Benutzer
Benutzername: 
Bories vom Berg
Wohnort: 
München
Über mich: 
Sämtliche von mir geschriebenen Rezensionen sind hier auf Buecher.de veröffentlicht und alle über diese Profilseite abrufbar. Meine eigene Website bietet zusätzlich Auswahlen nach Sterne-Bewertung, listet meine Rezensionen aller wichtigen Buchpreise übersichtlich auf und enthält ergänzend im Anhang viele Informationen rund ums Buch, besuchen Sie mich! Meine Website: ortaia-forum.de

Bewertungen

Insgesamt 928 Bewertungen
Bewertung vom 16.07.2015
Walser, Martin

Ehen in Philippsburg


gut

So einen Freund wenn er hätte

Seinen Ruf als «Chronist des Mittelstandes» hat Martin Walser gleich mit seinem ersten Roman begründet, 1957 erschienen unter dem deskriptiven Titel «Ehen in Philippsburg», womit das literarische Terrain bereits deutlich abgesteckt ist. Mag die Ehe als Institution in unserer Zeit ihren Alleinvertretungsanspruch auch eingebüßt haben, wie Soziologen versichern und Statistiken belegen, so war sie in der Zeit des deutschen Wirtschaftswunders noch weitgehend «alternativlos», um ein Schlagwort von heute zu benutzen. In seinem Entwicklungsroman schildert der Autor in vier Kapiteln einen umgekehrt zum wirtschaftlichen Aufschwung verlaufenden Niedergang der Moral, das Zerbrechen von festgefügt scheinenden Bindungen.

Der aus der Provinz stammende Journalist Hans Beumann kommt in die Großstadt, um dort seine erste Anstellung zu finden. Dank seiner Studienkollegin Anne erhält er bei deren Vater, einem Fabrikanten von Rundfunk- und Fernsehgeräten, einen Job und findet dadurch schnell Aufnahme in die höheren Kreise der Stadt. Als Anne von ihm schwanger wird und abtreiben soll, wendet sie sich an den Gynäkologen Dr. Benrath, dem in diesem wie ein Reigen aufgebauten Plot das zweite Kapitel gewidmet ist, an dessen Ende der Selbstmord seiner Frau steht, die sein Verhältnis zur schönen Cecile nicht länger ertragen kann. Als der treulose Arzt seine Frau tot auffindet, schaltet er den Rechtsanwalt Dr. Alwin ein, ein Karrierist mit politischen Ambitionen und notorischer Schürzenjäger, der dann beim Flirten einen Autounfall verursacht, bei dem ein Motorradfahrer zu Tode kommt. Der Nachbar von Hans schließlich, der erfolglose Schriftsteller Klaff, von seiner Frau verlassen, begeht Selbstmord, als er auch noch seinen Job als Pförtner verliert, und hinterlässt Hans seine Manuskripte. Nach der Verlobung mit Anne wird Hans in einer grotesken Zeremonie zum «Ritter des Nachtclubs Sebastian» geschlagen, dem Treffpunkt der Prominenz, und landet später mit einer der Animierdamen im Bett, ein Fremdgänger schon vor der Ehe.

Alle diese lose miteinander verbundenen Figuren wirken irgendwie unsympathisch, besonders die Männer erscheinen in keinem guten Licht. Sie werden als rücksichtslose Erfolgsmenschen beschrieben, denen Emotionen weitgehend fehlen, die nur hinderlich scheinen auf ihrem Weg nach oben, zu Ruhm und Macht, zu Geld und Genuss. Walser stellt die Frauen als Accessoire dieser Mannsbilder dar, allenfalls schmückendes Beiwerk, ob als Ehefrau oder als Geliebte. Er beschreibt all dies aus typisch männlicher Sicht und benutzt über lange Passagen hinweg durchaus gekonnt den Bewusstseinsstrom als Stilmittel, - und überrascht dabei mit kuriosen Reflexionen. «Er war ein Ein-Mann-Theater», schreibt er zum Beispiel über die Gedankenwelt des selbstgefälligen Gynäkologen. Und über die Befindlichkeiten des Rechtsanwalts heißt es: «Bei jeder Frau, die er für sich gewann, fragte er nach seinen Vorgängern und ließ sich bestätigen, dass er sie alle bei weitem übertreffe». Hand aufs Herz, wem kommt das nicht bekannt vor?

Leider fällt der erzählerische Schwung nach den ersten beiden Kapiteln spürbar ab, die heraufbeschworenen Bilder erscheinen allmählich klischeehaft, und manche Formulierung fällt denn doch merkwürdig schwäbisch aus: «So einen Freund wenn er hätte!» Man zuckt auch zusammen, wenn man diesen Satz liest: «Alle gegen alle, sagte er, das ist Freiheit». Satirisch überzeichnet hat Martin Walser hier den Ehebruch als fast zwangsläufig und naturgegeben dargestellt, allerdings nur als männliches Fehlverhalten, die Ehefrauen des Romans scheinen allesamt dagegen gefeit zu sein, sie gehen ganz einfach nicht fremd. Wunschdenken eines machohaften Autors? Auch wenn sich in der Sache noch manches andere einwenden ließe, eine vergnügliche Lektüre ist der ironisch erzählte Roman allemal, den drei Todesfällen als überstrapaziertes dramaturgisches Mittel zum Trotz, vielleicht aber auch gerade durch solcherart Übertreibungen.

Bewertung vom 10.07.2015
Eco, Umberto

Der Name der Rose


gut

Viel Mönchslatein

Der emeritierte Professor Umberto Eco, der unter den Intellektuellen der Welt laut einer Umfrage einen der Spitzenplätze einnimmt, genießt als Semiotiker hohes Ansehen, der Italiener ist aber auch politisch stark engagiert und wurde 1980 mit seinem ersten und natürlich auch verfilmten Roman «Der Name der Rose» schlagartig einem breiten Publikum bekannt. Seine wissenschaftliche Laufbahn hatte er mit einer Dissertation über die Ästhetik bei Thomas von Aquin begonnen, eine Thematik, auf die er in dem berühmten Roman zurückgreift mit seiner spannenden Geschichte. Als Krimi im mittelalterlichen Kloster könnte man das dicke Buch plakativ bezeichnen, wären da nicht Hunderte von Seiten gefüllt mit theologischen Streitgesprächen und philosophischen Betrachtungen, mit religiösen Zeremonien und Exerzitien sowie politischen Ränkespielen in einer finsteren Zeit. Ohne den Aspekt des Krimis würde das Buch also sicherlich deutlich weniger Leser finden, es wäre mehr ein populäres Sachbuch über das Klosterleben jener Epoche, zur Blütezeit der Bettelmönche, - für wissbegierige Leute mit Latinum.

In einem Prolog erzählt Umberto Eco, wie er durch Zufall zu dem Stoff für seinen Roman kam, und schon dieses Vorwort ist ähnlich rätselhaft wie die Geschichte, auf die es hinweist. Die Ereignisse, über die aus der Perspektive des Adson von Melk berichtet wird, einem jugendlichen Novizen des Benediktinerordens, ereignen sich während sieben Tagen Ende November 1327, entsprechend sind auch die Kapitel benannt, die wiederum in acht Abschnitte gegliedert sind - Mette, Laudes, Prima, Tertia, Sexta, Nona, Vesper, Komplet - die den liturgischen Stunden entsprechen. William von Baskerville erhält den Auftrag, ein Treffen seines Ordens mit dem Papst in Avignon vorzubereiten, dem die Position der Franziskaner zur Armut Christi ein Dorn im Auge ist. Man trifft sich in einem italienischen Kloster, das für seine einzigartige Bibliothek weltberühmt ist. Gleich nach der Ankunft Williams mit seinem Adlatus Adson ereignet sich ein mysteriöser Todesfall. Besorgt bittet der Abt den ehemaligen Inquisitor, der für seinen scharfen Verstand bekannt ist, um rasche Aufklärung, bevor die päpstliche Delegation eintrifft. Gleichwohl geschehen noch mehrere Morde, die scheinbar alle einen Bezug zu der geheimnisvollen Bibliothek haben, die nur der Bibliothekar persönlich betreten darf und niemand sonst, nicht mal der Abt.

Sherlock Holmes und Dr. Watson standen Pate für Ecos Protagonisten, die im Stile des berühmten Detektivs durch deduktive Methoden den immer komplizierter werdenden Fall zu lösen versuchen. Es versteht sich, dass der Spannung wegen mehr hier nicht gesagt werden darf, die Auflösung findet sich genretypisch in einem ebenso überraschenden wie grandiosen Showdown. Umrahmt sind die beiden Helden von einer Fülle von Figuren des Klosters, von denen dreiundzwanzig vorab unter Dramatis Personae aufgelistet werden, was die Orientierung sehr erleichtert. Darüber hinaus aber werden in den Gesprächen und Disputen unzählige Namen genannt, die den Normalleser ohne Theologie- und Geschichtsstudium weit überfordern dürften. Gleiches gilt für ebenfalls unzählige lateinische Begriffe, Redewendungen und Zitate, von denen leider nur einige wichtige Passagen im Anhang übersetzt werden, was natürlich dem Lesefluss nicht gerade zuträglich ist.

Die ungeheure gedankliche Fülle ist zweifellos sehr bereichernd, und auch wenn Vieles davon nur Fachleuten immer und vollinhaltlich verständlich sein dürfte, kann und muss man nicht jeden Begriff nachschlagen. Denn der Lesespaß stellt sich gerade auch durch ironische Übertreibungen ein, die immer wieder zum Schmunzeln Anlass geben, Gleiches gilt für die lachhaft naive Frömmigkeit jener Zeit. Und über das Thema Buch vor Gutenbergs Erfindung wird man hier sehr anschaulich informiert, man ist ehrfürchtiger Gast im Skriptorium der Abtei. Es gibt also einige gute Gründe, diesen Roman zu lesen.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.07.2015
Mulisch, Harry

Das Attentat


gut

Parabel vom Tyrannenmord

Es war ein Spielfilm, der mir den Schriftsteller Harry Mulisch nahegebracht hat und den ich damals so gut fand, dass ich den zugrunde liegenden, gleichnamigen Roman später dann auch noch gelesen habe, «Die Entdeckung des Himmels». Dieser Roman und der vorliegende, zehn Jahre früher 1982 erschienene mit dem Titel «Das Attentat», fanden im umfangreichen Werk dieses hochangesehenen holländischen Autors am meisten Beachtung. Was genau den Charme seiner Erzählungen ausmacht, wurde mir in «Siegfried» am deutlichsten, dem Roman über den Sohn Adolf Hitlers. Es sind seine genial konstruierten, phantasievollen Plots, kühn und kreativ erdacht und ohne schmückendes Beiwerk zielgerichtet erzählt. Ein erzählerisch logischer Ablauf, der frei bleibt von Ungereimtheiten und gleichermaßen faszinierend, unterhaltend und zuweilen sogar noch bereichernd wirkt. Derart unterschiedliche Sujets findet man eher selten bei zeitgenössischen Romanciers, die doch oft ein ganz spezifisches Herzensthema haben und es mehr oder weniger gekonnt variieren.

Während in den genannten anderen beiden Romanen religiös mystische und politisch historische Fiktionen thematisiert werden, handelt «Das Attentat» eher realitätsnah von den Hintergründen und Auswirkungen des Tyrannenmordes. Hier am Beispiel eines gegen Ende des Zweiten Weltkrieges im Januar 1945 in den besetzten Niederlanden durch Widerstandskämpfer erschossenen holländischen Polizisten, einer Tat, die vielfältige Folgen hat. In fünf mit Jahreszahlen versehenen Episoden von 1945 bis zur Gegenwart 1981 (der Roman wurde im ersten Halbjahr 1982 geschrieben) und mit einem Prolog über den Tatort schildert der auktoriale Erzähler das Attentat auf den verhassten Kollaborateur aus der Perspektive von Anton, einem zwölfjährigen Jungen. Die Handlung ist ebenso spannend wie komplex, sie hier detailliert zu erzählen würde den Spaß am Lesen deutlich mindern, denn sie ist literarisch das alles dominierende Kernelement des Romans, ich beschränke mich deshalb auf einige Eckpunkte.

Die Vergeltungsaktion der Nazis ist dramatisch und macht Anton zum Waisen. Er kommt bei Verwandten unter und wird Anästhesist. Obwohl er glaubt, das traumatische Geschehen vergessen zu können, die Schrecken seiner Jugend überwunden zu haben, holt ihn die Vergangenheit immer wieder ein. Ungewollt führen Ereignisse und zufällige Begegnungen für ihn zu neuen, weiteren Erkenntnissen, die sich puzzleartig ergänzen und den Widerstrebenden dann doch zur Auseinandersetzung zwingen, auch wenn dies bei ihm sogar psychosomatische Wirkungen hervorruft. Mulisch verarbeitet geschickt die Themen Schuld, Rache, Verantwortung, Moral, indem er These und Antithese gegenüberstellt, speziell die Wechselwirkungen zwischen Täter und Opfer beleuchtet, und indem er Gewalt und Gegengewalt zu begründen sucht in einem komplizierten Prozess der Vergangenheitsbewältigung, dessen Argumentationen durchweg plausibel erscheinen.

Erzählt wird diese Geschichte in einer klaren, leicht lesbaren Sprache, wobei der überkonstruiert wirkende Plot mit seinem Zuviel an Zufällen zum großen Teil mit realistischen, ungekünstelten Dialogen vorangetrieben wird. Die Figuren, allen voran der Protagonist Anton, erscheinen merkwürdig blutleer, und ganz ähnlich verhält es sich auch in ihren Beziehungen zueinander. Liebe und Freundschaft werden kaum überzeugend dargestellt, Persönliches bleibt weitgehend ausgeblendet, den Ehefrauen und Kindern des Helden sind bemerkenswerter Weise nur ein paar spärliche Zeilen gewidmet, emotionale Nähe fehlt weitgehend. So was wie Empathie kommt da nicht wirklich auf beim Lesen. Handlungsorientierte Leser jedoch dürften jubeln über eine spannende Story zu einem wichtigen Thema, die zum Nachdenken zwingt über eine nicht allzu ferne Vergangenheit. Die wird hier zwar literarisch nüchtern, aber recht intelligent in einer Parabel aufgearbeitet, die für ein uraltes philosophisches Schlüsselproblem steht, das des Tyrannenmordes.

Bewertung vom 25.06.2015
Szerb, Antal

Reise im Mondlicht


sehr gut

Was noch geschehen kann

Er wolle nicht als Literaturhistoriker gesehen werden, sondern als Schriftsteller, «dessen Thema vorübergehend die Literaturgeschichte war», notierte Antal Szerb in sein Tagebuch; bis heute ist er einer der meistgelesenen ungarischen Autoren des 20ten Jahrhunderts. Sein belletristisches Œuvre ist überschaubar klein und wurde erst spät auch in Deutschland entdeckt, als sein bedeutendstes episches Werk gilt der vorliegende, 1937 in Ungarn veröffentlichte Roman, der erst 40 Jahre später auf Deutsch herausgegeben wurde, in Neuübersetzung dann 2005 unter dem Titel «Reise im Mondlicht». «Szerb nicht gekannt zu haben ist ein Versäumnis» hieß es in der Süddeutschen Zeitung. Nach der Lektüre kann ich dem nur beipflichten, soviel vorab.

Mich an den Spielfilm «Brot und Tulpen» erinnernd geht auch hier auf einer Reise durch Italien die Frau verloren, nur ist es diesmal eine Hochzeitsreise. Der 36-jährige Mihály erzählt während der Fahrt seiner frisch angetrauten Erzsi von der Jugendzeit, von den Rollenspielen mit den Geschwistern Támas und Éva im Hause der Familie Ulpius, die ausnahmslos vom Tod handelten in immer neuen Varianten. Auf der Fahrt nach Rom steigt er nach einer Kaffeepause in den falschen Zug und landet allein in Ravenna. Schon in Venedig hatte er gemerkt, dass Erzsi seine große Begeisterung für die antiken Kulturen nicht teilen konnte, und so besichtigt er jetzt die berühmten Mosaiken in Ravenna allein. Er beschließt sogar kurzerhand, auch alleine weiter zu reisen, seine Sehnsucht nach Italien voll auszuleben, den bürgerlichen Konventionen und Zwängen vollends zu entfliehen, sein früheres Bohemeleben wieder aufzunehmen. So kommt er also nicht nur seiner Frau abhanden, sondern auch sich selbst, auf der Suche nach seiner wahren Identität einer rebellischen Jugendzeit nachtrauernd, die der angepasst lebende Unternehmersohn nach der Heirat nun endgültig entschwinden sieht.

In seiner Weltfremdheit zwischen Traum und Realität herumirrend, diffus einer «Reise im Mondlicht» gleichend, holen ihn seine Jugendträume immer wieder ein. Während seine Frau Erzsi die Realität verkörpert, steht sein bester Freund Támas für alle Utopien, seine Gedanken kreisen häufig um dessen Freitod. Er besucht seinen ins Kloster gegangenen Jugendfreund Ervin, trifft schließlich in Rom Éva wieder, seine Jugendliebe, die auch jetzt unerreichbar bleibt. Szerb baut um seine Protagonisten eine Reihe von wunderbaren Randfiguren auf, liebevoll gezeichnet und stimmig in die Handlung integriert. Es sind allesamt markante Typen wie der «Taschendieb» und Luftikus János Szepetneki, der als «brennender Tiger» erscheinende persische Potentat, der überaus verständnisvolle englische Arzt, die naive amerikanische Studentin, der exzentrische Religionswissenschaftler, schließlich Vannina, das magere römische Mädchen, die hellseherische Fähigkeiten zu haben scheint und ihn am Ende als Kindspate in die Realität zurückholt im Verlaufe einer typisch italienischen Familienfeier. Die wahrhaft klassisch zu nennende Katharsis endet mit den Worten: «Und solange man lebt, weiß man nicht, was noch geschehen kann».

Antal Szerb erzählt seine sentimentale Geschichte über die Zwänge des Lebens, über Liebe und Tod in einer klaren, unverschnörkelten Sprache, die so perfekt gegliedert ist, dass Kapitel und Abschnitte in fast schon mathematischer Logik stets punktgenau aufeinanderfolgen. Einen derart perfekt aufgebauten Plot erlebt man nicht so oft als Leser, man merkt ihm an, dass da ein Wissenschaftler am Werke war. Es ist eine Menge Lebensweisheit drin enthalten, viel Alltagsphilosophie bei einer sehr realitätsnahen Suche nach dem Sinn des Lebens, die sich oft in überaus stimmigen Dialogen artikuliert. Eine besinnliche Lektüre mithin, die viele Leser nicht unberührt lassen dürfte, was übrigens auch für die mitreißende Beschreibung von Bella Italia gilt, die mich in ihrer ehrfürchtigen Bewunderung unwillkürlich an Goethe erinnert hat.

Bewertung vom 20.06.2015
Levi, Primo

Das periodische System


weniger gut

Belletristik vs. Populärwissenschaft

Chemie war im Gymnasium, lang ist’s her, eines der unerfreulichsten Fächer für mich, und so habe ich «Das periodische System» von Primo Levi denn auch einigermaßen skeptisch zur Hand genommen. Zum Teil mag es an meiner inzwischen gewachsenen Aufnahmebereitschaft liegen, ohne Zweifel jedoch ist es dem italienischen Chemiker und Schriftsteller vor allem gelungen, mit seinem diesbezüglichen Erzähltalent mein Interesse für den einst verschmähten Unterrichtsstoff zu wecken, mir die damals vergällte Lehre von den Stoffen - mangels Fachkenntnissen natürlich nur rudimentär - verständlich und damit auch einigermaßen zugänglich zu machen. Denn in den 21 Kapiteln seines autobiografischen Buches, deren jedes nach einem chemischen Element benannt ist, finden sich wahrhaft spannende Geschichten, - insoweit sollte das Buch Pflichtlektüre sein für Chemielehrer, deren Schüler einzuschlafen drohen.

Es sind nicht nur spannende Geschichten, die der jüdische Autor und Auschwitz-Überlebende zu erzählen weiß, es sind auch sehr bewegende Episoden aus seinem Leben, chronologisch lose aneinandergereiht, meist ohne direkten Zusammenhang. Beginnend mit einem Rückblick auf seine Vorfahren, dem er das träge Gas «Argon» als Kapitelüberschrift vorangestellt hat. «Das Wenige, was ich von meinen Vorfahren weiß, lässt sie diesen Gasen ähnlich erscheinen» schreibt er im ersten Kapitel, bei dem die Überlieferung innerhalb der Familie oder die Fantasie des Autors, vermutlich jedoch beides zusammen, in Anekdoten verpackt wahrhaft skurrile Ahnen aufzeigt, die eher Karikaturen sind als reale Figuren. Schon im zweiten Kapitel «Wasserstoff» geht es dann aber um Chemie, ein missglückter Laborversuch bei seinem Schulfreund, der mit einem Knall endete und bei dem Wasserstoff eine Rolle spielte, wie Levi richtig vorausgesagt hatte. Im Laufe seines Lebens als Chemiker wird er immer wieder mit Phänomenen konfrontiert, für die es zunächst keine logische Erklärung gibt, oder mit Problemen in der Produktion, die schwer in den Griff zu bekommen sind. Es ist tatsächlich auch für Laien interessant, wenn der Autor beschreibt, wie er sich dem Thema genähert, welche Erklärungen, welche Lösungen sich ergeben haben. Das erinnert sehr stark an kriminaltechnische Untersuchungen, man verfolgt viele Spuren, die alle nichts ergeben, bis dann endlich die richtige Fährte gefunden ist, die zum Erfolg führt.

Sicherlich das am meisten berührende Kapitel unter der Überschrift «Cer» handelt von seiner Zeit in Auschwitz, wo er als Häftling für die IG-Farben in einem Labor beschäftigt war. Unter Lebensgefahr hat er sich dort mit einem Freund zusammen durch Diebstahl von Cereisen und Umarbeitung zu runden Feuersteinen, wie sie für Feuerzeuge gebraucht werden, ein für ihr Überleben wichtiges Tauschgut geschaffen, mit dem sie genug Brot eintauschen konnten, bis schließlich die Rote Armee im Januar 1945 das KZ befreit hat. In einem ebenfalls beklemmenden Kapitel schildert er seinen geschäftlichen Kontakt zu einem ehemaligen Angestellten der IG-Farben, der ihn damals in Auschwitz fachlich überwacht hatte und nun, allerdings vergeblich, mit dem schweren Erbe seiner Vergangenheit umzugehen versucht.

Levi schreibt so begeistert von seinem Beruf, «der eigentlich ein Sonderfall, eine besonders wagemutige Form von Lebenskunst sei», dass auch der Leser unwillkürlich mitgerissen wird. Weniger beeindruckend ist allerdings die sprachliche Umsetzung seiner Geschichten, sein Schreibstil ist sachlich und schlicht, die Handlung geradlinig simpel, seine blutleeren Figuren bleiben unkonturiert, sie vermögen kaum Empathie zu wecken, und alles Private ist weitgehend ausgeblendet. Zwei deutlich früher entstandene, nicht autobiografische Kapitel hätte der Autor besser ganz weggelassen, sie wirken literarisch fast peinlich. Populärwissenschaft also, oder doch Belletristik? Ich bin mir da nicht so ganz sicher bei diesem zwiespältigen Buch!

Bewertung vom 16.06.2015
Nooteboom, Cees

Allerseelen


gut

Ein sinnierender Flaneur

Der Prophet gilt wenig im eigenen Land, dem Schriftsteller geht es zuweilen ebenso. Cees Nooteboom ist so einer, auf den dies zutrifft, die Rezeption seines erzählerischen Werkes ist in Deutschland intensiver als in seiner holländischen Heimat. Neben dem Feuilleton ist dies vermutlich dem Engagement Siegfried Unselds für seinen Autor zu danken, «Allerseelen» hatte den berühmten Verleger, wie er schrieb, beim Lesen an die großen Flaneure des zwanzigsten Jahrhunderts erinnert. Der Handlungsort Berlin kurz nach der Wiedervereinigung erklärt zudem die besondere Beachtung dieses 1999 veröffentlichten Romans in Deutschland, er gilt als der beste Berlin-Roman der jüngeren Zeit.

Arthur Daane, unverkennbar das Alter Ego des Autors, ist geradezu der Prototyp eines Flaneurs, ein 44jähriger niederländischer Filmemacher, der vor zehn Jahren bei einem Flugzeugunglück Frau und Kind verloren hat und inzwischen zum Einzelgänger geworden ist. Sein Beruf zwingt ihm eine unstetige Lebensweise auf, er ist viel auf Reisen und nirgendwo richtig zu Hause, es zieht ihn aber immer wieder nach Berlin, wo er gute Freunde hat. Da ist der deutsche Philosoph Arno Tieck, eine Romanfigur, die an Rüdiger Safranski erinnert, mit dem der Autor befreundet ist, ferner der holländische Bildhauer Victor und die russische Physikerin und Galeristin Zenobia, ein debattierfreudiges Dreigestirn, das sich regelmäßig in einem Pfälzer Weinlokal trifft. Seine älteste Freundin, die in Amsterdam lebende Erna, mit der er fast täglich telefoniert, stellt mit ihrer lebensklugen Art einen Anker für ihn dar, sie erdet ihn regelmäßig, wenn er mal wieder in höheren Sphären schwebt. Denn Arthur, der durch Berlin streift in den Wartezeiten zwischen seinen Filmprojekten, der nicht jeden Auftrag annimmt und nur soviel arbeitet, wie unbedingt sein muss, der Galerien, Ausstellungen, Museen, Bibliotheken besucht, regelmäßig in bestimmten Cafés und Restaurants anzutreffen ist, er betätigt sich auf seinen Streifzügen nicht nur physisch als Flaneur, er ist es auch psychisch. Permanent auf der Suche, ohne genau definieren zu können, was er denn sucht, hat er seine Kamera meistens dabei und filmt für seine private «Sammlung» speziell das, was kommerziell nicht verwertbar ist, unbedeutende Details und Fragmente zumeist, die er irgendwann zu einem großen Ganzen fügen will.

In einem Café trifft er auf eine junge Frau, die extrem verschlossen ist und seltsam abweisend bleibt auch dann, als sie sich näher kommen. Sie arbeitet verbissen an einer Dissertation über eine nahezu vergessene spanische Königin, diskutiert lebhaft mit seinen Freunden, verschwindet aber immer wieder ganz abrupt und ohne Abschied. Als Arthur nach einem mehrwöchigen Filmauftrag aus Japan zurückkommt, ist sie wieder verschwunden, mühsam spürt er sie im Nationalarchiv in Madrid auf. Sie sei schwanger geworden, habe abtreiben lassen, - beide trennen sich im Streit. Als Arthur nach einem Raubüberfall aus dem Krankenhaus entlassen wird und erfährt, sie sei nach Santiago abgereist, widersteht er dem Impuls, ihr nachzureisen.

Der Roman hat abgesehen von der kurzen eingelagerten Beziehungsgeschichte kaum Handlung, er stellt eine Kollage von Episoden, Reflexionen, Theorien über Geschichte, Nationen, Politik, städtische Kultur und vor allem über Kunst dar, von einem auktorialen Erzähler aus Arthurs Perspektive erzählt und von einem der Antike nachempfundenen «Chor» in kurzen Intermezzi kommentiert. Es ist der Kampf gegen das Vergessen, an «Allerseelen» als Gedenken an die Toten zelebriert, der Arthur umtreibt, ihn ausufernde philosophische Diskussionen führen lässt, der Chor aber resümiert am Ende: «Und wir? Ach wir …» Mit seiner Themenfülle und den vielen Bezügen und Querverweisen ist dieser ebenso kopflastige wie blutleere Roman eine Fundgrube für den philosophisch interessierten Leser, permanent zu einem Weiterdenken anregend, welches man kaum als kontemplativ bezeichnen kann.

Bewertung vom 01.06.2015
Conrad, Joseph

Herz der Finsternis


gut

Der weiße Fleck

Im Werk des in englischer Sprache schreibenden Schriftstellers polnischer Herkunft nimmt die 1899 erstmals erschienene Novelle «Herz der Finsternis» eine Schlüsselrolle ein, sie wird als wichtigste und wirkmächtigste der Erzählungen von Joseph Conrad angesehen. Durch eigene Erlebnisse angeregt beschreibt der Autor eine Flussfahrt ins Innere Afrikas, wobei Fluss und Land unschwer als Kongo erkennbar sind, auch wenn sie im Text unbenannt bleiben. Auf einer Segelyacht warten der Ich-Erzähler und vier weitere Männer in der Themsemündung bei Flut und Windstille auf den Gezeitenwechsel, um flussabwärts zu fahren. In der einsetzenden Dämmerung unterbricht plötzlich der einzige Seemann an Bord die eingetretene Stille: «Und auch dies, sagte Marlow unvermittelt, ist einer der dunklen Plätze der Erde gewesen». Er beginnt von den Römern zu erzählen, die von dieser Stelle aus einst themseaufwärts fuhren, um Britannien zu erobern und auszubeuten.

Mit «seiner Neigung, ein Garn zu spinnen», erzählt der auf allen Weltmeeren herumgekommene, eher biedere Seemann von seiner Sehnsucht nach den weißen Flecken auf der Landkarte, die immer weniger würden, und den größten von allen entdeckt er auf dem afrikanischen Kontinent. Er übernimmt als Kapitän den maroden Flussdampfer einer Elfenbein-Handelsgesellschaft und fährt mit ihm ins «Herz der Finsternis». Gemeint ist damit ein weitgehend gesetzloses, menschenverachtendes Kolonialsystem, das in unersättlicher Gier so viel wie möglich aus dem Land herauszuholen sucht und dabei die Eingeborenen wie Vieh behandelt. Conrads Erzählung geißelt scharf den Rassismus der europäischen Eroberer, der so weit geht, dass nicht wenige von ihnen sogar die These vertreten, die Schwarzen gehörten biologisch nicht der gleichen Spezies an wie die Weißen. Letztere allerdings werden ihrerseits von Marlow als völlig unfähig geschildert, er findet ein heilloses Chaos vor in den Handelsstationen, wo nichts richtig funktioniert, alles irgendwie unsinnig erscheint.

Immer wieder hört er auf seiner Reise 800 Meilen flussaufwärts zu der am weitesten entfernten Station von deren besonders erfolgreichem, fast mythisch verehrten Leiter namens Kurtz, der allein mehr Elfenbein liefere als alle anderen Stationen zusammen. Dieser Erfolg jedoch, das wird Marlow immer deutlicher, ist einzig den perfiden, skrupellosen Methoden des charismatischen Mr. Kurtz zuzuschreiben, dessen habgierige Machenschaften ihn zunehmend abstoßen, je mehr er von ihm erfährt und je mehr er sich seiner Station nähert. Er findet ihn schließlich todkrank vor, nimmt ihn und eine Riesenladung Elfenbein an Bord, - Kurtz jedoch stirbt auf der Rückreise, als letzte Worte haucht er: «Das Grauen! Das Grauen!»

Man muss bei der Würdigung von Joseph Conrads Novelle natürlich berücksichtigen, dass sie zur Blütezeit des Kolonialismus erschien, seine abschreckende Schilderung des Rassenwahns und der ethnischen Säuberungen wurde sicherlich nicht überall erfreut aufgenommen. Gleichwohl ist sie besser geeignet als manche andere Quelle, die Hintergründe der Massaker zu erhellen, die Soziologin Hannah Arendt beispielsweise hat das Buch als Referenz für ihre Darstellung des Rassismus benutzt. Was den puren literarischen Wert anbelangt, und nur das ist hier mein Thema, kann ich den Jubel über diese Novelle nicht nachvollziehen. Das «Grauen», die Finsternis aus dem Titel, bleibt unkonkret, der Bösewicht ist völlig konturlos, die Geschichte ist weder besonders originell noch ist sie sprachlich überragend erzählt, woran, wie verlautet, die «unfähigen Übersetzer» Schuld seien. Mir hingegen scheint die Stärke dieser Prosa vornehmlich in ihrer Thematik zu liegen, die in Joseph Conrads Erkenntnis gründet: «Der Mensch ist ein bösartiges Tier». Warum dies so ist, hat schon Siegmund Freud umgetrieben, die Finsternis hier ist gleichzusetzen mit dem Unbewussten, diesem rätselhaften weißen Fleck auf der Landkarte unserer Seele.

Bewertung vom 29.05.2015
Simon, Claude

Die Akazie


sehr gut

Vom innersten Menschsein

«Romane, die das Schaffen eines Dichters und Malers mit tiefem Zeitbewusstsein in der Schilderung menschlicher Grundbedingungen vereinen» nannte, begründete (wie sie das laut Satzung zu tun, bekannt zu geben verpflichtet ist) die Schwedische Akademie ihre (für die Fachwelt 1985 ziemlich überraschende) Vergabe (Verleihung) des Nobelpreises für Literatur an den französischen Romancier Claude Simon (dessen Werk sich vornehmlich mit den Themen Geschichte und Krieg befasst (Letzteres aus eigenen Erfahrungen, die der Familie (speziell des Vaters) eingeschlossen): seine Themen würden in der Familiengeschichte wurzeln, hat er dazu angemerkt), jenem dem Nouveau Roman (so die Literaturwissenschaft) zuzurechnenden Autor, der hier nun, in dem Roman «Die Akazie», einem Titel, dessen Bedeutung (die mit der erzählten Geschichte nichts, rein gar nichts verbindet, die allenfalls (oder bestimmt) als Katharsis verstanden werden kann, darf) sich erst auf der letzten Seite erschließt, Simon also, der hier eine Art Totenklage, besser ein Lamento über den Krieg anstimmt, zieht dafür alle Register seiner Erzählkunst, wofür typisch eben jene mehrfach verschachtelten (mit zusätzlichen mehrfachen Klammern: an komplizierte mathematische Formeln erinnernd), immer wieder unterbrochenen Endlossätze sind, die der Rezensent hiermit frech (und unzureichend: zugegeben!) nachzuahmen versucht, um den potentiellen Leser nicht etwa abzuschrecken, zu warnen, sondern ihn lediglich (am Beispiel verdeutlicht) vorzubereiten (denn dafür liest man ja Buchbesprechungen, Kritiken) auf das, was auf ihn zukommt: solche sprachlichen Eigenarten nämlich, die durch das stilistische Können (des Autors), die feine Beobachtungsgabe (wie sie Malern nun mal eigen ist), das (sein) Gespür für die Dramatik von extremen Situationen wie dem Krieg, doch mehr als ausgeglichen werden (sofern man in solchen Kategorien überhaupt argumentieren kann: es geht ja um Kunst!), wodurch das Lesen immerhin bereichernd wird (auch mehr?), ein gewisses Durchhaltevermögen vorausgesetzt.

Zwei namenlose Figuren stehen im Mittelpunkt, Vater und Sohn, und dem entsprechen auch zwei Erzählzeiten, die ersten Monate der beiden großen Kriege des 20ten Jahrhunderts. Während der Vater als Kavallerist gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 fällt, überlebt der Sohn 1940, ebenfalls in der Kavallerie, die verheerende Niederlage der französischen Armee, kommt in Gefangenschaft, kann aber fliehen und sich nach Hause, in den unbesetzten Teil Frankreichs durchschlagen. In zwölf jeweils mit Jahreszahlen überschriebenen Kapiteln wird wechselweise die Lebensgeschichte beider Männer erzählt, wobei ihre Erlebnisse im Krieg durch viele ausgedehnte Rückblenden ergänzt werden, die tief in die eigene und in die Familiengeschichte zurückreichen.

Simon versucht nicht weniger als das Grauen des Krieges, die Ohnmacht des Menschen als Objekt historischer Ereignisse, das Unsagbare mittels Worten zum Existierenden werden zu lassen, wobei der Plot nebensächlich wird, zurücktritt hinter die im Blickpunkt stehende Intention. In unglaublicher Gedankenfülle werden Gefühle, Absichten, Empfindungen, Befürchtungen, Ängste sprachlich detailreich beschrieben, werden Geschehnisse, Situationen, Handlungsorte, Landschaften bildhaft dargestellt, immer wieder durch Zeitsprünge unterbrochen und ohne in eine stringente Handlung eingebunden zu sein. Die Orientierung wird ein wenig erleichtert mit gelegentlich eingestreuten Rückgriffen auf bereits Erzähltes.

Ein schwer zu lesender Text ohne Zweifel, vom Duktus her das Unfassbare unterstreichend, über das da äußerst facettenreich berichtet wird. Wer die Konzentration aufbringt, sich einzulesen in diesen tiefgründigen Antikriegsroman, der wird das Menschsein aus einer Perspektive erleben, die kaum jemand literarisch so intensiv aufgearbeitet hat wie Claude Simon, der uns hier auch beklemmende menschliche Urinstinkte vorführt.

Bewertung vom 19.05.2015
Yourcenar, Marguerite

Der Fangschuß


ausgezeichnet

Tiefenwirkung

Die unter Pseudonym schreibende Autorin mit belgisch-französischen Wurzeln hat ihren 1939 erschienenen kurzen Roman «Der Fangschuss» in Sorrent verfasst, fernab vom Handlungsort ihrer Geschichte im Baltikum. Marguerite Yourcenar stellt ihren Ich-Erzähler, der morgens um fünf am Bahnhof von Pisa auf seinen Zug nach Deutschland wartet, auf den ersten eineinhalb Seiten kurz vor. «Es war die Dämmerstunde», schreibt sie, «in der schöne Seelen zu Bekenntnissen und Verbrecher zu Geständnissen neigen und in der selbst schweigsame Menschen gern Geschichten erzählen oder Erinnerungen auskramen, um nicht einzuschlafen».

Und nun erzählt Erich von Lhomond, ein vierzigjähriger ehemaliger preußischer Offizier, der in den Wirren nach dem Ersten Weltkrieg ein Jahrzehnt als Kommandeur an verschiedenen Fronten gekämpft hat, seinen beiden Kameraden eine Episode aus dem Bürgerkrieg gegen die Bolschewiken in Estland und Kurland, wo er ein Freikorps befehligt hat. Man ist als Leser sofort mitgerissen durch seinen, entfernt an Fontane erinnernden, ebenso angenehmen wie kurzweiligen Plauderton, den man förmlich hört, nicht liest. Marodierende Banden aus aufgelösten Truppenteilen sorgen für chaotische Zustände, der Tod ist allgegenwärtig. In diesem Schlamassel nimmt Erich mit seinen Männern Quartier im zerschossenen Schloss seines besten Freundes und Kampfgefährten Konrad von Reval und trifft dort auf dessen Schwester Sophie. «Auch in der Liebe bin ich, nebenbei bemerkt, fürs klassisch Einfache», sind seine Worte, und in der Tat erweist er sich im Verlauf der Geschichte als nahezu emotionsloser, kühl denkender Mensch, dem Frauen prinzipiell suspekt sind. Die burschikose zwanzigjährige Sophie aber, die nichts von jungen Männern hält, hat sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Erich erfährt, dass sie Opfer einer Vergewaltigung war, spricht aber nie mit ihr darüber. Als sie ihm schon bald offen ihre Liebe erklärt und sich ihm unverblümt anbietet, ist er zwar in seiner Eitelkeit geschmeichelt, hält sie jedoch auf Abstand, lässt außer inniger Freundschaft keine intime Nähe entstehen - und stürzt sie damit in tiefste Seelenpein.

Sophie reagiert schließlich verzweifelt, sucht Abenteuer mit anderen Männern, nur um ihn eifersüchtig zu machen, seine Liebe zu erzwingen. Erichs bisexuelle Orientierung wird an lediglich einer Stelle nur sehr vage angedeutet. Eines Tages verschwindet sie überraschend ohne Abschied aus dem Schloss. Ihre Spur verliert sich schnell, einiges deutet jedoch darauf hin, dass sie sich den Bolschewiken angeschlossen hat. Nach einigen Monaten stehen beide sich ganz unerwartet plötzlich gegenüber. Der Showdown, und hier speziell die letzte Seite des Romans - ein wahrlich wirkungsstarker dramaturgischer Ablauf, erhebt in seiner aufwühlenden Tragik die ganze, überaus fesselnde Geschichte in die Problemsphären eines antiken Dramas, mehr will ich aber nicht verraten. Mich hat diese letzte Szene jedenfalls, obwohl ich nicht gerade zart besaitet bin, nicht nur zutiefst erschüttert, sie hat bei mir sogar körperliche Symptome ausgelöst, ist mir auf den Magen geschlagen, so ungeheuerlich fand ich das Geschehen. So was hat noch kein anderes Buch je geschafft.

«Das Geschehnis hat mich bewegt, und ich hoffe, dass es auch den Leser bewegt», schreibt Yourcenar im Nachwort, eine in Romanen ja recht selten anzutreffende Ergänzung des fiktionalen Textes, die sich hier als äußerst wertvoll erweist. Denn eine derart berührende Geschichte wirkt nach, wirft Fragen auf, und was könnte da hilfreicher sein als entsprechende Hinweise der Verfasserin? Ihre Geschichte beruhe auf einer wahren Begebenheit, erfahren wir, und auch ihre drei Hauptfiguren entsprächen im Wesentlichen der realen Vorlage. Deren Psychogramme sind fein durchdacht und wirken stimmig, überhaupt beweisen Handlung wie auch sprachliche Umsetzung der komplexen Geschichte große literarische Könnerschaft, die das Lesen zum Hochgenuss werden lässt.