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Raumzeitreisender
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 758 Bewertungen
Bewertung vom 08.06.2016
China in Gefahr
Engdahl, William

China in Gefahr


sehr gut

Die Strategien der Mächtigen

China hat in den letzten Jahrzehnten aufgeholt und steht heute wirtschaftlich gesehen weltweit an zweiter Stelle. Die USA, die sich unter Nixon Anfang der 1970er Jahre gegenüber China geöffnet haben, verändern seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre ihre Taktik. China wurde zunächst als Antagonist gegenüber der Sowjetunion aufgebaut und wird nach Zusammenbruch dieser nunmehr mit allen Mitteln wirtschaftlich und politisch bekämpft.

F. William Engdahl beleuchtet den Wandel im Verhältnis zwischen China und den USA. Das Ungewohnte gegenüber den Mainstream-Medien ist dabei seine positive Sicht auf China. Täter- und Opferrolle sind bei Engdahl klar zugeordnet. Es geht um die Verteidigung von Machtinteressen. „Dabei sind Sentimentalitäten oder Tagträumerei nicht gefragt“, zitiert der Autor zu Beginn seines Buches einen Mitarbeiter des US-Außenministeriums. Jedoch muss man sich als unbedarfter Leser fragen, ob es sich dabei nicht um eine systemimmanente Maxime aller wirtschaftlich, politisch oder militärisch Mächtigen dieser Welt handelt. Eine Einteilung in Gut und Böse ist ein menschliches Konstrukt, subjektiv gefärbt und wird der Wirklichkeit nicht gerecht.

Die Beispiele, die Engdahl vorstellt, sind haarsträubend. Der Kampf findet auf verschiedenen Ebenen statt. Es geht um Währungsmanipulationen, Kontrolle über das Öl, Nahrungskriege, Medienkriege, Handelskriege sowie um Gesundheit und Umwelt. Dabei bestehen keine Zweifel, dass auf allen diesen Gebieten ein Krieg zwischen den Mächtigen tobt. Jedoch geht es zu weit, bei Themen wie Fast Food, Impfung, Gentechnologie oder Fracking zu unterstellen, dass diese Mittel nur eingesetzt werden, um den Chinesen unmittelbar gesundheitlich zu schaden. Letztlich setzen die USA diese Mittel auch im eigenen Land ein.

Am Ende des Buches beschreibt Engdahl ein Szenario, welches für die USA wirklich gefährlich werden könnte, nämlich ein vereinigtes Eurasien. Diese Vision mag weit in der Zukunft liegen, dennoch sind in den letzten Jahrzehnten zwischen China und Westeuropa die Handelsbeziehungen extrem gewachsen. Gegen eine weitere Annäherung sprechen aus heutiger Sicht die großen politischen und kulturellen Unterschiede. Deutschland und Europa sind (auch historisch gesehen) enger mit den USA verwandt als mit Asien.

F. William Engdahl hat für sein Buch umfassend recherchiert, wenngleich seine Ausführungen nicht ausgewogen sind. Das trifft aber auch auf unsere Mainstream-Medien zu. Insofern eröffnet Engdahl den Lesern eine neue Perspektive und schafft ein Gegengewicht. Es liegt in der Verantwortung der Leser, sich vielschichtig zu informieren und sich eine eigene Meinung zu bilden.

Bewertung vom 07.06.2016
Berühmte Whiskys

Berühmte Whiskys


sehr gut

Die Welt der Whiskys

„Wie die Menschen, so ist auch jeder Whisky einzigartig – jeder hat seine eigene Persönlichkeit.“ (6)

Der schottische Autor Charles MacLean gilt als Whisky- Kenner und schreibt seit mehreren Jahrzehnten Bücher über Whisky- Sorten. „Berühmte Whiskys“ ist eine Art Lexikon. Es enthält in alphabetischer Reihenfolge über 500 Whiskys.

Pro Seite beschreibt MacLean einen Whisky. Die zugehörigen Flaschen sind abgebildet. Auf den letzten Seiten folgen kurze Übersichten, geordnet nach Sorten und Herkunft. Damit ist das Buch wohl strukturiert und für die gezielte Suche einfach indiziert.

Der Geschmack ist detailliert beschrieben, die Angaben zur Herstellung könnten umfassender sein. Auch hätte ich mir ein allgemeines Einführungskapitel über die Geschichte und die Herstellung von Whisky gewünscht.

Meinen Favoriten Glenfarclas, einen schottischen Single Malt, habe ich in dem Buch wiedergefunden. Das Buch ersetzt nicht den Whisky im Glas, kann den Genießer aber begleitend informieren – ein gelungenes Porträt.

Bewertung vom 07.06.2016
Auf der Suche nach Schrödingers Katze (eBook, ePUB)
Gribbin, John

Auf der Suche nach Schrödingers Katze (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Quantenphysik und Wirklichkeit

Die Welt der Quantenmechanik ist so merkwürdig, dass Albert Einstein, einer der Wegbereiter dieser Theorie, sich Zeit seines Lebens weigerte, sämtliche Implikationen der Theorie als gültige Beschreibung der realen Welt anzuerkennen. Die u.a. von Heisenberg und Schrödinger ausformulierte und logisch begründete Quantenmechanik hat im Laufe der Jahrzehnte zahlreiche Falsifikationsversuche unbeschadet überstanden. Viele praktische Anwendungen (Computertechnologie, Gentechnologie, Laser u.a.m.) beruhen auf den Grundlagen der Quantenphysik. Was ist das besondere an dieser physikalischen Theorie?

Die Objekte, deren Verhalten untersucht wird, entziehen sich einer exakten Beschreibung. Sie sind so klein, dass sie durch den Vorgang der Beobachtung beeinflusst werden. Es gibt, wie Heisenberg es zum Ausdruck gebracht hat, so etwas wie ein Elektron, das sowohl einen präzisen Impuls als auch einen präzisen Ort besitzt, überhaupt nicht. Es existiert eine große Diskrepanz zwischen der ingenieurtechnischen Anwendung und der Deutung der Quantentheorie in philosophischer Hinsicht. Sie funktioniert, auch wenn wir sie nicht wirklich verstehen. Wir verstehen sie nicht wirklich, weil sie den Gesetzen der klassischen Physik widerspricht.

John Gribbin, englischer Physiker und Publizist, erläutert ausführlich die Entwicklungsgeschichte der Physik von Newtons Bewegungsgesetzen bis zur Viele-Welten-Theorie. Es handelt sich zwar um ein populärwissenschaftliches Buch, aber auch da gilt: Interesse an und Wissen über Grundlagen der Physik und Chemie sollten vorhanden sein, will man vom Inhalt des Buches profitieren. Der Fokus liegt auf der Darstellung der historischen Entwicklung der Physik. Gribbin verzichtet weitgehend auf Formeln.

Gibt es etwas zu kritisieren? Die Verbindung zwischen Quantenphysik und Gentechnologie hätte deutlicher beschrieben werden können. Hier überwiegt – wie auch insgesamt im Buch – die historische Darstellung. Bei der Erläuterung des Doppelspaltexperiments stützt sich Gribbin wesentlich auf Feynman. Hierzu empfehle ich, direkt bei Feynman in „Vom Wesen physikalischer Gesetze“ nachzulesen. Aber dies sind nur Randnotizen, die den Wert des Buches nicht mindern. Gribbin hat große Qualitäten, wenn es darum geht, komplizierte Sachverhalte für ein breites Publikum verständlich aufzubereiten. Das hat er in anderen Werken schon hinreichend bewiesen. Das Buch kann ich sehr empfehlen.

Bewertung vom 06.06.2016
Ach so!
Yogeshwar, Ranga

Ach so!


schlecht

Rätsel aus dem Alltag – aufbereitet für Kinder !

Ranga Yogeshwar, bekannter Fernsehmoderator und Wissenschaftsjournalist, untersucht in „Ach so!“ neunundneunzig Rätsel des Alltags. Er bereitet die Problemstellungen aus Physik und anderen Wissenschaftsgebieten auf jeweils zwei bis drei Seiten auf. Gesellschaftskritische Fragen wie „Wohin führt die digitale Durchsichtigkeit?“ oder „Warum sind Computerspiele so gefährlich anziehend?“ runden die Themenpalette ab.

Autor Yogeshwar nähert sich den Themen humorvoll. Dies wird an Aussprüchen wie „Auch beim Knödel gelten die klassischen Gesetze der Physik!“, „Vermutlich war die Geburt unseres Universums auch kein 'Urknall' - nicht einmal ein 'Plopp'“, oder „Wandernde Teppiche kann man physikalisch erklären, doch beim fliegenden Teppich muss ich passen!“, deutlich. Er berichtet über einige Experimente und Selbstversuche, die er durchgeführt hat, z.B. hat er die Auswirkungen des Tiefenrausches in einer Spezialdruckkammer erfahren und sich an einem Experiment zum Schlafentzug beteiligt.

Das Buch ist verständlich und unterhaltsam. Wenn man als Zielgruppe Kinder ins Auge gefasst hat, ist auch der Inhalt hinreichend. Erwachsene sollten vorab in das Buch hineinschauen und prüfen, ob es ihren Erwartungen entspricht. Der starre Rahmen von zwei bis drei Seiten pro Thema mag für Fragen wie „Was passiert beim Popcorn?“ hinreichend sein. Eine Analyse des Zufalls (Kapitel Nr. 84) wird unter diesen Voraussetzungen abgewürgt, bevor sie recht in Gang kommt.

Es gibt auf dem Markt wesentlich qualifiziertere populärwissenschaftliche Bücher als „Ach so“, die für Kinder UND Erwachsene geeignet sind. Hierzu gehören z.B. (aus jüngerer Zeit) Bücher aus der Reihe „Die Kinder-Uni“ sowie (aus früheren Zeiten) Bücher von Volker Arzt und Hoimar von Ditfurth (z.B. „Querschnitt“). Dieses Niveau vermisse ich in „Ach so!“, wenn ich es aus der Perspektive eines an populärwissenschaftlichen Fragen interessierten Erwachsenen betrachte.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.06.2016
Der Dialog
Bohm, David

Der Dialog


sehr gut

Grundlagen der offenen Kommunikation

David Bohm, Verfasser der „Impliziten Ordnung“, war Physiker und Philosoph. Er beschäftigte sich über viele Jahre mit dem Thema Kommunikation. Das von Lee Nichol herausgegebene Buch enthält Schriften aus dem Lebenswerk Bohms zum Thema „Dialogisches Weltbild“.

Bohm thematisiert den Dialog als eine Kommunikationsform, bei der es keine Sieger und Besiegte gibt, sondern vorurteilsfrei und emotionslos Gedanken ausgetauscht werden und dadurch neue Ideen entstehen. Diese Form des Dialogs wird in vielen Rhetorikschulungen vermittelt. Bohm hat durch eine tiefgehende Ursachenforschung hierfür eine theoretische Grundlage geschaffen. Er beleuchtet die Fragmentierung (Schaffung von Denkkategorien) als selbsterschaffene Ursache für gesellschaftliche Probleme, beschreibt die Rolle des kollektiven Denkens und bietet einen Erklärungsansatz für kulturelle Mythen.

Probleme zu erkennen und zu lösen sind zweierlei. Bohm war nicht nur Theoretiker, sondern hat seine Thesen auch in Seminaren getestet. Für die Grenzen der Anwendung liefert er selbst Beispiele. So ist nicht nur die Religion ein Thema, bei dem Grenzen der Dialogfähigkeit erkennbar werden, sondern gleiches gilt auch für die Wissenschaft (deutlich gemacht am Verhältnis zwischen Bohr und Einstein).

Wenngleich die theoretischen Grundlagen gut herausgearbeitet wurden, mangelt es an Rezepten, wie denn das offene Gespräch erreicht werden kann. Wir sind „Gefangene unserer Denkstrukturen“, macht David Bohm im Kapitel „Problem und Paradox“ deutlich und neigen dazu, uns immer tiefer in unsere Probleme zu verstricken. Da, wo es am ehesten erforderlich wäre (Religion, Politik, Wissenschaft), ist der „Dialog“ kaum umsetzbar. Wer an das offene Gespräch glaubt, benötigt eine gehörige Portion Idealismus.

Bewertung vom 06.06.2016
Dummheit
Pöppel, Ernst;Wagner, Beatrice

Dummheit


gut

Ich weiß, dass ich nicht(s) weiß

Ernst Pöppel und Beatrice Wagner liefern auf 245 Seiten, verteilt auf 8 wohl strukturierte Kapitel, Beispiele für die Dummheit der Menschen, um dann auf 70 Seiten (1 Kapitel) die Hintergründe aus Sicht der Hirnforschung zu beleuchten. Es wäre im Interesse der Leser gewesen, dieses Verhältnis umzukehren. Oder wollen die Autoren, im Interesse ihrer eigenen Hypothesen, die Leser schützen? Denn auch die Wissenschaft ist, wie die Autoren ab Seite 202 thematisieren, „kein Hort der Weisen“. Dummheit lässt sich, manchmal in Form von Borniertheit, auch in der Wissenschaft nachweisen.

Die Autoren schlachten eine Vielzahl aktueller Themen aus und haben damit die Nase im Wind. Hierzu zählen PISA, Medien, Börsenhandel, Politik, Großprojekte, Smartphone und Facebook, um nur Beispiele zu benennen. Die Präsentation erfolgt in mundgerechten, manchmal Gegensätze betonenden Happen („Schnelligkeit macht dumm“, „Die Ware Freundschaft – oder wahre Freundschaft?“). Damit liefern sie (nebenbei) Stoff, den Comedians und Kabarettisten zu nutzen wissen. Müssen die Thesen der Autoren ernst genommen werden? Ist Dummheit nicht zu vermeiden?

Dummheit gehört zu unserem biologischem Erbe, so die Autoren. Der Mensch sei, so die provokante These, eine peinliche Fehlkonstruktion. Jedenfalls liefern Religion und Philosophie keine zufriedenstellenden Antworten, wie die Autoren an ausgewählten religiösen und philosophischen Textstellen pointiert untermauern. Aber Fehlkonstruktion impliziert einen Konstrukteur, dem Angesichts der beschriebenen Mängel wohl Versagen vorzuwerfen wäre. Wie stellt sich das Thema aus dem Blickwinkel der Evolution dar?

Hinsichtlich der Thematisierung von Dummheit liegt ein Fehlschluss der Autoren vor. Es geht in der Natur nicht um Dummheit bzw. Intelligenz, sondern um Überlebensfähigkeit. In diesem Sinne ist die „dumme“ Ameise viel erfolgreicher als manch hoch entwickelte Art. Jedoch gilt, und das können wir nicht bewusst steuern, wenn wir nicht genau so wären, wie wir heute sind, hätten wir nicht überlebt. Ich gebe den Autoren aber recht, dass die gleichen Eigenschaften bzw. Anpassungsleistungen, die zum heutigen Erfolg geführt haben, auch den Untergang einläuten können. Und das wird die dumme Ameise nicht stören.

Das Buch liefert einige Weisheiten über den Menschen, ohne den Anspruch zu erheben, diesen erklären zu können. Die Autoren suchen Zuflucht in der Literatur, die wesentliche Fragen auch nicht erklären, aber zumindest die Unwissenheit durch Weisheit ersetzen kann. „Dummheit“ ist ein Buch für Leser, die nicht wirklich tief in die Zusammenhänge einsteigen, sondern sich humorvoll unterhalten lassen wollen. Zur Vertiefung gibt es zahlreiche Werke. So ist z.B. auch heute noch „Der Geist fiel nicht vom Himmel“ von Hoimar von Ditfurth sehr zu empfehlen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.06.2016
Perfektionismus
Bonelli, Raphael M.

Perfektionismus


sehr gut

Facetten eines verbreiteten Phänomens moderner Gesellschaften

Viele psychische Krankheiten stehen in Zusammenhang mit dem Hang zum Perfekten. „Das Bessere ist der Feind des Guten“, sagt der Volksmund, dennoch besteht keine Einigkeit darüber, was genau Perfektionismus bedeutet. Der Perfektionist ist ein Kind der Leistungsgesellschaft und ein Merkmal des Perfektionismus ist ein krankhaft überzogenes Leistungsdenken.

Raphael M. Bonelli macht deutlich, dass Perfektionismus mit Angst verknüpft ist, und zwar mit der Angst vor der eigenen Fehlerhaftigkeit bzw. Unzulänglichkeit. Der Perfektionist erträgt es nicht, seine Ziele (das SOLL) nicht zu erreichen. Psychisch gesunde Menschen sind bereits zufrieden, wenn sie sich in Richtung SOLL bewegen. Den Perfektionisten zerreißt die SOLL-IST-Spannung.

Das Buch gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil beschreibt Bonelli das „Uhrwerk“ des Perfektionisten. Perfektionismus ist „die Pervertierung der Gewissenhaftigkeit“. (67) Bonelli erläutert die psychischen Zusammenhänge anhand eines einfachen Modells von "Kopf, Bauch und Herz". Dabei steht der Kopf für Vernunft, ist aber nicht die oberste Entscheidungsinstanz.

Bis heute gibt es keine einheitliche wissenschaftliche Definition für Perfektionismus, sondern stattdessen nur Konzepte, die Facetten des Phänomens herausstellen, die sogar scheinbar widersprüchlich sein können. (135) Auffallend ist ein ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Denken. In diesem Sinne führt ein kleiner Fehler zum totalen Versagen.

Im zweiten Teil zeigt Bonelli auf, wie sich der Hang zum Perfektionismus im modernen Umfeld auswirkt. Als Beispiele dienen Erwerbstätigkeit, Schlankheits-, Gesundheits- und Schönheitswahn, sowie Erziehung und Partnerschaft. Durch diese Bandbreite wird deutlich, dass Perfektionismus ein Massenphänomen ist und als Erklärungsmodell für viele Fehlentwicklungen herhalten kann.

Bonelli erläutert im dritten Teil die Rahmenbedingungen der Therapeuten und die Möglichkeiten Veränderungen herbeizuführen. „Die Angst muss in der Perfektionismus-Therapie erfassbar werden, … , intellektuell bearbeitbar sein.“ (281) „Der Patient muss lernen, die eigene Unvollkommenheit auszuhalten.“ (299) Imperfektionstoleranz nennt sich das therapeutische Prinzip.

Das Buch enthält zahlreiche Fallbeispiele aus beruflichem und privatem Umfeld, die den Lesern veranschaulichen, worum es geht. Das Phänomen Perfektionismus ist weit verbreitet. In manchen Fällen hätte mich interessiert, welche alternativen Erklärungen existieren. Das Buch ist verständlich, angenehm zu lesen und zu empfehlen.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.06.2016
Der Doppelgänger
Dostojewskij, Fjodor M.

Der Doppelgänger


gut

Zwischen Realität und Wahn

Die Novelle erschien erstmals 1846 und gehört zu den Frühwerken von Fjodor Dostojewski. Seine Vorliebe für menschliche Abgründe, wie er sie in „Schuld und Sühne“ perfektioniert hat, zeichnet sich in diesem Werk bereits ab. Dennoch ist „Der Doppelgänger“ weit entfernt von seinen genialen Hauptwerken.

Das Buch handelt von Jakow Petrowitsch Goljadkin, einem Titularrat an einer Petersburger Behörde und seiner psychischen Erkrankung. Bereits zu Beginn des ersten Kapitels deutet sich sein Realitätsverlust an, der sich durch das gesamte Buch zieht. „... ob er aufgewacht ist oder noch schläft, ob alles, was jetzt um ihn herum vorgeht, Wahrheit und Wirklichkeit ist oder eine Fortsetzung seiner wirren Träume.“ (7)

Es geht um verschmähte Liebe, um Verleumdung und um Probleme mit der Identität, alles drei Themen, die Stoff für große Romane liefern. Mit Identitätsproblemen haben sich in der Vergangenheit verschiedene Autoren beschäftigt, z.B. Leo Perutz in „Der schwedische Reiter“ und José Saramago in "Der Doppelgänger". Während es bei Perutz um real vertauschte Identitäten geht, ist es bei Saramago die psychische Zerrissenheit seines Protagonisten Afonso, die im Fokus steht.

Psychisch zerrissen ist auch Protagonist Goljadkin. Schwer verständlich aber vielleicht auch genial ist, dass dieser nicht wechselhaft mit unterschiedlicher Identität agiert, sondern „real“ als zwei Personen in Erscheinung tritt. Phasenweise ist für den Leser die Situation klar („Aber wie groß war das Erstaunen, als [um 8:00 Uhr morgens] nicht nur der Gast [Jakow Petrowitsch Goljadkin], sondern sogar auch das Bett, auf dem der Gast geschlafen hatte, aus dem Zimmer verschwunden war!“ (99)) und phasenweise ist das Thema einfach schwer verständlich umgesetzt worden.

Wer Dostojewski kennen lernen möchte, sollte „Die Brüder Karamasow“ oder „Schuld und Sühne“ lesen. „Der Doppelgänger“ ist m.E. eher was für diejenigen Leser, die sich im Rahmen literarischer Studien mit dem Lebenswerk Dostojewskis beschäftigen. Es ist ein Entwicklungsroman, der deutlich macht, dass die Beschreibung der menschliche Psyche zu Dostojewskis Stärken gehört.

Bewertung vom 05.06.2016
St. Petri-Schnee
Perutz, Leo

St. Petri-Schnee


ausgezeichnet

Zwischen Wahn und Wirklichkeit

In „Das sogenannte Übersinnliche“ (Essay „Der Weg nach Eleusis“) beschreibt Mathias Bröckers die Bedeutung bewusstseinserweiternder Stoffe auf die Entwicklung der Kultur von der Antike (Mysterium von Eleusis) bis in die Neuzeit (Timothy Learys LSD-Experimente). Bei den Substanzen, die in der Antike verwendet wurden, könnte es sich um Mutterkorn gehandelt haben. Mutterkorn ist ein Pilz, der auf Getreide wächst und halluzinogene Wirkstoffe, vergleichbar dem LSD, enthält. Dieser Pilz, so Bröckers These, ist Ursache für mystische Erfahrungen und damit physiologische Ursache der Religion.

Leo Perutz beschäftigt sich in seinem Roman „St. Petri-Schnee“, wie der Titel bereits andeutet, mit Mutterkorn und seinen halluzinogenen Wirkungen. Damit verarbeitete er bereits 1933 ein Thema, welches Bröckers sechs Jahrzehnte später in einem Sachbuch aufgegriffen hat. Perutz versteht es, dieses Thema geschickt auf mehreren Ebenen darzustellen, einmal unmittelbar in einem der parallelen Erzählstränge und einmal mittelbar als denkbare Erklärung, dafür, dass überhaupt zwei parallele Geschichten existieren. Diese Selbstbezüglichkeit ist genial.

Der Roman ist perfekt konstruiert, wie man es von Perutz gewohnt ist. Er enthält Visionen, Illusionen und politische Bezüge. Von den zwei Geschichten kann nur eine wahr sein. Für beide Varianten sprechen Indizien, die Perutz geschickt integriert hat. Die Perspektive ist die des Ich-Erzählers Georg Amberg. Protagonist Amberg sieht sich gezwungen, diese Widersprüche zu ertragen. Es gibt keine endgültige Antwort für ihn, aber das gilt auch für die Leser des Buches. Perutz ist ein hochkarätiger Meister der Erzählung. Der Roman lässt verschiedene Interpretationen zu und ist sehr zu empfehlen.