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Raumzeitreisender
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 758 Bewertungen
Bewertung vom 04.06.2016
Dann mach doch die Bluse zu
Kelle, Birgit

Dann mach doch die Bluse zu


ausgezeichnet

Männer sind anders, Frauen auch

Autorin Birgit Kelle streitet dafür, dass Frauen ihren Lebensweg frei wählen können und fordert staatliche Unterstützung für diejenigen, die ihre Kinder selbst erziehen möchten. Mit den Auswüchsen des Feminismus hat sie Probleme. „Ein Konzept, oder sagen wir besser, eine Ideologie, die angetreten ist, uns alle gleicher zu machen, die Unterschiede zwischen Männern und Frauen aufzuheben, hat Verwirrung hinterlassen, aber keine Erfolge.“ (8) Sie pocht darauf, ihr Leben so zu führen, wie es sie glücklich macht. „War der Feminismus nicht einst dafür eingetreten, dass ich genau das machen darf?“ (11)

Im zweiten Kapitel geht die Autorin auf ihren eigenen Lebensweg ein. Dieser individuelle Lebensweg prägt zweifelsohne auch ihre Einstellungen und Vorstellungen. Als Mutter von vier Kindern fragt sie, wer eigentlich Politik im Interesse der Mütter macht? Wer kämpft für ihre gesellschaftliche Anerkennung im Hinblick darauf, was sie für die Gesellschaft leisten? „Die Antwort ist einfach: niemand – und schon gar nicht der Feminismus.“ (47)

Die Feministinnen betreiben ein einseitiges Spiel, wie Autorin Kelle deutlich macht. Hausfrauen und Mütter gelten als nicht befreit, als ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Der Fall, dass Mütter mit ihrer Rolle Glücklichsein können, ist nicht vorgesehen, obwohl europaweite Studien das belegen. Über sechzig Prozent aller Mütter würden am liebsten zuhause bleiben, bis das Kind das dritte Lebensjahr vollendet hat.

Der Feminismus zielt darauf ab, die natürliche Bindung zwischen Eltern und Kind zu kappen. Mutterschaft soll auf ein Minimum reduziert werden. Sie wird in kapitalistischer Manier als ein Hindernis für den Arbeitsmarkt interpretiert. Niemand fragt danach, welche Folgen emotionale Distanz zu den eigenen Kindern in der Zukunft haben kann.

Autorin Kelle untersucht Gender- Mainstreaming, eine Ideologie, die Geschlechterrollen zu sozialen Konstrukten erklären will. Dies steht nicht nur im Gegensatz zur wissenschaftlichen Forschung, sondern auch zum Empfinden der meisten Menschen. Fakt ist, Menschen werden nicht geschlechtsneutral geboren. Die Biologie lässt sich nicht ausblenden.

Mit der Quotenregelung, einer Zwangsmaßnahme zur Förderung von Frauen, werden, so will es die Politik, Quotenfrauen geschaffen. Ist das im Interesse der Frauen, die eine Karriere auch aus eigener Kraft schaffen würden? Respekt muss erarbeitet und nicht per Gesetz verordnet werden. Birgit Kelle macht deutlich, dass die Argumentation zur Einführung einer Quote selbst unter Gender- Aspekten paradox klingt.

Die Autorin setzt sich mit Konstellationen von Lebenspartnerschaften auseinander. Noch besteht die „normale Familie“ aus Mutter-Vater-Kind, aber Patchworkfamilien und gleichgeschlechtliche Partnerschaften sind im Kommen. Warum sollten Rentner- WGs nicht auch fordern, als Lebenspartnerschaft eingetragen zu werden. „Fakt bleibt: Obwohl totgesagt, existiert [herkömmliche] Familie munter weiter.“ (168)

Wer eigene Kinder großzieht, leistet keinen Beitrag für das System. „Hätte ich jedoch mit meiner Nachbarin die Kinder getauscht … und hätten wir uns gegenseitig für die Arbeit als Tagesmütter bezahlt, dann wären wir voll berufstätig gewesen und bekämen die Anerkennung der Gesellschaft und der Rentenkasse.“ (177) Seltsame Welt.

Wir leben in einer Welt, in der auf Europaebene gefordert wird, den Begriff „Mutter“ als eine „sexistische Stereotype“ zu bekämpfen. Unsere Gesellschaft wird ohne Familien ärmer werden. Birgit Kelle hat das, wie viele andere auch, erkannt und, im Gegensatz zu vielen anderen, auch publiziert. Es gelingt ihr, Widersprüche in unserer heutigen von Feminismus und Gender- Mainstreaming geprägten Gesellschaft plausibel aufzuzeigen. Sie schafft damit eine Gegenthese zu dem Gleichheitswahn in den Medien und in der Politik.

Bewertung vom 04.06.2016
Wenn die Haut zu dünn ist
Sellin, Rolf

Wenn die Haut zu dünn ist


weniger gut

Reizüberflutung

Hochsensible Menschen haben eine überdurchschnittlich differenzierte Wahrnehmung. Sie erfassen mehr Reize als andere Menschen und diese auch besonders intensiv. Es ist so, als ob ihre Antennen im Verhältnis zum Empfangsgerät überdimensioniert sind. Mangels wirksamer Filter entsteht eine Reizüberflutung.

Autor Rolf Sellin beschäftigt sich beruflich als Therapeut mit dem Thema. Er bezeichnet sich selbst als hochsensibel und weiß damit aus eigener Erfahrung, wovon er spricht. Um den persönlichen Bezug zu verdeutlichen, gebraucht er in seinen Ausführungen häufig die Ich-Form. Nach seiner Einschätzung wird das Thema bislang von der Psychologie nicht hinreichend beachtet.

Der Autor bietet einen einfach gestrickten Selbsttest an. Da Hochsensibilität leicht verwechselt werden kann mit anderen psychischen Besonderheiten, wie Sellin in "Therapeutische Wege, therapeutische Abwege" deutlich macht, kann ein Test nur ein Indiz sein, ob Hochsensibilität vorliegt. Letztlich muss ein Fachmann hinzugezogen werden.

Widersprüchlich wird es, wenn hochsensible Menschen gleichzeitig High Sensation Seekers sind und zeitweilig große Risiken eingehen, weil sie den besonderen Kick benötigen. Auch hierfür bietet der Autor einen kleinen Test an. „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“, erkannte schon Goethe und so stellt sich die Frage, ob die (natürliche) menschliche Zerrissenheit unbedingt kategorisiert werden muss.

Ich bezweifele, dass man Menschen einteilen kann in „hochsensibel“ und „nicht hochsensibel“. Für wahrscheinlicher halte ich, dass es fließende Übergänge gibt und auch zahlreiche Überlagerungen mit anderen psychischen Merkmalen, sodass eine Kategorisierung nur ein künstliches Raster darstellen kann. In diesem Sinne kommt es nur darauf an, ob man mit dem eigenen Profil zufrieden ist oder ob man es als Belastung empfindet.

Mit dieser Fragestellung beschäftigt sich der Autor in „Wenn die eigene Wahrnehmung immer nur stört“. Eine Reizüberflutung kann dazu führen, dass wir uns selbst nicht mehr wahrnehmen, und damit geht die eigene Perspektive verloren. Wir werden abhängig von der Meinung anderer. Die spannende Frage lautet daher: "Wie lässt sich die eigene Wahrnehmung steuern?"

Die Antworten auf diese Frage sind dürftig. "Wenn man es gelernt hat, bewusst mit seiner Wahrnehmung umzugehen, verändert sich das Leben grundlegend und damit auch das Lebensgefühl." (72) Das mag stimmen, ist aber keine hinreichende Antwort. Es folgen mehr Problembeschreibungen als Lösungen.

In "Leichter leben im Alltag" finden sich Aussagen wie "Hochsensible nehmen mehr Reize auf" (109), "Anpassungsüberforderung löst Stress aus" (110) oder "Sie [die Hochsensiblen] fühlen sich hin und her gerissen, wenn sie wahrnehmen, dass sie nicht Herr ihres eigenen Denkens sind". Auch hier werden mehr Probleme beschrieben als gelöst.

Ja, Hochsensible denken anders, weil sie mehr Reize aufnehmen. (118) "Bewusst arbeiten" (138) klingt recht allgemein und auch die Fragen "Wo bin ich? Und wo will ich hin?" (139) kann man sich unabhängig von der psychischen Befindlichkeit stellen. Zu guter Letzt soll man "Spiritualität leben" (155), weil die tiefe Sehnsucht, die viele von uns spüren, in zwischenmenschlichen Kontakten nicht auf Dauer befriedigt werden kann.

Vieles von dem, was der Autor schreibt, ist sicherlich richtig. Seine Ausführungen, insbesondere seine Lösungen sind recht allgemein gehalten und passen so auch in viele sonstige Psycho-Ratgeber. Das Buch enthält zahlreiche Wiederholungen. Die Beschreibung des Phänomens einschließlich Abgrenzung und Wechselwirkung zu psychischen Erkrankungen kommt m.E. zu kurz. Es mangelt dem Buch an Tiefe.

4 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.06.2016
Das Orangenmädchen
Gaarder, Jostein

Das Orangenmädchen


ausgezeichnet

Eine Hommage an das Leben

Jostein Gaarder begibt sich auf eine Gratwanderung zwischen Liebe und Trauer, Lebensfreude und Verzweiflung und spannender Erzählung und tiefsinniger Fragestellung. Es besteht kein Zweifel daran, dass Gaarder diesen Themen gewachsen ist. Die Geschichte macht neugierig, ist lesenswert und wirkt nicht aufgesetzt.

Der 15-jährige Georg wohnt mit seiner Schwester, seiner Mutter und seinem Stiefvater in Oslo. Sein Vater Jan Olav ist vor 11 Jahren gestorben. Eines Tages taucht ein Brief auf, den Jan Olav kurz vor seinem Tode an seinen Sohn Georg geschrieben hat. Der Brief war über viele Jahre gut versteckt und wurde zufällig beim Aufräumen entdeckt. Von diesem Brief handelt der Roman.

Das Hubble-Teleskop, welches an mehreren Stellen des Romans erwähnt wird, steht für die unendliche Entfernung zwischen Leben und Tod, aber auch für die tiefe Verbundenheit und geistige Nähe zwischen Georg und seinem Vater. Georg setzt sich mit seinem persönlichen Rätsel auseinander und sein Vater erhält posthum eine Antwort auf seine drängende Frage.

Autor Gaarder schreibt tiefsinnig und originell. Er beweist mit diesem Roman, dass er mit sensiblen Themen umgehen kann. Der Roman ist eine Hommage an das Leben. Es entsteht der Eindruck, dass Gaarder hier ein persönliches Buch geschrieben hat.

Bewertung vom 04.06.2016
Superkids
Schulte-Markwort, Michael

Superkids


sehr gut

Kinder im Optimierungskarussell

"Ich möchte aufzeigen, dass Bemühungen und Fürsorge um Kinder nicht im Optimierungswahn enden müssen, auch wenn es bisweilen ausweglos erscheint, sich den wahnhaften Bestrebungen zu widersetzen." (89)

Damit beschreibt Michael Schulte-Markwort, Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie mit langjähriger Berufserfahrung, treffend den Spagat zwischen Fürsorge und Kontrolle, zwischen Forderung und Förderung, zwischen unbeschwerter Kindheit und realen gesellschaftlichen Lebensbedingungen.

Es geht nicht darum, aus dem Karussell auszusteigen, sondern eher darum, das Tempo zu regulieren. Der Autor beschreibt, wie Familien Einfluss nehmen können auf die Steuerung des Karussells. Zu diesem Zweck untersucht er die Situation der Kinder und der Eltern, beschreibt die familiäre Wirklichkeit und die gesellschaftlichen Zwänge, um im letzten Hauptkapitel das Handwerkszeug für den eigenen Weg vorzustellen.

Schulte-Markwort stellt zahlreiche Fallbeispiele vor. Dadurch werden die Ausführungen lebendiger und greifbarer. Denn viele Begriffe sind relativ und in abstrakten Beschreibungen nur schwer zu deuten. Was für den einen Forderung ist, ist für den anderen Überforderung, was für den einen Fürsorge ist, ist für den anderen Kontrolle. Die Beispiele tragen dazu bei, einen gesunden Mittelweg zu finden.

Auffallend sind die überwiegenden Fälle aus Akademikerfamilien, in denen die Hauptsorge zu sein scheint, die Kinder zum Abitur zu führen. Was ist mit Arbeiterfamilien, was mit Hauptschülern, Förderschülern, Realschülern? Haben die keine Probleme oder sind die Eltern weniger ehrgeizig oder sind die sowieso schon durchs Raster gefallen? Das Thema kommt zu kurz. Der Autor blendet Teile der gesellschaftlichen Realität aus oder wird mit Teilen der gesellschaftlichen Realität beruflich nicht konfrontiert.

Schulte-Markwort kritisiert die gute alte Zeit, dargestellt am Beispiel Bullerbü (248), und relativiert die Smartphone-Abhängigkeit als Randerscheinung (104). Es bedarf der genauen Analyse, ob die Gefahr durch die Beatles-Manie vergleichbar ist mit der heutigen Gefahr durch die Cybertechnik. So ist (nicht nur) Hirnforscher Manfred Spitzer davon überzeugt, dass die heutige Jugend zunehmend unter Empathieverlust leidet. Man muss nicht die Meinung von Spitzer vertreten, sollte argumentativ dann aber mehr zu bieten haben als den Vergleich mit den Beatles oder den alten Griechen.

Die kritischen Anmerkungen sollen nicht den Eindruck entstehen lassen, dass Schulte-Markwort polarisiert. Er argumentiert ausgewogen unter Hinzunahme verschiedener Perspektiven und findet, belegt anhand zahlreicher Fallbeschreibungen, Lösungen, mit denen alle Beteiligten leben können. Insbesondere analysiert er die Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten und entwickelt angemessene Gegenmaßnahmen.

"Wenn dieses Buch Ihnen neue Perspektiven vermitteln kann, Denk- und Erlebnisstrukturen ermöglicht, mit denen Sie Ihre Situation zu Hause anders verstehen und angehen können, ist alles gewonnen, was mir am Herzen liegt." (21) Dem ist nichts hinzuzufügen.

Bewertung vom 03.06.2016
Hoffnung Mensch
Schmidt-Salomon, Michael

Hoffnung Mensch


ausgezeichnet

Ein reifes Werk eines bekannten Aufklärers

"Denn so seltsam es auch klingen mag: Von seiner Veranlagung her ist der Mensch das mitfühlendste, klügste, phantasiebegabteste, humorvollste Tier auf dem gesamten Planeten." (8)

Gegen die Ungerechtigkeit der Welt manifestierte sich im Laufe der Menschheitsgeschichte die Religion. Kern aller Religionen ist der Glaube an ein (gerechtes) Jenseits. Michael Schmidt-Salomon, bekannt dafür, den Menschen (supranaturalistische) Illusionen zu rauben, legt mit "Hoffnung Mensch" ein Werk vor, welches auf dem evolutionären Humanismus gründet und unabhängig von jeglichen Gottesbildern von dem Glauben getragen wird, dass sich die Menschheit positiv weiterentwickeln wird.

Auf acht Kapitel verteilt schlägt Schmidt-Salomon einen weiten Bogen durch die Menschheitsgeschichte und analysiert die Rolle und die Entwicklung des Menschen aus verschiedenen Perspektiven. Dabei glänzt er mit einem fundierten Wissen über naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Zusammenhänge, die in dieser komprimierten und auch anschaulichen Form auf dem Büchermarkt ihresgleichen suchen.

"Während traditionelle Weltanschauungen nur solche empirischen Befunde gelten ließen, die den jeweiligen Vorstellungen entsprachen, lässt der evolutionäre Humanismus nur solche Vorstellungen gelten, die empirischen Befunden entsprechen." (94) Nach traditionellen Vorstellungen handelt es sich bei empirischer Forschung und religiöser Weltanschauung um zwei getrennte Gebiete. Der evolutionäre Humanismus setzt dagegen auf die Einheit des Wissens.

Ob Mendel sorgfältig gearbeitet hat, wie der Autor schreibt (131), oder im Sinne seiner eigenen Theorie gemogelt hat, dürfte hier unerheblich sein. Die Ausführungen zu emergenten Phänomenen sind lesenswert, auch wenn Schmidt-Salomon – wie andere Autoren auch – nur den Rahmen abstecken kann, innerhalb dessen Bewusstsein erklärt werden muss. Was Bewusstsein im eigentlichen Sinne ist, liegt außerhalb unserer Erkenntnisfähigkeit.

Spannend wird es, wenn Schmidt-Salomon menschliche Eigenschaften bei Schimpansen und Bonobos beschreibt, einen Zusammenhang zwischen Schönheit und sexueller Auslese herstellt und die Entwicklung der Empathie und der Ethik aus dem Blickwinkel der Evolution erläutert. Dummerweise sind Empathie und Grausamkeit unheilvoll miteinander verknüpft. Dennoch sind in der kulturellen Entwicklung positive Akzente zu finden bis hin zur Forderung nach Grundrechten für Menschenaffen.

In seinem Resümee in den Kapiteln 7 und 8 beschreibt Schmidt-Salomon Krisen der Menschheit und Wege zu deren Beseitigung. Entgegen Huntingtons pessimistischem Ansatz in "Kampf der Kulturen" definiert Schmidt-Salomon personale Identitäten nicht nur über Rasse und Religion, sondern über eine Vielzahl von Kriterien, die erstgenannte Kriterien in den Hintergrund treten lassen. Auf diese Weise erhöhen sich die Gemeinsamkeiten unabhängig von Rasse und Religion. Zudem sind kulturelle Traditionen inhomogen und wandlungsfähig.

Ob es im Lager der religiös denkenden Menschen eine "bedeutsame Kurskorrektur" gegeben hat, vermag ich zu bezweifeln und auch die "humanistische Weltperspektive" erscheint mir im Hinblick auf die derzeitige reale Situation auf der Erde noch in weiter Ferne. (303) Vielleicht muss der zeitliche Rahmen erweitert werden, um zu solchen Ergebnissen zu gelangen. Der Sinn des Lebens ist subjektiv, ob es daneben noch einen objektiven Sinn gibt, kann niemand beantworten.

Schmidt-Salomon vermittelt Hoffnung in einem Maße, wie es der Rahmen des evolutionären Humanismus zulässt. Religionen mit einer jenseitigen Hoffnung werden dadurch nicht außer Kraft gesetzt. Sie werden infrage gestellt, aber in einer Welt voller Ungerechtigkeiten auf unbestimmte Zeit als Glaubensmodelle bestehen bleiben. In der Summe handelt es sich um ein aufklärendes und im Kern positives Buch.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.06.2016
Catfish
Brüggemeyer, Maik

Catfish


sehr gut

Like A Rolling Stone

Catfish ist ein Roman über Bob Dylan, bestehend aus realen und fiktionalen Anteilen. Autor Maik Brüggemeyer, Protagonist und Dylan-Kenner, stellt darin provokativ die Frage: "Was können wir von Bob Dylan lernen?" Nahe liegender ist die Frage: "Wer ist Bob Dylan?"

"Schon als pausbäckiger Mittelklassejunge hatte er sich als weitgereister Landstreicher inszeniert und die Weisheit eines Greisen in seine Stimme gelegt. Als man ihn als Protestsänger feierte, gab er den Beatnik und Hedonisten, als die Öffentlichkeit ihn als diesen erkannte, hatte er sich selbst bereits in Bibelstudien und das amerikanische Folkerbe versenkt. Er war immer einen Schritt voraus, und nur er kannte den Weg." (46)

Es ist nicht einfach Bob Dylan, einen der bedeutendsten Songwriter der Neuzeit, zu kategorisieren. In seinen Interviews ist er widersprüchlich, als Mensch bleibt er unscharf, verborgen hinter tiefgründigen Texten zu seiner Musik.

"Nein. Das klingt jetzt bescheuert, aber ich suche den, der er in seinen Songs ist und in seinen Inszenierungen – in Interviews und in den Geschichten, die man sich über ihn erzählt. Nenn es meinetwegen die Kunstfigur oder den Mythos." (61)

In diesem Sinne ist der Roman vergleichbar einem Spiegellabyrinth mit unterschiedlichen Projektionen. Ist Dylan eine Kunstfigur, die das Leben selbst als Kunstform ansieht?

Dylan steht für Wandlung, er erfindet sich ständig neu. "Er spielte diese Lieder nicht, er spielte mit Ihnen." (151) "Er spielt Hütchen mit unseren Köpfen. Na, unter welchem Hütchen liegt die Poesie? Wo versteckt sich die Bedeutung?" (180)

"Es gab keine Dylan'sche Ethik, kein politisches Programm, keine nachvollziehbare Haltung. Er hielt einem immer wieder den Spiegel vor, wenn man versuchte, ihn zu deuten, und so wurde man schließlich in seinen Bemühungen immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen." (208)

Das Buch ist eher für Leser geeignet, die Dylan kennen oder genauer gesagt, die glauben ihn zu kennen. Der Weg zu Dylan erfolgt über die Kunstfiguren im Buch und über seine Musik, die einfache und tief gehende Interpretationen zulässt. Wer erstmals von Dylan hört, sollte mit einer herkömmlichen Biografie beginnen. Catfish ist voller Anspielungen, die nur verstehen kann, wer sich mit Dylan beschäftigt hat.

"Ich habe keine Ahnung, wer er ist, und ich weiß nicht, was er tut. Aber es macht Spaß, ihm zuzusehen." (184)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.06.2016
Das Geheimnis der Intuition
Becker, Jan

Das Geheimnis der Intuition


weniger gut

Der Wundermacher

"Ich wollte Wunder machen", erinnert sich Jan Becker an seine Kindheit und findet damit gleich den Einstieg ins Thema. (17) Denn dieser Wunsch hat sich fest in sein Unbewusstes eingebrannt und seine Intuition beflügelt, einen Weg zur Realisierung zu finden. Der umstrittene österreichische Hellseher Hanussen hat ihn beeinflusst. (206)

Wie mächtig das Unbewusste ist, hat Ap Dijksterhuis [1] wissenschaftlich untersucht: "Die Verarbeitungskapazität des Bewusstseins bildet nur einen Bruchteil der gesamten Verarbeitungskapazität unseres Geistes. Unbewusst können wir ungefähr 200.000-mal soviel verarbeiten wie bewusst." Intuitiv treffen wir richtige Entscheidungen, weil diese auf unbewussten Erfahrungen beruhen.

Die einschränkenden Wahrnehmungsfilter unseres Bewusstseins können bewirken, dass uns Phänomene als übernatürlich erscheinen, für die es natürliche Erklärungen gibt. Subjektive Erfahrungen können sehr überzeugend sein, im Extremfall begründen sie eine Religion. Sie sind aber weder reproduzierbar noch falsifizierbar.

Die Naturwissenschaften beruhen (nur) auf Vermutungen und können prinzipiell widerlegt werden, aber die Ergebnisse sind reproduzierbar. Damit bilden sie das erklärungsmächtigste Denksystem, welches uns zur Verfügung steht und sie können helfen, Phänomene aufzuklären.

Becker beschäftigt sich mit Parapsychologie (Telepathie, Wahrsagen etc.) und geht damit über den Bereich hinaus, der unter dem Stichwort Intuition subsumiert werden kann, denn Intuition setzt voraus, dass eine zumindest unbewusste Wahrnehmung erfolgt ist.

Aus dem Blickwinkel der Naturwissenschaften gilt die Hypothese von Lambeck [2]: "Kein Mensch kann allein durch Denken (mental) Wirkungen außerhalb des eigenen Körpers hervorbringen oder Informationen aus der Umwelt aufnehmen." Bislang wurde diese Hypothese nicht falsifiziert.

Phänomene außerhalb der derzeitigen Modelle der Physik sind nicht unmöglich, aber unwahrscheinlich. Zum Nachweis reichen keinesfalls subjektive Erfahrungen aus. Der Glaube an Übernatürliches kann aufgrund selektiver Wahrnehmung dazu führen, dass man eine gesunde Skepsis über Bord wirft und leichtgläubig wird.

Becker ist Hypnosetrainer und Unterhaltungskünstler. Ich bezweifele nicht, das er auf diesen Gebieten erfolgreich ist. Wenn er, wie einst Uri Geller, nach außen vertritt, dass er nicht mit Tricks arbeitet (158), ruft er Skeptiker auf den Plan. Mit Uri Geller hatte sich bereits vor 30 Jahren der Wissenschaftsjournalist Martin Gardner [3] ausführlich beschäftigt.

Becker macht eine unterhaltsame Show und das ist auch gut so. Sein Buch ist eine Mischung aus Parapsychologie, Schamanismus, Psychologie, Esoterik, NLP, positivem Denken und Magie. Leser werden eher verwirrt als aufgeklärt. Er generiert eine Erwartungshaltung, die nicht erfüllbar ist. Genau genommen hat er das Thema seines Buches verfehlt. Wenn jeder Gedanken lesen kann (73), muss ich wohl die Ausnahme sein. Dabei hat er meine Zustimmung, wenn er schreibt: "Denn das Leben ... passiert genau jetzt." (55)

[1] "Das kluge Unbewusste" von Ap Dijksterhuis
[2] "Irrt die Physik?" von Martin Lambeck
[3] "Kabarett der Täuschungen" von Martin Gardner

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.06.2016
Der Circle
Eggers, Dave

Der Circle


weniger gut

Die Büchse der Pandora

"Du sitzt mit drei Menschen an einem Tisch, die dich alle anschauen und versuchen, mit dir zu reden, und du starrst auf ein Display und suchst nach wildfremden Leuten in Dubai." (298)

Das sind Erfahrungen, die in der heutigen Zeit jeder macht. Internet, soziale Netzwerke, Blogs, Online-Chat, Twitter, Foren, E-Mails, Webcams und Onlinegeschäfte bestimmen den Alltag. Wie wäre es, wenn diese Dienste aller zusammengeführt werden, jeder eine eindeutige Identität erhält und die Anonymität aufgehoben wird? Mittels weltweit verteilter Kameras kann aufgrund der biometrischen Merkmale jeder Mensch jederzeit und überall ausfindig gemacht werden. Sämtliche Datenbanken stehen zur Verfügung.

Das ist eine Vision, die Dave Eggers in seinem Roman "Der Circle" beschreibt. Der Internetkonzern Circle vereinigt die wichtigsten Onlinedienste und ist mächtiger als jeder Staat. Protagonistin Mae bearbeitet Kundenanfragen beim Circle, für sie handelt es sich um einen Traumjob. Sie wird im Zuge ihrer beruflichen Entwicklung zur transparenten Persönlichkeit und damit zur Werbeikone des Konzerns.

Eggers macht in diesem Roman deutlich, was es heißt, die Privatsphäre aufzugeben. Protagonistin Mae, farblos und naiv, passt in diese Rolle. Ihr fehlt jegliche Distanz zu ihrer Tätigkeit und den Machenschaften des Konzerns. Dieser erinnert hinsichtlich seiner Arbeitsbedingungen und sozialen Aktivitäten stark an Google, so wie Gerald Reischl ihn in "Die Google Falle" beschreibt. Die Auswertemöglichkeiten gehen über das hinaus, was Stephan Baker realistisch in "Die Numerati" ausführt.

Aber der Circle ist umfassender. Reischl und Baker beschreiben Facetten aus der Welt der Möglichkeiten, die in dem vorliegenden Roman perfektioniert werden. Leider ist die Realität nicht weit von diesem Überwachungsstaat entfernt. Nach Orwell und Huxley hat Eggers einen Zukunftsroman geschrieben, der im Hinblick darauf, was NSA und andere Geheimdienste heute treiben, in Teilbereichen bereits Realität ist. Erstaunlicherweise werden heute auch intime Daten von vielen Menschen freiwillig veröffentlicht.

Der Roman ist nicht so düster wie "1984" und besitzt auch nicht die Tiefe von "Schöne neue Welt". Er ist eher eintönig und vorhersehbar. Dennoch handelt es sich um ein wichtiges Thema, welches in die Medien gehört, denn die Büchse der Pandora ist geöffnet.