muss und auf dem Krankenbett zufällig sein mathematisches Talent entdeckt. Es folgt eine kometenhafte akademische Laufbahn, die ihren Höhepunkt in seiner Berufung als Wissenschaftsminister erreicht. Seine privaten Verhältnisse gestalten sich weniger glamourös, er trennt sich von seiner ersten Frau Margriet, mit der er einen missratenen Sohn namens Wilbert hat, und heiratet die Nachbarin, die aus erster Ehe zwei Töchter mitbringt, Joni und Janis. Als die alkoholkranke Margriet stirbt, nimmt Siem seinen Sohn bei sich auf, ein Fehler, wie er bald merkt. Als sich die Probleme mit Wilbert häufen, nutzt er einen Vorfall, um ihn durch eine Falschaussage von Joni hinter Gitter zu bringen. Kaum entlassen wird er zum Mörder und nun auf lange Zeit weggesperrt. Seine aufgestaute Rache entlädt sich schließlich nach seiner vorzeitigen Freilassung und führt zu einem aberwitzigen Schluss in bester Horrorfilm-Tradition.

Buwalda arbeitet mit brachialer Gewalt bei der Demaskierung seiner Hauptfiguren, zu denen neben Siem dessen ebenso intelligente wie attraktive Stieftochter Joni und deren Freund Aaron gehören. Die beiden betreiben heimlich eine erfolgreiche Pornoseite im Internet, bei der Joni als Akteurin fungiert und Aaron als Fotograf, was die beiden schnell zu Millionären macht. Auf Wirkung bedacht baut der Autor das Unglück von Enschede im Jahre 2000 in seine Geschichte mit ein, und analog der Explosion der dortigen Feuerwerksfabrik fliegt auch die geheime Pornoseite auf, und das fragile Familiengebäude wird ebenfalls zerstört. Die beiden trennen sich, Joni flüchtet vor dem Zorn des prominenten Vaters in die USA, der paranoide Aaron landet am Ende in der Psychiatrie.

Der turbulente Plot wird in verschiedenen Zeitebenen und aus wechselnden Perspektiven erzählt, in der dritten Person aus der von Siem und Aaron, Joni tritt als Ich-Erzählerin auf. Die manchmal abrupten Handlungssprünge erfordern erhöhte Aufmerksamkeit des Lesers. Einen breiten Raum nimmt die Welt der Universität ein, der Judo-Sport wird ausgiebig beschrieben, das frühe Internet sowie die sich daraus entwickelnde Pornobranche. Glücklich war die Familie nur in den Jahren, als sie in der titelgebenden «Bonita Avenue» in den USA wohnte, die holländische Heimat hingegen führt für sie alle in die Katastrophe, «eine Tragödie ohne auch nur die Spur einer Katharsis», wie Siem beim Showdown im Roman betroffen feststellt. Die verstörende Geschichte, die an der Normalität so gar kein Interesse hat, erscheint in Vielem maßlos übertrieben und lässt, in toto erzählt wie sie ist, für eigene Interpretationen keinen Raum. Der Autor lässt es richtig krachen, Zwischentöne sind nicht zugelassen in seinem zerstörerischen Plot, eine geradezu pyrotechnische Prosa, ein literarisches Enschede sozusagen.

Bewertung vom 02.03.2015
Reza, Yasmina

Glücklich die Glücklichen


gut

Nur für Pessimisten

Unter dem tautologischen Titel «Glücklich die Glücklichen» hat die französische Schriftstellerin Yasmina Reza ihr neuestes Buch vorgelegt. Ihre Karriere begann sie als Schauspielerin und Dramatikerin, seit 1998 hat sie ihr Œuvre um Prosa erweitert. Einem breiteren Publikum ist sie spätestens seit der grandiosen Verfilmung ihres Theaterstücks «Der Gott des Gemetzels» durch Roman Polanski bekannt. Wer diesen Spielfilm gesehen hat mit seinen funkelnden Wortgefechten, dürfte, wie ich auch, neugierig geworden sein auf die Prosa dieser Autorin.

Formal gliedert sich ihr Buch, das als Roman firmiert, in einundzwanzig jeweils für sich stehende Kurzgeschichten, überschrieben mit den Namen der achtzehn Figuren, aus deren Perspektive darin berichtet wird. Es beginnt gleich dramatisch mit Robert, der mit seiner Frau an der Käsetheke eines Supermarktes aus nichtigem Anlass in einen heftigen, beinahe handgreiflichen Streit gerät. Ausraster dieser Art sind als Handlungseffekte typisch für Yasmina Reza, sie arrangiert mit solch verbalem Gemetzel genüsslich die Selbstmontage ihrer Figuren. Der drei Generationen umfassende Menschenzoo, den wir da vorgeführt bekommen, beschränkt sich soziologisch auf die heutige Mittelschicht. Vertreten ist da der Politiker ebenso wie der Jurist, Arzt, Direktor, Journalist oder Chauffeur, die Schauspielerin oder die Sprechstundenhilfe. Es sind Familien, Paare und Einzelgänger, die in einem weiten Beziehungsgeflecht gesellschaftlich, freundschaftlich, familiär, ehelich oder amourös miteinander verbunden sind. Hinter der intakten Fassade erweisen sich viele dieser Beziehungen im besten Fall als brüchig, oft aber auch als längst zerstört. Das Neurotische im personalen Ensemble der Autorin reicht vom tüchtigen Onkologen, der sich im Stadtpark devot mit jungen Strichern einlässt, über die Schauspielerin, die mit ihrer Neigung zur Selbstverleugnung immer bei den unmöglichsten Männern landet, bis hin zum schizophrenen Sohn, der sich derart in seine Begeisterung für Céline Dion hineinsteigert, dass er sich am Ende selbst für die kanadische Popsängerin hält und in der Psychiatrie landet. Es gibt aber auch den total vereinsamten Patienten, der seinem erstaunten Analytiker erklärt: «Wenn ich bei mir zu Hause bin, habe ich Angst davor, dass jemand vorbeikommen und sehen könnte, wie einsam ich bin».

Es sind solche Sätze, die diesem figuralen Geflecht seine besondere Note geben. Die Autorin glänzt mit überraschenden Gedankengängen, zeigt verblüffende Querverbindungen auf, sprüht geradezu vor Wortwitz. «Ich kann mit meiner Frau kein ernsthaftes Gespräch führen. Unmöglich, sich verständlich zu machen. Das gibt es nicht. Schon gar nicht im Rahmen einer Ehe, wo alles gleich zu einer Gerichtsverhandlung wird». Das abenteuerliche Konstrukt des kurzen Romans stellt im Übrigen an den Leser, allein schon von der mehr als üppigen Figurenfülle her, erhöhte Anforderungen, will er die ausufernden Verästelungen und subtilen Querverbindungen sicher erkennen und logisch einordnen. Nicht wenige der Figuren erscheinen auch grotesk überzeichnet, sie bleiben allzu deutlich reine Kunstfiguren, zu denen man kaum Empathie aufbauen kann. Was ist Glück, lautet die Kardinalfrage, und wie kann man es finden, an wen wendet man sich? Eine der Frauen wendet sich stets an ihren verstorbenen Vater, es käme ihr nicht in den Sinn, mit ihren vergleichsweise banalen Problemen zu Gott sprechen zu wollen: «Ich war immer der Ansicht, dass man Gott nicht stören darf». Es nervt sie allerdings, dass ihr Vater, der schon immer eine Niete war, im Himmel so wenig erreicht für sie.

«Die geistreichsten Menschen sind immer Pessimisten. Sie sind auch die humorvollsten. Ich habe noch nie mit einem Optimisten richtig gelacht» hat die Autorin in einem Interview mal geäußert. Demzufolge sollten auch nur ausgemachte Pessimisten dieses vergnügliche Buch lesen.

Bewertung vom 28.02.2015
Toussaint, Jean-Philippe

Nackt


weniger gut

Mut zum Honigkleid

In der Tetralogie über seine mythische Frauenfigur Marie hat der belgische Autor Jean-Philippe Toussaint kürzlich den vierten Band unter dem Titel «Nackt» vorgelegt. Er ist im Sinne seines Förderers Alain Robbe-Grillet im Stil des Nouveau Roman verfasst, vertraut also darauf, Spannung zu erzeugen durch Auslassungen. Insoweit erfordert der Roman mitwirkende Phantasie. Der Leser muss, um Verständnislücken zu vermeiden, die Leerstellen in der Geschichte ergänzen, er darf im Kontext mit dem Erzählten seine eigene, individuelle Geschichte konstruieren, die Bilder für sein Kopfkino also nach Gusto komplettieren. Ich habe das Buch geschenkt bekommen und es ohne Kenntnis der vorangehenden Romane als alleinstehende Geschichte gelesen, erst hinterher habe ich ein wenig recherchiert und kann nur bestätigen, dass es sehr wohl auch für sich gelesen werden kann.

Im Mittelpunkt dieses Liebesromans steht Marie Madeleine Marguerite de Montalte, eine zum Jetset gehörende junge Modeschöpferin. Der namenlos bleibende Ich-Erzähler ist unsterblich in sie verliebt, ja geradezu vernarrt, ihre Beziehung jedoch gestaltet sich als ein dauerndes Auf und Ab, Versöhnung und Trennung also in ständigem Wechsel. Auffallend ist, dass der Mann völlig passiv erscheint, nur beobachtend, nicht eingreifend in die Geschehnisse, Marie allein ist die Handelnde. Beide Figuren sind schemenhaft, erscheinen als Charaktere konturlos, umso mehr aber stehen die Dinge und Ereignisse im Vordergrund, werden minutiös beschrieben. Wie die Modenschau in dem mit «Herbst-Winter» überschriebenen, vorspielartigen Abschnitt, bei der Marie in einer auf die Spitze getriebenen, experimentellen Kreation ihr «Honigkleid» präsentiert, «eine Haut Couture ohne Couture, eine Nähkunst ohne Naht», wie Toussaint es ausdrückt. Als das nackte, von Kopf bis Fuß mit Honig bestrichene und von lebenden Bienen umschwärmte Mannequin stolpert, gerät die grandiose Inszenierung zum Desaster.

In Fragmenten wird erzählt, wie nach einer Trennung des Paares der eifersüchtige Mann sie heimlich während einer Ausstellung in Tokio beobachtet, wie dort ein Charmeur zunächst eine falsche Marie, dann aber die Modeschöpferin umgarnt, erfolgreich, wie man erfährt. Nach einem gemeinsamen Urlaub auf Elba trennen Marie und der Ich-Erzähler sich wieder, um zwei Monate später für eine Beerdigung gemeinsam dorthin zurückzukehren. Der Brand der Schokoladenfabrik, dessen Gerüche die ganze Insel einhüllen, der Schock über einen unautorisierten Benutzer ihres Ferienhauses, das ungeheizte Hotelzimmer, die mangels Ortskenntnissen verpasste Beerdigung, all dies wird minutiös geschildert und noch durch allerlei Andeutungen angereichert. Als Marie ihm erklärt, dass sie schwanger ist, zweifelt er, ob er der Vater ist, «weil wir tatsächlich seit mehreren Monaten nicht mehr miteinander geschlafen hatten, mit der Ausnahme dieser einzigen Umarmung …, als wir in aller Herrgottsfrühe, völlig übermüdet und übel zugerichtet, im dämmrigen Licht des Schlafzimmers flüchtig zusammen waren, mehr in einer harmlosen, Trost spendenden Umarmung, als dass wir so richtig, wie es sich gehört, miteinander Sex gehabt hätten (aber ganz offensichtlich zählt so etwas auch, wir waren hier wohl schlecht beraten)». Ob Marie vielleicht auch nur ein bisschen schwanger ist, fragt sich der verdutzte Leser.

In klarer Sprache erzählt der Autor geradezu minimalistisch karg von Marie und dem namenlosen Ich-Erzähler. Wobei er virtuos ebenso mit Zeitebenen spielt wie mit Orten und Figuren und sich, ganz dem Nouveau Roman verpflichtet, aller psychologischen Deutungen enthält. All dies dient ihm hier übrigens nur dazu, sich in immer neuen Reflexionen über seine exaltierte Heldin zu ergehen. Weder Handlung noch Sprache stünden für ihn im Mittelpunkt, sondern eine bestimmte Sicht auf die Welt, hat Toussaint angemerkt. Ob der Leser das am Ende genauso sieht und ob sich gar seine Weltsicht verändert hat, ist ausschließlich in ihm selbst begründet.

Bewertung vom 26.02.2015
McCullers, Carson

Die Ballade vom traurigen Café


weniger gut

Die Parabel von den drei Krüppeln

Mit der 1951 erstmals in Buchform herausgegebenen Novelle «Die Ballade vom traurigen Café» hat die aus den Südstaaten stammende US-amerikanische Schriftstellerin Carson McCullers ein Werk geschrieben, das in der literarischen Fachwelt als ihr bedeutendstes angesehen wird. Vom Format her unwillkürlich an ein Gesangsbuch erinnernd, macht das schmale Büchlein schon rein äußerlich deutlich, dass es sich dabei um eine hoch verdichtete Prosa handeln muss. Und tatsächlich bestätigt sich dem Leser dieser erste Eindruck schon nach wenigen Seiten. Geradezu idealtypisch für die literarische Gattung wird hier eine in sich geschlossene Geschichte in straffer Form und in einem einsträngigen Plot erzählt, die Story treibt überdies deutlich erkennbar auf einen finalen Kulminationspunkt zu.

«Die Stadt selbst ist trostlos; da ist nicht viel außer der Baumwollspinnerei, den zweiräumigen Hütten für die Arbeiter, ein paar Pfirsichbäumen, einer Kirche mit zwei bunten Glasfenstern und einer schäbigen Hauptstraße von knapp hundert Metern Länge» lautet der erste Satz. An Faulkner erinnernd wird hier eine typische Kleinstadt in den Südstaaten beschrieben. Im Mittelpunkt steht Miss Amelia, eine maskuline Frau, die nicht nur von der stattlichen Körpergröße her alle überragt. Sie betreibt einen Kaufladen, ist überaus tüchtig, scheinbar auch ziemlich reich, aber geizig. Ihre Ehe mit dem kriminellen Tunichtgut Marvin dauert nur zehn Tage, dann wirft sie ihn aus dem Haus. Eines Tages taucht plötzlich ein zerlumpter Buckliger auf, der sich als ihr Cousin ausgibt. Das sonst so resolute, unnahbare Mannweib entwickelt ganz allmählich ein liebevolles Verhältnis zu ihm, und ihm zuliebe wandelt sie auch ihren Laden in ein Café um, das schnell zur einzigen Attraktion der armseligen Kleinstadt wird. Als aber Marvin nach langer Haftstrafe aus dem Gefängnis entlassen wird, bahnt sich eine Katastrophe an.

McCullers autobiografisch geprägter Existentialismus findet in dieser schwermütigen Novelle seinen Ausdruck einerseits in den einseitigen, unerfüllten Liebesbeziehungen der drei Protagonisten, andererseits aber auch in der erfolglosen Identitätssuche und der unheilvollen Isolation ihrer Figuren, eine Folge von deren wahrhaft beklemmenden Sprachlosigkeit. Die Hauptfiguren sind alle drei abnorm, Miss Amelia ist gefühlsmäßig verkrüppelt, der bucklige Cousin körperlich und Marvin charakterlich. Diverse Nebenfiguren bevölkern als skurrile Gestalten das Café, sie treten zumeist aber als schweigende Zaungäste auf. Die Autorin beschreibt ihre Figuren wenig empathisch, fast distanziert, und sie erzählt in einer Sprache, der jede feminine Note abgeht, die klar und sachlich, aber in keiner Weise elegant ist. Ein Duktus übrigens, die mich unwillkürlich an Märchen erinnert hat mit ihrer leicht nachvollziehbaren, sequenziellen Erzählweise, die in dieser Novelle zuweilen sogar poetisch ist, aber sprachlich uninspiriert bleibt, konsequent zielgerichtet eben und sehr sparsam gestaltet.

Zweifellos gehört Carson McCullers zu den großen Südstaaten-Schriftstellern. Heinrich Böll hat, wie uns der Klappentext verrät, über sie geäußert: «Bleibt die McCullers nicht eine große Autorin, auch wenn ihre Bücher kaum gekauft werden? Ich könnte mir vorstellen, dass jeder soeben geborene Leser, wenn er erst einmal fünfzehn Jahre geworden ist, sich eines ihrer Bücher aus dem Ramschkasten fischt und bei der Lektüre vom Fieber ergriffen wird». Nun bin ich zwar ein großer Böll-Verehrer, muss ihm hier aber die Gefolgschaft verweigern. Fieber hat mich wahrlich nicht ergriffen bei dieser Lektüre, dafür war mir der Text zu holzschnittartig, der Plot zu simpel konstruiert, das Ganze zu sehr als Parabel angelegt. Vielleicht ist diese Novelle ein Klassiker, aber einer, den man ehrfürchtig zur Hand nimmt und dann ernüchtert wieder weg legt.

Bewertung vom 23.02.2015
Modiano, Patrick

Im Café der verlorenen Jugend


gut

Durch die Schattentür

«Wer morgens einen Roman von Patrik Modiano zu lesen beginnt, hat ihn mittags schon gelesen und kann mitreden», hat ein Spötter mal gesagt. Und so ist denn auch der 2012 auf Deutsch erschienene Roman «Im Café der verlorenen Jugend» mit seinen 158 Seiten quantitativ ein Leichtgewicht, dessen qualitative, sprich literarische Bedeutung allerdings eher schwergewichtig ist, wie die weltweit positive Rezeption des schmalen Bändchens eindrucksvoll belegt.

Das Nachspüren zieht sich als Thematik durch viele Werke des Autors, und so steht auch hier eine junge Frau im Mittelpunkt, deren Lebenslinien nachzuspüren die Thematik dieses Romans bestimmt, der zeitlich in den 1960er Jahren angesiedelt ist. Ungewöhnlich ist dabei die von Modiano erstmals verwendete Aufteilung der Erzählperspektive auf nicht weniger als vier Ich-Erzähler, die er in getrennten Kapiteln zu Wort kommen lässt. Mit diesem Kunstgriff stellt er analog vier unterschiedliche Formen des Erinnerns nebeneinander. Da ist zunächst ein Student, der den Leser in die Boheme des Pariser Café Condé einführt, welches einen nicht nur örtlichen Fixpunkt der Erzählung markiert. Eines Tages taucht dort eine geheimnisvolle junge Frau auf, der Leser erfährt zunächst sehr wenig von Louki, wie sie von den illustren Stammgästen genannt wird. Im zweiten, typografisch unzureichend markierten Kapitel ist der Ich-Erzähler plötzlich ein älterer Detektiv, der sich als Kunstbuchverleger ausgibt. Er hat im Auftrag ihres verlassenen Ehemannes dessen Frau Jaqueline im Café Condé aufgespürt. Jaqueline/Louki selbst erzählt aus eigner Perspektive im dritten Abschnitt von ihrer Jugend mit ihrer alleinerziehenden Mutter, die als Platzanweiserin im Moulin Rouge arbeitete. «Als ich fünfzehn war, konnte man mich für neunzehn halten», folglich nutzte sie die nächtliche Abwesenheit ihrer Mutter für Streifzüge durch die Umgebung. Dabei lernt sie Jeanette kennen, macht erste Erfahrungen mit Rauschgift und heiratet Jahre später dann einen deutlich älteren Mann. Ihre Erinnerungen an diese Zeit sind äußerst nebelhaft. Die folgenden beiden Abschnitte sind aus der Perspektive des Schriftstellers Roland erzählt, der Louki bei einer Seance kennengelernt hat. Für ihn verlässt sie ihren Mann, ihr Glück jedoch währt nicht lange, schließlich springt Louki im Beisein ihrer Freundin vom Balkon, «Es ist so weit. Lass dich fallen» sind ihre letzten Worte, bevor sie der Sinnlosigkeit entflieht und sich der ersehnten Schwerelosigkeit überantwortet.

Ich war nach der Lektüre des Romans geneigt, ihn gleich noch einmal zu lesen, denn vieles bleibt unklar und vage, man weiß nicht so recht, wann was genau passiert ist. Damit ist allerlei Deutungsversuchen, um nicht zu sagen wilder Spekulation, und Tür und Tor geöffnet, eine Wirkung, die Modiano bewusst anstrebt mit seinem ebenso poetischen wie kryptischen Roman. Die Wahrheit über das Geschehene jedenfalls erweist sich hier als pure Illusion, es gibt sie nicht, da kann man den Roman lesen, so oft man will. Präzise sind nur die örtlichen Details von Paris, wie immer bei diesem Autor. Der rätselhaften Aura von Louki entspricht das nicht näher zu verortende Unbehagen, das sich bei der Lektüre einstellt und den Leser bis zum Schluss nicht mehr verlässt. Melancholie ist die vorherrschende Stimmung, die über der meisterhaft erzählten Geschichte liegt, eine seltsame, mutlos machende Leere, wie sie auch für die Lost Generation im Paris nach dem ersten Weltkrieg typisch war.

Es ist eine Nebentür, im Roman Schattentür genannt, durch die Louki das Café Condé immer betritt, um sich möglichst abseits von den anderen Gästen einen Platz zu suchen, auf dem sie dann im Hintergrund traumverloren dasitzt. Ganz ähnlich mutet Modianos nostalgische Spurensuche an nach einer Boheme, die es längst nicht mehr gibt und die es so auch nie mehr geben wird. Es ist vor allem seine hervorragend eingefangene, wie schwebend wirkende Atmosphäre, die diesen poetischen Roman auszeichnet.

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