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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 928 Bewertungen
Bewertung vom 24.08.2015
Szczypiorski, Andrzej

Die schöne Frau Seidenman


ausgezeichnet

Noch ist Polen nicht verloren

In der ehemaligen Dienstvilla des Kommandanten von Sachsenhausen befindet sich heute das «Haus Szczypiorski», eine Jugendbegegnungsstätte, die der polnisch/deutschen Aussöhnung dient. Damit wurde ein politisch engagierter, polnischer Schriftsteller geehrt, der als Jude am Warschauer Aufstand teilgenommen hatte und in diesem KZ interniert war. Sein Roman «Die schöne Frau Seidenman» ist sein bekanntestes Werk, es wurde 1984 in einem Exilverlag in Paris veröffentlicht, stieß allerdings in seiner Heimat auf Empörung. Denn was hier erzählt wird aus Warschau im Frühling des Kriegsjahres 1943, ist nicht nur für Deutsche unsäglich beschämend, es ist auch für Polen wenig schmeichelhaft.

Irma Seidenmann, 36jährige Witwe eines früh an Krebs verstorbenen Röntgenologen, kinderlos, schön, blond, blauäugig, ist Jüdin, hat sich aber durch ihr Aussehen und gefälschte Papiere bisher vor der Deportation schützen können. Bis der Denunziant Bronek, selbst Jude und Polizeispitzel, sie erkennt und als Jüdin meldet. Trotz perfekter Papiere besteht sie nur mit viel Glück eine penible Untersuchung, und welches Räderwerk an Helfern daran beteiligt war, sie aus den Fängen der Nazis zu befreien, oft selbstlos und mit viel Courage, das bildet im Wesentlichen den Handlungsfaden für diesen Roman. In 21 Kapiteln, die sich schwerpunktmäßig mit allen diesen Figuren beschäftigen, schildert der Autor deren teils groteske Lebensumstände, bedingt durch die deutsche Besetzung dieses gedemütigten Landes. Da ist der Richter Romnicki, der Schneider Kujawski, die Freunde Pawelek und Henryk, die Nonne Schwester Weronika, der Rechtsanwalt Fichtelbaum, Irmas Nachbar, der Altphilologe Dr. Korda, der Eisenbahner Filipek, der Berufsbandit Wiktor, der schöne Lolo, Judenjäger und Erpresser, der Mathematiker Professor Winiar, der deutsch-polnische Johann Müller, wichtigster Helfer mit höchstem Risiko, schließlich der SS-Mann Stuckler, dem die schöne Frau Seidenman so glücklich entronnen ist. Wie ein Reigen sind die Geschichten dieser Figuren ineinander verwoben, und jede der Geschichten beleuchtet eine der vielen Facetten dieser furchtbaren Zeit.

In einer trotz der todernsten Thematik ironischen, gelegentlich sogar amüsierenden Sprache schildert Szczypiorski die politischen Verhältnisse in Warschau am Beispiel seiner liebevoll und stimmig beschriebenen Protagonisten, deren unterschiedliche Schicksale, die ganze Bandbreite der einfachen Bevölkerung umfassend, ebenso berührend sind wie spannend zu lesen. Die Menschen stehen bei ihm im Mittelpunkt, mit allen ihren Ängsten, Schwächen, Charakterfehlern, mit ihrer angesichts des täglichen Grauens verzweifelten Ratlosigkeit, bei der ihnen die Religion, ob jüdisch oder katholisch, auch nicht hilft, Gott schaut geflissentlich weg. Der auktoriale Erzähler springt zeitlich nicht nur zurück, er greift auch vor auf die Zukunft, erzählt vorab vom Tod oder dem späteren Schicksal seiner Figuren. Mit diesem relativ seltenen Stilmittel wird kunstvoll die Spannung erhöht, obwohl ja die erzählerische Gegenwart nicht abgeschlossen ist, die Figuren also noch weiter agieren. Viele Details der damaligen Lebenswirklichkeit schildert der Autor so wirklichkeitsnah und anschaulich, wie man sie in keinem Geschichtsbuch findet, insoweit ist seine Erzählung gleichermaßen als wichtiges Dokument der Zeitgeschichte anzusehen.

Während die Deutschen unter der «Die Tyrannei der Perfektion» stehen, auch was das Töten anbelangt, erfüllen die Kommunisten mit ihren «ideologischen Streitigkeiten, die in Todesurteilen endeten», den Autor mit Abscheu. Sein Patriotismus ist sehr skeptisch, seine Sicht der Nachkriegszeit nicht minder. «Noch ist Polen nicht verloren» ist Hymne und Devise für ein von der Geschichte gebeuteltes Volk, das sich nicht unterkriegen lässt. Der Roman beleuchtet klug und feinfühlig dessen innerste Bindekräfte, eine alles überwindende, tief empfundene Menschlichkeit. Unbedingt lesen, kann ich nur sagen!

Bewertung vom 24.08.2015
Rilke, Rainer Maria

Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge


sehr gut

Der Lyriker als Romancier

Rainer Maria Rilke selbst hat «Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge» als Prosabuch bezeichnet, nicht als Roman. Im Brockhaus wird der Roman definiert durch «die individuell gestaltete Einzelpersönlichkeit, die einer als problematisch empfundenen Welt gegenübertritt», und genau dieses Charakteristikum findet sich hier in der fiktiven Figur des dänischen Poeten, der einem aussterbenden Adelsgeschlecht angehört und als armer Dichter in Paris seinen Weg sucht - also doch ein Roman! Es ist der einzige, den der Lyriker Rilke geschrieben hat, ganz unter dem Eindruck seines Aufenthaltes in der damals drittgrößten Stadt der Welt, sein Roman wurde 1910 veröffentlicht.

Im ersten Teil der fragmentarischen, aus 71 Aufzeichnungen bestehenden Erzählung berichtet der 28jährige Malte als eine Art Tagebuchschreiber von seinen Pariser Erlebnissen und den schockierenden Eindrücken, der Moloch Großstadt steht jedenfalls in krassem Gegensatz zu seiner Kindheit in einer wohlbehüteten ländlichen Welt. Er schildert die Menschenmassen und das unsägliche Elend, das mit der Industrialisierung einhergeht. Verfall, Krankheit und Tod scheinen allgegenwärtig, ständig begegnen ihm nie gesehene Aussätzige, Krüppel, übelste Gerüche verfolgen ihn auf seinen Streifzügen, - in seinem Eckel ist ihm die Bibliothek einzige Zufluchtsstätte im Paris des Fin de Siècle. Seine Kindheitserinnerungen im zweiten Themenkomplex sind geprägt von hochherrschaftlichen Wohnsitzen mit großen Zimmerfluchten, dunklen Ölgemälden mit den Portraits der Vorfahren, steifen Essensritualen im Kreise der Familie, sogar der Spuk einer vor hundert Jahren gestorbene Ahnfrau fehlt da nicht, sie erscheint gelegentlich in weißem Kleide und durchquert das Esszimmer, zum Schrecken aller. Und ganz verschlüsselt schimmert auch eine verbotene Liebe durch in den Jugendbildern, von denen Malte in nicht chronologischer Folge berichtet.

Ergänzt wird all dies durch Reflexionen über historische Ereignisse, denen zu folgen, deren Anspielungen zu verstehen, den Normalleser deutlich überfordern dürfte, bei mir war es jedenfalls so. Ob da von längst verblichenen Königen oder edlen Damen die Rede ist, vom Papst in Avignon, von antiken Gestalten, hundert Jahre nach Erscheinen des Romans dürfte dem heutigen Leser oft der adäquate Verständnishintergrund fehlen. Einfacher ist es da und auch ergiebiger, Rilkes Gedanken über Grundfragen menschlichen Lebens zu folgen, die Frage nach Gott, die eigene Identität, Schicksal, Liebe, Angst, Tod, aber auch Gesellschaft, Kunst und Sprache natürlich, die Benennung von Geschehnissen und Dingen also, deren pure Existenz ohne die Sprache ihm fraglich erscheint.

Und damit sind wir genau bei dem, was diesen Roman auszeichnet, die unglaublich feinfühlige, tiefgründige Sprache nämlich, die ihresgleichen sucht in der deutschen Prosa, kurzum subtil Erzähltes, gemeinhin als Prosagedicht bezeichnet. Hier wird nicht blumig in Worten geschwelgt wie bei manchen Großschriftstellern, nicht maßlos ausufernd wie bei seinem Zeitgenossen Proust zum Beispiel, Rilke entwirft im Gegenteil in knappen Worten einen ganzen Kosmos an Gedanken. Die Dichte seiner Prosa ist atemberaubend, er war der sensible Poet, der «unter dem Sichtbaren nach dem Äquivalenten suchte für das innen Gesehene», und was wir als Ergebnis bei ihm lesen ist äußerst komprimierte «Schmucksprache» im besten Sinne des Wortes. Als einer der Wegbereiter der literarischen Moderne verwendet Rilke Montagetechniken, setzt den Bewusstseinsstrom ein, sogar ein fiktiver Herausgeber findet sich, personifiziert durch gelegentlich eingestreute Randnotizen im Manuskript und verschiedene Fassungen im Anhang. Auch wenn wir nicht alles erfahren über Malte, an dieser oder jener Verständnisklippe scheitern, dieser Roman ist ein sprachliches Fest für entsprechend orientierte Leser mit Muße für ihre Lektüre, vielleicht sogar mit der seltenen Geduld, ein schwieriges, aber wichtiges Werk auch mehrmals zu lesen.

Bewertung vom 18.08.2015
Becker, Jurek

Bronsteins Kinder


ausgezeichnet

Fast ein kleines Wunder

Manchem Roman ist es beschieden, immer im Schatten eines erfolgreicheren vom gleichen Autor zu stehen, bei Jurek Becker ist es der 1986 erschienene Band «Bronsteins Kinder», dem übermächtig «Jakob der Lügner» gegenübersteht, sein 1969 veröffentlichter, berühmtester Roman. Beide sind verfilmt worden, wen wundert’s, wenn der Verfasser zugleich auch ein bekannter Drehbuchautor war, die erfolgreiche TV-Serie «Liebling Kreuzberg» stammt aus seiner Feder. Seine polnische Herkunft und die jüdischen Eltern, von denen nur der Vater Ghetto und KZ überlebt hat, haben ihn in seiner literarischen Thematik stark geprägt, hinzu kommen noch seine Jahre in der DDR, der er nach mancherlei Querelen und Schikanen 1977 schließlich den Rücken gekehrt hat. Man tut sich als Wessi heute etwas schwer, den politischen Hintergrund der vorliegenden Geschichte richtig zu würdigen, - für deren Problematik allerdings ist er unbedeutend.

Denn es geht um fundamentale Fragen von Schuld und Sühne, um das Gegenüber von Täter und Opfer lange nach der Tat, hier im Roman eines SS-Aufsehers des KZs Neuengamme mit dreien seiner einstigen Insassen. Hans Bronstein wird zufällig Zeuge, dass sein Vater und zwei andere Männer einen ihrer früheren Peiniger in der Datscha seines Vaters gefangen halten und foltern, ihm drei Jahrzehnte nach der Tat ein Schuldgeständnis abpressen wollen. «Darf einer, der mit dreißig Jahren geschlagen wurde, mit sechzig zurückschlagen?» ist eine der Fragen, mit denen sich Hans plötzlich konfrontiert sieht. Er wird ungewollt in einen schweren Loyalitätskonflikt mit seinem Vater hineingezogen, der niemals wird überwinden können, was ihm als polnischem Juden an Unrecht widerfahren ist. Den Justizorganen jedenfalls trauen die drei ehemaligen Opfer nicht; eine angemessene Bestrafung ist von diesem deutschen Staat keinesfalls zu erwarten, davon sind sie überzeugt.

Jurek Becker erzählt diese Geschichte in zwei Zeitebenen, und er beginnt: «Vor einem Jahr kam mein Vater auf die denkbar schwerste Weise zu Schaden, er starb. Das Ereignis fand am vierten August 73 statt, oder sagen wir ruhig das Unglück, an einem Sonnabend. Ich habe es kommen sehen.» Mit lakonischem Duktus, in einer einfach zu lesenden, kristallklaren Sprache, entwickelt Becker seine spannende Geschichte, wobei er in der zweiten Zeitebene rückblickend von den Geschehnissen im Zusammenhang mit der Selbstjustiz berichtet und von den Nöten, die seinen Protagonisten als einzigen Zeugen und Mitwisser umgetrieben haben. Durch die Entführung war eine zwickmühlenartige Situation entstanden, denn nicht nur die rachedürstenden ehemaligen KZ-Insassen mussten eine Entdeckung fürchten, das Opfer hatte gleichermaßen Angst vor Entdeckung und einem unvermeidlich folgenden Strafverfahren. In seiner Gewissensnot sucht Abiturient Hans Rat bei seiner in einer psychiatrischen Anstalt weggeschlossenen, deutlich älteren Schwester, die schubartig zu unkontrollierten tätlichen Angriffen gegen fremde Menschen neigt, mit der er jedoch ein inniges Verhältnis hat, - er besucht sie oft, sie schreibt ihm rührende Briefe in einer kuriosen Orthografie. Seine Freundin Martha einzuweihen traut er sich nicht, die Beiden hatten die jetzt als Gefängnis dienende Waldhütte bisher als Liebesnest genutzt.

Nach dem überraschenden Schluss bleiben Fragen offen. Das ahnt man vorab schon, wenn nämlich gegen Ende des Buches nur noch ein paar Seiten übrig bleiben zur Klärung. Ist das nun ein Manko? Keineswegs! Der klug konstruierte Plot mit den stimmig beschriebenen, originellen Figuren schneidet wichtige Themen an, hält sich aber mit wohlfeilen Erklärungen, mit Wertungen gar, weise zurück. Die vorwärtsdrängende, leichtfüßige Erzählweise mit ihren amüsanten Wendungen macht diesen Roman zu einer ausgesprochen kurzweiligen Lektüre, was bei der komplizierten Vater/Sohn-Konstellation, die er so virtuos behandelt, und seiner schwierigen Schuld/Sühne-Thematik fast an ein kleines Wunder grenzt.

Bewertung vom 18.08.2015
Chatwin, Bruce

Traumpfade


schlecht

Verlorene Zeit

Es gibt Bücher, mit denen man partout nichts anzufangen weiß, die einem irgendwie nicht liegen, der Thematik oder Erzählweise, zuweilen aber auch der Botschaft wegen, die sie transportieren sollen. Bruce Chatwins mit allerlei Reflexionen angereicherter Reisebericht «Traumpfade», nach seinem Erscheinen 1987 zum Bestseller avanciert, gehört für mich persönlich eindeutig zu dieser unerquicklichen literarischen Spezies. Für Globetrotter sicherlich interessant, bietet dieses Buch, das Vieles ist, nur kein Roman, trotz etlicher Informationen über die eingeborene Bevölkerung eines fernen Kontinents den übrigen Lesern literarisch rein gar nichts. Weder eine interessante Handlung noch sympathische Figuren, deren Erlebnisse erzählenswert wären oder mit denen man sich irgendwie identifizieren könnte. Es bietet leider auch keine sprachliche Könnerschaft oder einen kreativen Schreibstil, womit das Lesen ja per se zu einem Genuss werden kann. Wer also nicht gerade australophil ist, dessen Geduld mit dem englischen Autor wird 368 Buchseiten lang auf eine harte Probe gestellt.

Im ersten Teil erzählt Chatwin fiktional angereichert von seinen Erlebnissen in Australien, dem fünften Kontinent, der es ihm ganz besonders angetan hat. Zu Beginn schildert er das Zusammentreffen mit Arkady Wolschock, einem russischstämmigen Wissenschaftler, der für eine Eisenbahngesellschaft tätig ist und als Kontaktmann zu den Aborigines fungiert, um mit ihnen die Trasse einer neu zu bauenden Schienenstrecke abzustimmen. Der Autor schließt sich ihm an, begleitet ihn auf seinen Reisen und lernt so die Mythen der Eingeborenen kennen, deren Traumpfade auf uralten Überlieferungen beruhen. Sie nennen sie Songlines, Wege also, die man singen kann, die magische Punkte berühren, von den Aborigines wie Heiligtümer verehrt, da sie den Entstehungsmythos vieler gottähnlicher Kreaturen verkörpern. Auf diesen Fahrten treffen die Beiden mit vielen Eingeborenen zusammen, deren prekäre Lebensumstände einem Europäer eigentlich als unerträglich erscheinen müssten. Seltsamerweise hält sich der Autor aber mit einer Anklage der britischen Kolonialherren ziemlich zurück, obwohl hier eine ebenso rücksichtslose Unterdrückung und auch Ausrottung der indigenen Bevölkerung stattgefunden hat wie in Asien, Afrika oder Amerika.

Chatwins besonderes Thema, ja geradezu sein Herzensthema, ist das Nomadentum, für das er sich maßlos begeistern kann und dem er kritisch immer wieder das sesshafte Leben des modernen Menschen gegenüberstellt. Er führte selbst ein unstetes Leben mit ausgedehnten Reisen, fühlte sich als Autodidakt wohl auch ein bisschen wie ein Privatgelehrter, der mit Konrad Lorenz Gespräche führte und mit vielen Fachleuten auf dem Gebiet der Kulturanthropologie zusammentraf. Seine detaillierten Beschreibungen eines für die meisten Leser völlig fremden, fernen Kontinents mit seiner exotisch anmutenden Flora und Fauna erklärt die große Popularität, die er in dafür empfänglichen Leserkreisen genießt, viele der Lobeshymnen zeugen davon.

Die zweite Hälfte des Buches unter dem Titel «Aus den Notizbüchern» ist eine ebenso kuriose wie überflüssige, bruchstückhafte Sammlung von Zitaten, Aphorismen und Notizen des Autors, mit denen er unverdrossen seine Botschaft zu ergänzen und zu untermauern sucht. Da findet sich dann beispielsweise zum Thema Knochenfunde von Hominiden Tiefsinniges wie: «Wenn bewiesen werden könnte, dass sie von anderen Hominiden in die Höhle gebracht wurden, würden diese sich der Anklage wegen Mordes und Kannibalismus stellen müssen. Wenn nicht, nicht.» Wow! Vom Gilgamesch-Epos bis zu Hitlers Refugium bei den Nürnberger Parteitagen, gipfelnd in der These vom Songline-Urmodell für alle nachfolgenden Systeme, es wimmelt nur so von populärwissenschaftlichem Nonsens. So was kann erheitern sein, ist es hier nun aber wirklich nicht, - schade also um die verlorene Zeit, in der man ja auch einen richtigen Roman hätte lesen können, womöglich sogar einen guten!

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.08.2015
Høeg, Peter

Fräulein Smillas Gespür für Schnee


weniger gut

Eiskalte Groteske

Dem dänischen Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Peter Høeg gelang mit seinem Roman «Fräulein Smillas Gespür für Schnee» 1992 international der Durchbruch. Der mit einigen Preisen, unter anderem dem Deutschen Krimipreis, ausgezeichnete Roman erlangte schnell Bestsellerstatus und wurde schon bald auch verfilmt, wenig überzeugend allerdings. Nicht zuletzt unter diesem Eindruck hat der Autor eine Verfilmung seiner Werke künftig generell ausgeschlossen, er wolle nicht, dass der bildlichen Phantasie seiner Leser durch den Film Grenzen gesetzt werde. Eine wie ich meine durchaus honorige und nachahmenswerte Position, misslungene Verfilmungen gibt es ja zuhauf, wie Romanleser aus leidvoller Erfahrung wissen. Diametral steht dem allerdings der schnöde Mammon gegenüber, die kaum auszuschlagenden finanziellen Verlockungen für die Autoren.

Das Kopfkino des Lesers bekommt jedenfalls reichlich zu tun, um den rasanten Plot mit Smilla Jaspersen, der robusten und überaus zähen Ich-Erzählerin, in Bilder umzusetzen. Der in drei Teile gegliederte, vorwärtsdrängend im Präsenz erzählte Roman ist mehr als ein Krimi, er ist zugleich auch Großstadt-, Wissenschafts- und Grönland-Roman, widmet sich der entseelten Metropole ebenso wie der Gletscherkunde und der Unterdrückung der indigenen Eskimo-Bevölkerung Grönlands. Smilla, halb Inuk und halb Dänin, eine 37jährige arbeitslose Mathematikerin und Geologin, kommt nach dem rätselhaften Todessturz eines kleinen Eskimojungen vom Dach ihres Wohnblocks in Kopenhagen einem kriminellen Komplott von skrupellosen Naturforschern auf die Spur. Sie erkennt an einem winzigen Detail der Spur des Jungen in dem Schnee, der auf dem Dach liegt, dass es Mord war. Dessen Hintergründe will sie klären, die Polizei allerdings ist wenig interessiert, behindert sie eher, und wie besessen von ihrer Mission stürzt sie sich couragiert in ein ebenso turbulentes wie gefährliches Abenteuer, das im Grönland-Eis endet. Mehr zu erzählen verbietet sich bei einem von der Spannung lebenden Roman wie diesem natürlich.

Auch wer wie ich nicht gerade ein Krimifreund ist, wird von dem erzählerischen Sog des handlungsreichen Romans unweigerlich mitgerissen, es geht quasi Schlag auf Schlag. Aber nicht nur das ist Grund für den Spaß beim Lesen, weit mehr hat mich die flapsige, schlagfertige, immer wieder überraschende, ebenso kreative wie amüsante Erzählweise des Autors in ihren Bann gezogen, man kommt aus dem Schmunzeln nicht mehr heraus. «Moritz verkehrt dort, weil die Küche gut ist, die Preise sein Selbstgefühl anregen und er es mag, dass man durch die fassadenhohen Spiegelscheiben einen guten Ausblick auf die Leute auf der Straße hat. Benja geht mit, weil sie weiß, dass die Leute auf der Straße durch dieselben Scheiben einen guten Ausblick auf sie haben. Sie haben einen festen Tisch am Fenster und einen festen Ober, und sie essen immer dasselbe. Moritz nimmt Lammniere, Benja eine Schale mit der Sorte Futter, die man Kaninchen gibt.»

Wie zu befürchten lässt der Schwung der Erzählung ab der Mitte spürbar nach, es schleichen sich Längen ein in den 500seitigen Roman, speziell was die wissenschaftliche Thematik anbelangt. Man hat oft Probleme, die Fülle von Details richtig einzuordnen, ihre Relevanz für die Geschichte zu erkennen, wobei die vielen Figuren, speziell was die skurrile Besatzung des Schiffes anbelangt, ebenfalls für einige Verwirrung sorgen. Auch das Ende hat mich nicht wirklich überzeugt, es bleibt zu vieles unplausibel, der Showdown ist absurd überzeichnet. Bei einem ansonsten konsequent dem Realismus verpflichteten Text ein ziemliches Manko, zumindest für die plot-orientierten Leser. Bereichend jedoch sind Grönland, Eis und Schnee als unwirtliche arktische Kulisse, auch die Verhältnisse auf einem Küstenmotorschiff sind für Landratten natürlich interessant, erheiternd aber ist die unbekümmert nassforsche Sprache, in der diese zuweilen fast groteske Geschichte erzählt wird.

2 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.08.2015
Onetti, Juan C.

Das kurze Leben


ausgezeichnet

Klug hinterfragtes Ich

Santa María heißt die fiktive Stadt, in der ein Romanzyklus des uruguayischen Schriftstellers Juan Carlos Onetti beheimatet ist, dessen erster Band den Titel «Das kurze Leben» trägt. Der 1950 erschienene Roman ist das wichtigste Werk dieses der klassischen Moderne zugerechneten Autors, der innerhalb der südamerikanischen Literatur als Avantgardist angesehen werden kann, ihr erster namhafter Vertreter war. Der vorliegende Roman belegt dies deutlich, man ahnt schon recht bald beim Lesen, dass hier nicht gängige Leseerwartungen an einen südamerikanischen Roman á la Llosa oder Marquez erfüllt werden, dass hier kein pralles Leben in buntem Lokalkolorit thematisiert wird mit all den Ingredienzien, die solcherart Lektüre so angenehm mühelos konsumierbar macht. Onettis äußerst anspruchsvoller Roman demgegenüber ist ein gewagtes Spiel mit Identitäten, seine Figuren sind nicht festgefügter Bestandteil eines stringenten Plots, ihre Existenzen bleiben vage, scheinen austauschbar, sind «bloße Verkörperung der Idee» ihrer selbst, wie der Autor schreibt, ein Spiel mit dem Ich.

Aus unverkennbar männlicher Sicht wird hier im Kern das Verhältnis der Geschlechter thematisiert, wobei mich die machohafte Perspektive des Autors ziemlich gestört hat. Ich-Erzähler Juan María Brausen, von Entlassung bedrohter Werbetexter, kommt nicht darüber hinweg, dass seiner Frau die linke Brust amputiert werden musste, seine erst fünf Jahre dauernde Ehe scheitert daran. Durch die dünne Wand zur Nachbarwohnung hört er die Prostituierte Queca, die dort ihre Freier empfängt. Er wird ebenfalls ihr Kunde, bleibt aber anonym, sie weiß nicht, dass er ihr Nachbar ist. Als Ernesto sie erwürgt, identifiziert Juan sich mit ihm, der nur das getan habe, was er selbst tun wollte, er organisiert und begleitet dessen Flucht. Die Morphiumampullen seiner Frau bringen Juan auf eine Idee, er installiert den Arzt Días Grey als Hauptfigur seines neu zu schreibenden Drehbuchs, dessen Fortentwicklung wir als Leser quasi miterleben, - es ist im Wesentlichen der zweite Handlungsstrang. Grey begehrt heftig Elena Sala, die attraktive Frau von Señor Lagos, die Morphium von dem Arzt verlangt, ihm im Sprechzimmer ihre prallen Brüste präsentiert, sich ihm letztendlich aber versagt, weil sie dem schönen, geheimnisvollen Oscar zugeneigt ist. Nach Elenas Tod wird Grey immer mehr in kriminelle Rauschgiftgeschäfte verwickelt, und er begehrt erneut eine Frau, die Lagos begleitet, eine mysteriöse Geigerin. Das Ganze endet im Karneval, von dem auch schon zu Beginn kurz die Rede ist, die Figuren verwandeln sich beim Kostümverleiher in ein anderes Ich, sie verschwinden somit geradezu in der Fiktion, werden unsichtbar, verlöschen.

In den beiden Handlungssträngen, die stark ineinander verwoben in den 41 Kapiteln des zweiteiligen Romans erzählt werden, entwickelt der Autor seine metaphysischen Betrachtungen, verdeutlicht menschliches Bewusstsein, indem er seine Figuren in andere Identitäten schlüpfen lässt, sie aus verschiedenen Blickwinkeln zeigt. Für mich stärkste Passage war dabei die Bischoffszene, wo er den hochwürdigsten Monsignore zum Beispiel an einer Stelle sagen lässt: «Nur Gott ist ewig. Ein jeder ist nur ein möglicher Augenblick; und das entwürdigende Bewusstsein, das ihnen erlaubt, auf der launischen, zerstückelten und selbstgefälligen Sinneswahrnehmung, die sie Vergangenheit nennen, festzustehen, die ihnen erlaubt, Hoffnungsleinen auszuwerfen, und Fehler in dem zu berichtigen, was sie Zeit und Zukunft nennen, ist, wenn man es annimmt, nur ein persönliches Bewusstsein».

Wer den Fehler macht, einen in jeder Hinsicht literarisch so hochklassigen Roman wie diesen als Strandlektüre lesen zu wollen, der muss natürlich kläglich scheitern an einer derartigen gedanklichen Dichte. Kontemplativ veranlagten, aufnahmebereiten Lesern hingegen wird eine zum Weiterdenken anregende, bereichernde Weltsicht dargeboten, die das Ich ausgesprochen klug hinterfragt.

Bewertung vom 30.07.2015
Greene, Graham

Der dritte Mann


gut

Der britische Schriftsteller Graham Greene gilt als der Autor mit den meisten Nominierungen für den Nobelpreis, erhalten hat er ihn nie. Manchen galt er als nicht idealistisch genug oder als nicht hinreichend moralisch, Anderen als kommunismusverdächtig oder zu wenig liberal, nach seiner Konversion den Katholiken als zu ketzerisch, den Atheisten als zu katholisch, ein Individualist also, der schwer einzuordnen war. Literarisch thematisiert er, häufig in Form von Abenteuer-, Spionage- oder Kriminalgeschichten, die Problematik von Schuld, Treue und Verrat, kein Wunder, gab es in seiner bewegten Vita immerhin auch eine kurze Phase geheimdienstlicher Tätigkeit. Fast alle seine Werke sind verfilmt worden, so auch der Roman «Der dritte Mann», mit Orson Welles in der Hauptrolle einer der unsterblichen Klassiker des Spielfilms. Wobei der Zitherspieler Anton Karas mit seinem Harry-Lime-Theme eine kongeniale Filmmusik geschaffen hat, die ihrerseits lange Zeit ein Gassenhauer war, Synonym geradezu für diesen berühmten Thriller.

Im Vorwort seines Romans schreibt Green: «Der dritte Mann wurde nicht geschrieben, um gelesen, sondern um gesehen zu werden». Für das geplante Filmprojekt mit Carol Reed als Regisseur sollte er das Drehbuch schreiben, mehr als ein paar Zeilen, eine Idee, lagen aber noch nicht vor. «Es ist für mich nahezu unmöglich, ein Drehbuch zu schreiben, ohne den Stoff zunächst als Erzählung zu behandeln», lässt er uns wissen. Diesem Unvermögen also verdanken wir einen spannenden Roman, die zeitlich im Wien der Nachkriegszeit angesiedelt ist, als die Stadt sich unter dem Vier-Mächte-Status in einer politisch seltsam anmutenden Konstellation befand. Die dafür symptomatischen Polizeistreifen mit ihren vier aus den jeweiligen Siegernationen stammenden Militärpolizisten, immer zusammen in einem Jeep, jeder in der Uniform seines Landes, dürften für jüngere Leser, vermute ich mal, kaum noch vorstellbar sein. Der Schwarzmarkt blühte damals, es gab viele Schieberbanden, die illegal mit allem Möglichen handelten und die Polizei in Atem hielten. In diesem Milieu ist die ziemlich mysteriöse Geschichte von Harry Lime angesiedelt, die von einem englischen Polizisten, Oberst Calloway erzählt wird.

Rollo Martins, unter dem Pseudonym Buck Dexter wenig erfolgreicher Autor billiger Wildwestromane, bekommt durch Vermittlung seines Freundes Harry den lukrativen Auftrag, in Wien einen bestimmten Zeitungsartikel zu schreiben. Als er dort eintrifft, erfährt er, dass Harry bei einem Verkehrsunfall getötet wurde. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des Ich-Erzählers Calloway, abwechselnd wird immer wieder protokollartig das Geschehen neutral geschildert, die Polizeiakten zitierend, die über Lime angelegt sind. Denn der war, zum Entsetzen seines gutgläubigen Freundes, in kriminelle Schwarzmarktgeschäfte verwickelt. Nach und nach gelingt es Martins zusammen mit dem Oberst, die Hintergründe des rätselhaften Todes vom Lime aufzuklären, hier mehr zu erzählen verbietet sich aber. Einerseits, um die Spannung nicht zu verderben, andererseits ist der Fortgang der Geschichte vielen Kinobesuchern längst hinreichend bekannt.

«Tatsächlich ist der Film besser als die Erzählung», schreibt Green im Vorwort. Dem kann ich nicht zustimmen, denn der Film, der in meinem Kopf entstand, als ich das Buch jetzt gelesen habe, war ebenso spannend, ebenso unterhaltend, er war darüber hinaus aber auch amüsant. Der schwarze englische Humor schimmert häufiger durch, und besonders köstlich ist für Buchleser der literarische Abend im British Council, den Martins alias Dexter zu bestreiten hat, unter diesem Synonym wurde er nämlich mit einem namensgleichen berühmten Autor verwechselt. Als er dort gefragt wird, wie er denn James Joyce literarisch einordnen würde, antwortet er zum Erstaunen des Auditoriums: «Ich habe noch nie von ihm gehört». Es lohnt also doch, zu lesen!

Bewertung vom 30.07.2015
Fitzgerald, F. Scott

Der große Gatsby


weniger gut

Man kann wohl nicht alles haben

Bereits als junger Schriftsteller hatte Franzis Scott Fitzgerald beachtliche Erfolge mit seinen Kurzgeschichten, was ihm schon früh ein Leben auf großem Fuße ermöglichte. Gleichwohl war er, der sich in den 1920er Jahren in Paris mit Hemingway angefreundet hatte, als typischer Vertreter der Lost Generation skeptisch veranlagt. Gerade auch, was sein schriftstellerisches Werk anbelangt, und in der Tat war er 1940 bei seinem frühen Tod mit nur 44 Jahren bereits weitgehend in Vergessenheit geraten. Einem breiteren Publikum wurde er erst posthum durch die erfolgreiche Verfilmung seines Romans «Der große Gatsby» bekannt. Dieses stark autobiografisch beeinflusste Buch entwickelte sich daraufhin ebenfalls weltweit zum Bestseller und zählt inzwischen zur bedeutendsten Prosa der amerikanischen Moderne. Zu Recht?

Der Roman ist eine literarische Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Traum in den Roaring Twenties. Nick, ein armer junger Mann vom Lande, kommt aus dem College nach New York, um Börsenhändler zu werden. Er mietet sich ein bescheidenes kleines Häuschen, unmittelbar neben einer feudalen Villa gelegen. Ein geheimnisvoller, unermesslich reicher junger Selfmademan scheint dort ununterbrochen pompöse Partys zu feiern, mit einer ebenso riesigen wie illustren Gästeschar. Als Nick, aus dessen Perspektive die gesamte Geschichte erzählt wird, seinen Nachbarn Jay Gatsby näher kennen lernt, stellt sich heraus, dass dessen ganzes Streben nur darauf gerichtet ist, seine Jugendliebe Daisy wieder für sich zu gewinnen. Er war damals, fünf Jahre ist das her, ein junger Habenichts, sie stammte aus reichem Elternhause. Der Militärdienst hatte sie getrennt, inzwischen ist Daisy nun verheiratet. Und wie es der Zufall will – oder besser der Autor -, ist Daisy Nicks Cousine, eine lebenslustige und verwöhnte Frau, die mit ihrem reichen Mann ein luxuriöses Leben führt. Wie man sich denken kann, ist in dieser Konstellation bereits ein veritables Drama angelegt, verschärfend kommt aber noch hinzu, dass Daisys Ehemann Tom ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau hat, für die Tete-a-tetes mit ihr hat er in New York extra eine Wohnung angemietet.

Mehr zu erzählen wäre unfair dem potentiellen Leser gegenüber, interessant finde ich, dass Fitzgerald als junger Mann selbst in einer solchen Situation war, als armer Schlucker nämlich einer jungen Upperclass-Frau nichts bieten zu können, vergeblich um sie zu werben. Bei seiner späteren Frau Zelda Sayre ging es ihm zunächst ähnlich, sie lehnte eine Ehe mit ihm ab, erst nach einigen finanziellen Erfolgen hat sie ihn schließlich doch geheiratet - und mit ihm einige wilde Jahre verbracht. Diese Klassenunterschiede in der Gesellschaft der Vereinigten Staaten thematisiert der Autor hier ebenso wie Probleme durch Alkoholismus oder Depressionen, aber auch durch Hedonismus und Dekadenz als Folgen einer ungerechten, einseitig die Oberklasse begünstigenden Prosperität.

Ernest Hemingway hatte den Schreibstil seines Freundes Fitzgerald als zu affektiert bezeichnet. Mich hingegen hat dieser dialogreiche Roman sprachlich durchaus überzeugt, vom Duktus her passt er nämlich bestens zum Sujet einer zum Scheitern verurteilten, süßlichen Traumwelt á la «Vom Winde verweht». Angenehm zu lesen also, einlullend geradezu, der bewährten amerikanischen Erzähltradition folgend, nur dass es hier mit drei Toten krimineller zugeht als bei Margaret Mitchell. Der Plot ist wahrhaft kinotauglich konstruiert, es gibt dementsprechend entschieden zu viele Zufälle, um ihn wirklich ernst zu nehmen. In diesem Drama, einem geradezu psychotisch anmutenden Kampf des superreichen Ex-Lovers um seine gleichermaßen genusssüchtige wie oberflächliche Traumfrau, ist die Katharsis mit ihrer Geld-macht-nicht-glücklich lautenden Botschaft auch nicht gerade originell. Man kann wohl nicht alles haben, das gilt für Jay Gatsby, erst recht aber für den Leser dieser banalen Geschichte.

0 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.07.2015
Handke, Peter

Die Angst des Tormanns beim Elfmeter


weniger gut

Eine literarische Anamnese

Auffallend oft werden Schriftsteller aus Österreich der Kategorie «Enfant terrible» zugerechnet, man denke nur an Elfriede Jelinek oder Thomas Bernhard, und auch Peter Handke gehört zu dieser aufmüpfigen Spezies. Wusste doch der noch nicht Dreißigjährige mit seinem deutlich auf Konfrontation weisenden Sprechstück «Publikumbeschimpfung», 1966 unter Claus Peymann erstmals aufgeführt, früh zu schockieren, und auch seine Erzählung «Die Angst der Tormanns beim Elfmeter» von 1970, bereits ein Jahr später von Wim Wenders verfilmt, machte ihn plötzlich einem breiten Publikum bekannt, - woran die beiden ungewöhnlichen Titel einen nicht zu unterschätzenden Anteil haben dürften. Lohnt es sich also, diese frühe Erzählung des Avantgardisten zu lesen, auch wenn sie, das sei hier gleich vorweggeschickt, mit so eindeutig Realem wie Fußball herzlich wenig zu tun hat?

Zwar ist Handkes Held ein ehemaliger Torwart, in dieser Eigenschaft allerdings tritt er nicht auf, nur sein entsprechendes Insiderwissen wird auf der letzten Seite des Buches thematisiert. Denn da erklärt Josef Bloch als Zuschauer einem anderen Mann die Finten, mit denen Tormann und Elfmeterschütze sich gegenseitig auszutricksen versuchen, um die richtige Schussrichtung vorauszuahnen. Wir lernen Bloch kennen als Monteur, der eine Geste seines Poliers bei der Jause in der Bauhütte als Entlassung missdeutet. Er streift rastlos durch Wien, besucht Restaurants und Cafés, mietet sich in einem Hotel ein, geht öfter ins Kino, sucht Kontakt zu Frauen und landet schließlich ganz unvermutet mit der Kassiererin eines Kinos im Bett. Am Morgen sieht er statt der Teeblätter Ameisen in der Teekanne. «Ich heiße Gerda, sagte sie. Bloch hatte es gar nicht wissen wollen.» Das stockende Gespräch zwischen ihnen irritiert ihn zunehmend. «Aber dann störte ihn alles immer mehr. Er wollte ihr antworten, brach aber ab, weil er das, was er vorhatte zu sagen, als bekannt annahm». Plötzlich, ganz unvermittelt, erwürgt er die Frau. Von der ersten Zeile an deutet Handke durch seine lakonisch knappe Erzählweise in einfach strukturierten Sätzen auf die Schizophrenie seiner Figur hin.

Blochs Wahrnehmung ist sichtlich gestört, Gegenstände und deren Bezeichnungen scheinen ihm nicht mehr zusammenzupassen, er kann Wesentliches nicht mehr von Unwichtigem trennen, sucht Streit, kann kaum noch eine sinnvolle Unterhaltung führen, ist getrieben von seinem haltlosen Bewegungsdrang. Handke schildert strikt aus der Sicht seines Helden, was dazu führt, dass der Leser gefordert ist, aus dem Erzählten jeweils das herauszudestillieren, was signifikant ist für die Geschichte. Und andererseits zu erkennen, was überhaupt nicht relevant ist, was nur die psychotisch bedingten Wahrnehmungen des Protagonisten verdeutlichen soll. Ein solcher Text ist natürlich nicht gerade leicht zu lesen, will man seinen Hintersinn erfassen, auch wenn die anspruchslos klare Sprache, ein Stilmittel, mit dem der Autor die Wirklichkeit zu reflektieren sucht, dies dem Leser suggerieren könnte. Allerdings wäre das Ganze dann völlig sinnfrei, es ist nämlich kein Krimi, was wir da lesen trotz des Mordes, es gleicht eher einer Anamnese.

In seiner verstörenden Erzählung beschreibt Peter Handke den Wirklichkeitszerfall seines Protagonisten Josef Bloch, ein ambitionierter Versuch, sich in den Kopf eines Geisteskranken hinein zu versetzen, strikt aus der verqueren Perspektive seiner von der Realität überforderten Figur zu berichten, auch wenn das Geschilderte vordergründig keinen Sinn macht. Oder doch? Nicht immer ist ja die Wirklichkeit genau das, was wir glauben, in ihr zu sehen. Die Erzählung endet jedenfalls mit den Sätzen: «Der Schütze lief plötzlich an. Der Tormann, der einen grellgelben Pullover anhatte, blieb völlig unbeweglich stehen, und der Elfmeterschütze schoss ihm den Ball in die Hände». Ob da der Schlüssel für das Verständnis dieses Buches liegt, muss jeder Leser für sich selbst entscheiden.

Bewertung vom 24.07.2015
Semprún, Jorge

Was für ein schöner Sonntag!


weniger gut

Was für ein schöner Kommunismus!

Das Werk des spanischen Schriftstellers Jorge Semprún ist geprägt durch seine bewegte Jugend, 13-jährig ging er mit seiner Familie wegen des Bürgerkriegs ins holländische Exil, nach dem Sieg Francos dann nach Paris. Er studierte dort Philosophie und trat 1941 der kommunistischen Résistance bei, wurde 1943 von der Gestapo verhaftet und 1944 ins KZ Buchenwald deportiert. Sein 1980 erschienener Roman «Was für ein schöner Sonntag» ist der Versuch einer späten, nachträglichen Aufarbeitung dieser für den damals jungen Mann prägenden Erlebnisse, sie stellt eine berührende Mahnung zur Humanität dar. Wie auch in vielen anderen seiner Werke geht es ihm hier besonders um das Vergessen, dem beschönigenden Verblassen historischer Schreckensbilder, dem er literarisch entgegen wirken will.

Die eigentliche Handlung betrifft einen einzigen Tag, einen Sonntag im Dezember 1944. Der Autor ist als Häftling 44904 in der Arbeitsstatistik des Konzentrationslagers Buchenwald eingesetzt, in dem viele politische Gefangene interniert sind. Ein privilegierter Schreibtischjob, der ihn vor den gefürchteten Außeneinsätzen bewahrt. In einer Art Vorspiel im Kapitel Null der in sieben Kapitel gegliederten Geschichte erzählt Semprún von einem Freigang, bei dem er die auf einer Wiese stehende, vermeintliche Goethe-Buche auf dem Hügel von Ettersberg bewundert. Was ihn fast das Leben gekostet hätte, denn ein SS-Mann entdeckt ich dort abseits des Weges. In diesem Vorspann bereits lässt der Autor Léon Blum, den ehemaligen französischen Ministerpräsidenten, und Goethe mit Eckermann auftreten, man ahnt da schon, dass wohl recht unkonventionell erzählt werden wird im Weiteren.

Und so ist es denn auch, die Erzählung folgt keinem planvoll angelegten Handlungsfaden, sie ist in keiner Weise chronologisch aufgebaut. Vielmehr folgt sie den Assoziationen des Ich-Erzählers, seinen zeitlich wilden Gedankensprüngen, die irgendein geschildertes Detail, eine bestimmte Erinnerung bei ihm auslösen, ihn damit allerdings auch permanent vom Thema ablenken. Und so findet man massenhaft Sätze wie «Aber wir wollen nicht abschweifen» oder, noch besser: «Aber wo bin ich stehen geblieben»? Oder Sätze wie: «Aber wir sind zwanzig Jahre früher an einem Sonntag in Buchenwald». Ein weiteres Stilmittel ist der häufige Wechsel der Erzählperspektive, der personale Ich-Erzähler wird unvermittelt zum Er-Erzähler, der von Gérard berichtet, den Decknamen aus dem kommunistischen Untergrund benutzend, und plötzlich wird dann auch noch suggestiv in der Du-Form erzählt, alle drei Formen finden sich zuweilen auf einer einzigen Seite.

Semprún stellt dem KZ-System der Nazis den stalinistischen GULAG gegenüber, manche seiner russischen Mitgefangenen landen nach der Befreiung gleich wieder in einem sowjetischen Straflager, man hält sie für Kollaborateure. Als Philosoph ergeht sich der Autor in schier endlosen Erörterungen des Kommunismus, redet von Dialektik, von Treffen der Komintern, vom Untergrundkampf in einer Detailfülle, die den Normalleser nicht nur überfordert, sondern verschreckt. In nicht nachvollziehbaren politischen Diskussionen und Winkelzügen einer endlos erscheinenden Reihe von Figuren, deren Namen allenfalls Insidern bekannt sein dürften, mit seinen ständigen Reisen kreuz und quer durch Europa verwirrt uns der Autor, der oft selbst nicht mehr weiß, wann, wo und warum. So ist dieser zwiespältige Roman einerseits eine fiktional angereicherte, interessante Autobiografie, andererseits die selbstgerechte Nabelschau eines kommunistischen Intellektuellen, der erst spät begreift, welcher menschenverachtenden Ideologie er gefolgt ist, wessen Sache er in Wahrheit gefördert hat. Den wenigen erfreulich zu lesenden Passagen dieses Romans steht eine nur Insider interessierende Textmasse gegenüber, die ungeordnete Gedankenflut eines spät geläuterten kommunistischen Aktivisten. Dem aber konnte ich, bei allem Respekt, partout nichts abgewinnen!