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Igelmanu
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Mülheim

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Insgesamt 1033 Bewertungen
Bewertung vom 05.02.2016
Ludwig, Stephan

Zorn - Wo kein Licht / Hauptkommissar Claudius Zorn Bd.3


ausgezeichnet

»Ein dünnes Wimmern, der Ruf eines zu Tode geängstigten Kindes. Wie lange er ihn warten lassen musste, würde sich bald herausstellen, ein paar Tage vielleicht. Er wusste, wann ein Mensch kurz davor ist, dem Wahnsinn zu verfallen, wann auf die Ungewissheit die Angst folgt, um der nackten Panik zu weichen. Und dann, wenn diese Panik den Verstand einfach wegwehen würde wie eine Frühlingsböe ein Papiertaschentuch, wenn aus einem vernunftbegabten Wesen ein willenloses Stück Fleisch geworden war, genau dann, in diesem Moment, würde er zu ihm gehen.«

Ein Mann wurde scheinbar in den Selbstmord getrieben, ein Richter wird vermisst und Schröder liegt nach einem Unfall im Krankenhaus – eine wirklich üble Situation für Hauptkommissar Claudius Zorn, auf dessen Schreibtisch sich nun die Arbeit stapelt. Zudem passieren in der ehedem ruhigen mitteldeutschen Stadt mittlerer Größe innerhalb weniger Tage weitere schwere Verbrechen und Zorn wird plötzlich eins klar: Alles gehört irgendwie zusammen…

Der dritte Fall für Zorn und Schröder ist bislang mein Favorit. Schon die ersten beiden Bände gefielen mir, aber dieser hier ließ für mich keinen Wunsch offen. Wie immer glänzt der Fall mit einerseits Spannung und andererseits wirklich gelungener Unterhaltung – Zorn und Schröder sei Dank! Ich liebe sie, alle beide, und die Dialoge zwischen ihnen sind einfach herrlich…
»Ich weiß genau, was du denkst! … Du glaubst, dass ich mir nichts merken kann, hältst mich für unfähig, als hätte ich das Erinnerungsvermögen einer Nesselqualle!« »Also das hast jetzt aber du gesagt, Chef! … Mit Nesselquallen kenne ich mich überhaupt nicht aus. Aber ich habe gelesen, dass Tintenfische sehr kluge Tiere sein sollen.«
Außerdem gibt es weitere Fortschritte zu vermelden, was die Qualität ihrer Freundschaft angeht. Nicht nur diese, sondern auch die einzelnen Charaktere entwickeln sich weiter und geben sehr interessante Einblicke in ihr Wesen und ihre Vergangenheit.

Trotz dieser unterhaltsamen Einlagen bleibt der Fall durchgehend spannend. Logikschwächen konnte ich keine entdecken, falsche Fährten gab’s auch – so mag ich das! Empfindsame Leser sollten sich nur darauf gefasst machen, dass einige Stellen reichlich brutal und eklig sind. Zum Ausgleich gibt es ja immer wieder was zu lachen, kann man sich über die enorme sprachliche Kreativität des Autors freuen. Da wird ein Schnarchen zum „Brunftschrei eines verschnupften Elchbullen“ und wenn Zorn gedanklich über seinen Nebenbuhler schimpft, tituliert er ihn mit Ausdrücken wie „Tofubratling“ oder „singendes Sojawürstchen“ (alle Vegetarier mögen ihm bitte verzeihen!)

Ein bisschen Anspruch darf auch noch sein. Der zeigt sich zum Beispiel in Schröders Umgang mit seinem dementen Vater. Und auch darüber hinaus gibt es mehrere Punkte, die mich beim Lesen betroffen oder wütend gemacht haben. Allein der Titel des Buchs ist schon so etwas von zutreffend – in mehr als einer Hinsicht!

Fazit: Große Klasse! Bitte mehr davon!

»Eine schlüssige Gedankenkette, Chef.« »Und ich bin von ganz allein darauf gekommen.« »Ich ebenfalls.« »Ach!« Schröder gestattete sich ein feines Lächeln. »Allerdings vor zwei Stunden.«

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Bewertung vom 29.01.2016
Oelemann, Christian

Isabellas Welt


ausgezeichnet

»Fast alles, was sie hörte, konnte sie in Noten festhalten. Wenn zum Beispiel jemand schimpfte, hörte sie kaum, worüber, weil sie auf die Sprechmelodie achtete und sie als Notenschrift auf ihrer inneren Leinwand sah. Herr Korngold etwa schimpfte meist im Fünfvierteltakt und vom tiefen A aus. Ihr kleiner Bruder Tristan quengelte im Dreivierteltakt, meist mit einem hohen Dis beginnend. Und wenn er – was er gerne machte – beim Essen rülpste, tat er es in einem satten Gis.«

Isabella hat eine besondere Begabung: Sie kann Töne sehen. Und da sie schon als kleines Mädchen ganz nebenbei Noten lernte, kann sie das Gehörte auch niederschreiben. Viele, viele Notenhefte füllt sie mit dem Gesang einer Amsel – allerdings tut sie dies heimlich, denn Isabella ist schon klar, dass sie anders ist als andere Menschen. In ihrer Familie hält man sie für die einzige Unmusikalische, weil sie keine Lust hat, ein Instrument zu spielen. So lebt Isabella ein Leben in ihrer eigenen Welt, bis sie eines Tages einen Luftballon mit einer Postkarte findet – von einem Jungen geschrieben, in dessen Leben Musik scheinbar eine ebenso große Rolle spielt wie in ihrem…

Als ich hörte, um was es in diesem Buch geht, war mir klar, dass ich es unbedingt lesen muss. Ich liebe Musikromane und ich liebe besondere Geschichten über besondere Menschen. Diese hier ist eine solche.
Isabella ist Synästhetikerin, nur ahnt sie vermutlich nicht einmal, dass es einen Namen für ihre Besonderheit gibt. Die Töne, die sie sieht, sind für sie Normalität, sie kennt es nicht anders. Für einen Nicht-Synästhetiker wie mich ist ihre Fähigkeit faszinierend, erscheint fast ein wenig magisch. Daher finde ich es sehr reizvoll, mithilfe eines Buchs in diese besondere Welt, in Isabellas Welt, hineinschnuppern zu können.

Isabellas Welt besteht aus Tönen und auch in diesem Buch dreht sich alles um Musik. Während die 10jährige Protagonistin Amselnoten schreibt und nach dem gleichgesinnten Jungen sucht, bereitet sich ihre Geige spielende Schwester auf einen Wettbewerb vor und ein 75jähriger Mann im Rollstuhl, seines Zeichens gefeierter Komponist, feilt an einem neuen Meisterwerk. Am Ende werden alle Fäden zusammenlaufen. Apropos… das Ende ist ein sehr glückliches Ende und vermutlich ein wenig realitätsfern. Aber Träumen muss schließlich auch mal erlaubt sein. Außerdem ist dies ein Jugendbuch, das ermutigen kann, mit der eigenen Besonderheit nicht zu hadern, sondern sie anzunehmen.

Leicht und lebendig geschrieben, ein Buch, das in einem Rutsch gelesen werden möchte. Der geringe Umfang macht das Buch auch für Leser attraktiv, die zum ersten Mal einen Musikroman „ausprobieren“ möchten. Der Stil spricht (als Jugendroman) natürlich junge Leser an, als erwachsener Leser kann man es aber genauso genießen. Und Lachen! Grund genug dazu gibt es, denn Lebensfreude springt einem aus allen Seiten entgegen. Und wenn dann noch der Klassenlehrer in C-Moll pupst… ;-) Farbenfrohe und ausdrucksstarke Illustrationen sind passend zu den Texten eingestreut und runden das Lesevergnügen ab.

Fazit: Wunderschön. Zum Staunen, Träumen und Lachen. Wer Musik mag, wird dieses Buch lieben.

Bewertung vom 29.01.2016
Grießer, Anne

Das Heilige Blut


sehr gut

»Erschrocken hatte sie am Morgen nach Heinrich Ottos Tod dem Leichnam Augen und Mund verschlossen, um den bösen Blick daran zu hindern, einen Lebenden nachzuholen, und um der entwichenen Seele die Rückkehr in den toten Körper zu verwehren.«

Dürn, im September 1391. Pfarrer Heinrich Otto ist alt und krank. Doch sich einfach dem Sterben ergeben kann er nicht, zu sehr lastet etwas auf seinem Gewissen, das er als große Sünde empfindet. Seiner Großnichte Fronika vertraut er sich an und fortan trägt sie die Verantwortung für das, was später als das Blutwunder von Walldürn bekannt werden sollte. Eine Verantwortung, die sie nie wollte, mit der sie nicht umzugehen weiß und die sie in große Gefahr bringen wird…

Eine gleichzeitig fesselnde und unterhaltsame Geschichte wird hier erzählt. Fronika ist ein ganz gewöhnliches junges Mädchen, eine Küchenmagd ohne Bildung und ohne nennenswerte Zukunftsperspektiven. Das bisschen Sicherheit, das sie hat, wird ihr noch genommen, als sie zu Unrecht des Diebstahls bezichtigt wird. Die Flucht zu ihrem Onkel, dem Pfarrer Heinrich Otto, wird sie vom sprichwörtlichen Regen in die Traufe bringen. Dieses Grundthema – junge Frau im Mittelalter steht unschuldig vor lebensbedrohlichen Problemen – ist nicht neu, hier aber wirklich lesenswert umgesetzt.

Besonders gefiel mir, wie der damals existierende Volksglaube dargestellt wird. Dieses Nebeneinander von christlichem Glauben, enormer Frömmigkeit und mindestens genauso großem Aberglauben finde ich immer wieder faszinierend! Natürlich kann man dieses Phänomen aus heutiger Sicht erklären, das macht es aber nicht weniger interessant. Eindringlich wird gezeigt, wie manche diesen naiven Glauben, diese Unbildung der einfachen Menschen, für ihre Zwecke ausnutzten. Was kann man glauben? Wem darf man vertrauen? Zwei Fragen, die damals wie heute von enormer Wichtigkeit waren und sind. Die Spannung in der Geschichte, die sich hier entwickelt, wird zudem noch verstärkt durch gut eingesetzte Krimielemente. Ein paar andere Dinge in der Handlung (wie zum Beispiel die Liebesgeschichte) sind recht vorhersehbar, daher auch nur 4 Sternchen und nicht 5 ;-)

Fazit: Eine hochinteressante Reise in eine Zeit voller Glauben und Aberglauben.

Das Nachwort ergänzt historische Fakten und Legenden über den Ort der Handlung und zeigt auf, wie sich die Geschichte des Buchs entwickelte. Der Legende nach ereignete sich im Jahr 1330 in der kleinen Ortschaft Walldürn in Baden-Württemberg das Blutwunder von Walldürn. Damals verschüttete Pfarrer Heinrich Otto nach der Wandlung aus Unachtsamkeit das Blut Christi über ein Altartuch, woraufhin auf dem Tuch das Bild des Gekreuzigten entstand. Dem Tuch werden Heilkräfte zugesprochen und seit dem 15. Jahrhundert bis zum heutigen Tag pilgern Gläubige nach Walldürn, um das Tuch zu bewundern.

Bewertung vom 15.01.2016
Ludwig, Stephan

Zorn - Vom Lieben und Sterben / Hauptkommissar Claudius Zorn Bd.2


sehr gut

»niemand von euch kann begreifen, was noch geschehen wird, es gibt keinen unter euch, der dazu auch nur annähernd fähig wäre – ihr wisst nicht, wozu ich imstande bin – woher auch? nehmt euch vor mir in acht und wagt es ja nicht, mir im weg zu stehen – ich komme aus einer anderen dimension – ich lebe in der hölle – ab und zu steige ich herauf und zeige euch, wie meine welt beschaffen ist…«

Nach der ersten Mordserie, die Zorn und Schröder in Band 1 beendet haben, ist es in ihrer früher so ruhigen Stadt nicht lange ruhig geblieben. Noch haben die beiden Gelegenheit, sich um pöbelnde Teenager zu kümmern, die den Marktplatz vollmüllen. Doch schon bald werden sie vor einem Jugendlichen stehen, der brutal ermordet wurde. Und dieser tote Junge wird nicht der letzte bleiben…

Eine Handlung wie aus einem Horrorfilm: Ein Psychopath geht um, ermordet Jugendliche und beweist dabei eine große Kreativität, was Grausamkeiten angeht. Aber so verschieden sie auch zu Tode kommen, die Opfer verbindet, dass sie derselben Clique angehören. Natürlich ist das ein guter Ermittlungsansatz für Zorn und Schröder, der auch bald zu möglichen Hintergründen und Verdächtigen führt. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt…

Auch in diesem Band bilden wieder Thrill und Komik eine tolle Mischung. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt ein Buch in der Hand hatte, bei dem ich mich an einigen Stellen regelrecht geekelt habe und an anderen Tränen gelacht habe. Letzteres liegt natürlich wieder an den wechselseitigen Liebenswürdigkeiten unserer beiden Protagonisten. Herrlich, solche Mischungen mag ich!

Die Charaktere von Zorn und Schröder gewinnen zudem mehr an Tiefe, auch das Verhältnis zwischen den beiden wird noch interessanter als im ersten Band. Mit einer jungen Staatsanwältin wird ein neuer Charakter eingeführt, der ebenfalls vielversprechend erscheint.

Durch diese Weiterentwicklung der Charaktere hätte ich eigentlich noch ein Sternchen in der Bewertung drauflegen können – für den Fall selber ziehe ich aber wieder eins ab. Anlage und Motiv waren in meinen Augen vorhersehbar und ich hatte auch schon früh den Täter auf dem Schirm. Durch die vielen Pluspunkte hat aber mein Lesegenuss darunter nicht groß gelitten.

Fazit: Blutig, spannend und witzig in einem Buch – Zorn und Schröder garantieren für gute Unterhaltung. Ich freue mich schon auf die weiteren Bände.

»Das ist mein Kollege. Vor ihm solltest du dich besonders in Acht nehmen, das ist ein ganz scharfer Hund. Er würde dich den Marktplatz nicht fegen, sondern bohnern lassen. Und danach würde er dich erschießen.«

Bewertung vom 15.01.2016
Ludwig, Stephan

Zorn - Tod und Regen / Hauptkommissar Claudius Zorn Bd.1


sehr gut

»Sie sollten wissen, dass ich nicht krank bin. … Ich bin nicht krank, also nicht verrückt – jedenfalls nicht verrückter als jeder andere. … Sie und ich, wir beide sind jetzt hier. Und sie müssen wissen, dass Sie in meinen Augen überhaupt keine Schuld tragen an dieser Situation. Sie können wirklich nichts dafür … für Ihren schmerzvollen vorzeitigen Tod.«

Ich weiß ja nicht, wie andere das empfinden – aber ich hatte an dieser Stelle schon meine Zweifel, ob der gute Mann geistig wirklich vollkommen gesund ist. Zumal wenn man berücksichtigt, was er anschließend mit seinem Opfer anstellt…

Hauptkommissar Zorn und sein Kollege Schröder bearbeiten gewöhnlich „mittelmäßige Fälle in einer mitteldeutschen Großstadt“. In dieser Stadt, die schon lange keinen Mord mehr erlebt hat, geht plötzlich ein Killer um, der seine Opfer auf grausame und überaus blutige Art tötet. Ein kniffliger Fall für die beiden Ermittler, der immer mehr zu eskalieren scheint…

Dieser Krimi lebt durch seine Charaktere. Zorn und Schröder sind zwei Typen, wie sie gegensätzlicher kaum sein könnten. Zorn ist eitel, arrogant, faul und aggressiv. Wo eben möglich, drückt er sich vor der Arbeit – dafür hat er schließlich Schröder. Der wiederum ist ein überaus freundlicher Mensch, der sich in seine Arbeit richtig reinkniet, mit hoher Intelligenz punktet und Zorns Ausbrüche gutmütig erträgt. Noch mehr Unterschiede gefällig? Zorn ist groß und hat eine sportliche Figur. Schröder ist klein und moppelig. Zorn raucht Kette, Schröder ist überzeugter Nichtraucher. Man fragt sich, was die beiden eigentlich verbindet.
Letztlich ist Zorns Charakter aber so angelegt, dass er mir trotz aller Mängel irgendwie sympathisch erschien. Außerdem drängt sich natürlich die Vermutung mit der harten Schale und dem vielleicht doch irgendwo vorhandenen weichen Kern auf. Ob sich das noch bestätigen wird? Tja, und Schröder hatte ich sofort ins Herz geschlossen. Die Wortgefechte zwischen den beiden sind wirklicher Kult und überaus spaßig.

Der Fall selber ist blutig, interessant angelegt und entwickelt sich spannend. Was den Täter angeht, hatte ich zwar den richtigen in Verdacht, konnte dies aber nicht begründen. Die diversen Fragen nach dem Warum und dem Wie werden wirklich erst gegen Schluss klar.

Fazit: Dem Autor gelingt mit diesem Krimi eine tolle Mischung zwischen Spannung und Humor. Es fehlt weder an Elementen, die einen guten Krimi würzen noch an wirklich lustigen Stellen, über die ich herzhaft lachen konnte. Ich freue mich, dass diesem ersten Fall für Zorn und Schröder bereits vier weitere gefolgt sind – ich werde gleich weiterlesen :)

»Ich bin Bulle, ich darf das.«

2 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.01.2016
Müller, Dorothea

TOM


ausgezeichnet

»Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. (§2 StVollzG)«

Tom sitzt im Gefängnis. Wofür er verurteilt wurde, wird nicht thematisiert, aber es wird schon deutlich, dass es sich um eine mehrjährige Haftstrafe handelt, die er absitzen muss. In der Einsamkeit seiner Zelle und dem streng geregelten Alltag kann er den Gedanken, die ihn bestürmen, nicht entkommen. Toms ganzes Sein besteht aus Wut, Enttäuschung und Erinnerungen, die er tief in sich begräbt. Ganz sicher gibt es für ihn nichts in der Zukunft, auf das er hoffen oder auf das er hinarbeiten kann! Zwei Mithäftlinge und ein ehrenamtlicher Betreuer schaffen es, zu ihm durchzudringen und plötzlich erkennt Tom, dass es da doch noch etwas für ihn geben könnte – aber er muss auch seinen Anteil dazu beitragen. Ein schwerer und völlig neuer Weg liegt vor ihm…

Als ich dieses Buch entdeckte, reizte es mich sofort, weil es einen Einblick in die ganz besondere Welt „Gefängnis“ versprach, von der man – wenn im Leben alles „normal“ verläuft, gewöhnlich keine Ahnung hat. Die Autorin aber weiß, wovon sie schreibt, denn sie hat in zehn Jahren als ehrenamtliche Betreuerin im Strafvollzug, als Schöffin am Jugendgericht und nach drei Jahrzehnten als Lehrerin in einer Schule für Kinder mit Lernbehinderung ausreichend Einblicke gesammelt und viele „Karrieren“ straffällig gewordener Jugendlicher miterlebt.

Die Schilderungen wirken realistisch und ungeschönt. Auch sind sie in keiner Weise einseitig, im Gegenteil. Es gibt geradezu bösartige Schließer, die ihre Machtposition auszunutzen scheinen – im Gegensatz dazu aber wirklich nette Vollzugsbeamte (hier zum Beispiel „Papa Witt“). Es gibt Mithäftlinge, denen man tunlichst aus dem Weg gehen sollte und solche, die sozial umgänglich sind und zu Freunden werden können. Es gibt Einsamkeit, Zwang und Unfreiheit, aber auch Bildungsangebote, Betreuung und Halt durch Regeln.

Tom steht vor diversen Schwierigkeiten. Er kommt aus einem bildungsfernen Umfeld, er hat keinen Schulabschluss, kann kaum lesen und schreiben. Für ziemlich viele Dinge im Gefängnis müssen die Häftlinge aber Anträge schreiben, eine gewaltige Hürde für Tom. Und die Bildungsangebote? Die Betreuung? Die angebotenen Gruppen? Tom hat in seinem Leben nicht gelernt, zu jemandem Vertrauen zu haben und seine Probleme hat er gewöhnlich entweder durch Weglaufen oder durch Gewalt gelöst.
»Wie soll jemand resozialisiert werden, wenn er doch schon vorher nie sozialisiert war?«

Das Buch stellt kritische Fragen, hält sich aber weder mit Schuldzuweisungen auf noch damit, jemanden zu bedauern. Weder soll mit dem erhobenen Zeigefinger das Bild des Strafgefangenen als Mahnung präsentiert werden, noch soll der Leser vor Mitleid mit Tom und seiner schweren Kindheit zerfließen. Es geht letztlich darum zu zeigen, dass man selbst für sich und sein Schicksal die Verantwortung übernehmen muss – und das ist eine Wahrheit, die für jeden gilt, nicht nur für straffällig gewordene Menschen.

Die Schilderung ist lebendig, immer ganz nah dran an Tom, seinen Gedanken und Gefühlen. Wenn in seinem Kopf alles durcheinander geht, weil er selber noch nicht versteht, was in ihm vorgeht, dann kann man das als Leser genau nachempfinden.

Für Begriffe, die der „Nicht-Knacki“ vielleicht nicht versteht, gibt es im Anhang das „Knacki-Wörterbuch“, außerdem Auszüge aus dem Strafvollzuggesetz, das in Gefängnissen gilt. Durch Querverweise im Text wird immer wieder darauf Bezug genommen.

Fazit: Ein packendes Thema, intensiv und realistisch geschrieben. Leicht zu lesen und trotzdem mit viel Stoff zum Nachdenken. Ein Jugendbuch, das auch den erwachsenen Leser anspricht.

»Es hat lange gedauert, bis er wirklich begriffen hat, dass er für sich und seine Sachen mit verantwortlich ist. Und zwar egal, wie die Bedingungen sind oder waren.«

Bewertung vom 06.01.2016
Simon, David

Homicide


ausgezeichnet

David Simon, Reporter und Drehbuchautor, durfte ein Jahr lang als „Praktikant“ das Morddezernat von Baltimore während seiner Arbeit begleiten. Das Ergebnis ist eine packende Reportage, die mich über 800 Seiten lang ans Buch gefesselt hat.

Der Bericht startet am 19. Januar 1988, während einer Nachtschicht, mit Mordopfer Nummer 13 des noch jungen Jahres. Im Laufe der Nacht wird Mord Nummer 14 hinzukommen und am 31. Dezember 1988 wird der Zähler ermordeter Menschen in Baltimore bei 234 angekommen sein.

Wer glaubt, sich die tatsächliche Arbeit eines Morddezernats vorstellen zu können, weil er viele Krimis gelesen oder entsprechende Filme gesehen hat, der wird hier eines besseren belehrt. Die Realität kommt hart und ungeschminkt rüber und man ahnt schon nach den ersten Abschnitten, weshalb sich alle Detectives ständig mit markigen Sprüchen und dreckigen Witzen gegenseitig übertrumpfen wollen und ein Trinkgelage nach dem nächsten stemmen.

Der Leser fühlt sich erschlagen von der Vielzahl der Opfer, der Gleichgültigkeit, mit der Zeugen auf Gesehenes reagieren und ist beeindruckt, welches enorme Arbeitspensum die Detectives auf sich nehmen. Und das, obwohl sie nicht mal sicher sein können, dass ein Täter, der von ihnen überführt und verhaftet wurde, auch tatsächlich verurteilt wird. Mal ganz zu schweigen von den Prioritäten, die die Ermittler bei ihrer Arbeit beachten müssen…
»Natürlich darf der Polizeichef nur dann überhaupt Luft holen, wenn er die Bedürfnisse des Bürgermeisters erfüllt hat, der viel entspannter über seine Wiederwahl sinnieren kann, wenn Sein höchsteigenes Polizeipräsidium Ihn nicht mit Peinlichkeiten oder Skandalen belästigt, Ihm höchstpersönlich zu Diensten ist und im Interesse des Gemeinwohls das Verbrechen bekämpft – ungefähr in dieser Reihenfolge.« (Man beachte auch die Großschreibung von „Ihm“)

Der Leser erfährt so einiges über „Red Balls – Morde, die zählen.“ Es geht um Statistik, Kriminalitätsberichte und Aufklärungsquoten, vor dem geistigen Auge (und auch auf einigen Fotos) sieht man sich auftürmende Aktenberge. Wieviel kleinteilige und mühselige Schreibtischarbeit in den Ermittlungen steckt, lässt sich für einen Außenstehenden kaum erahnen.

David Simon führt den Leser an die Arbeit der Mordermittler heran, stellt dazu „Die drei Säulen jeder Mordermittlung – Spuren. Zeugen. Geständnisse.“ und „Die zehn goldenen Regeln eines Mordermittlers“ vor. Als Krimileser ist man erstaunt, wie wenig Bedeutung in der Realität dem Motiv beigemessen wird! Weiter geht es mit Verhörtaktiken, den Abläufen vor Gericht und vielem, vielem mehr.

Auch kritische Blicke fehlen nicht, wenn es um Themen wie Rassismus, Homophobie, Gewaltausübung durch Polizisten und den Schusswaffengebrauch geht. Ich war erstaunt, mit welcher Ehrlichkeit sich die Detectives äußersten, mit welcher Freimütigkeit sie den Journalisten an ihrer Seite tolerierten. Im lesenswerten Anhang wird dargestellt, wie Simon in seine „Praktikantenrolle“ hineinwuchs, sich anpasste und einlebte und so vom anfänglichen Störenfried zum kaum noch wahrgenommenen Schatten wurde.

Kleine Warnung noch am Rande: So viel Realität ist reichlich desillusionierend und nicht immer leicht zu verdauen. Es wird blutig, nicht nur an den Tatorten, sondern auch bei den Autopsien. Und im Gegensatz zum normalen Krimi wird nicht jeder Mord aufgeklärt, gibt es auch grausame Kindermorde, die auf Dauer bei den „unerledigten“ Fällen verbleiben. (Punkt 10 der zehn goldenen Regeln: „Es gibt ihn, den perfekten Mord.“)

Und noch ein Nachtrag zur Statistik: Im Jahr 1989 wurden in Baltimore 262 Menschen ermordet, im Jahr darauf 305. Die Spitze wurde 1993 mit 353 Toten erreicht. Nach wie vor hat Baltimore bei ca. 620.000 Einwohnern eine der höchsten Mordraten der USA.

Fazit: Hart, gesellschaftskritisch, realistisch - ein ungeschönter Einblick in die Polizeiarbeit.

Bewertung vom 29.12.2015
Radinger, Elli H.

Der Winterwolf


ausgezeichnet

»Ich spüre die eisige Kälte nicht mehr, denn eine wohlige Wärme breitet sich in meinem Herzen aus. Meine Flucht vor dem Trubel, den das heute endende Jahr wie üblich verursachen wird und den ich inzwischen so schlecht ertragen kann, hat ermöglicht, dass ich so reich beschenkt werde. Der kräfteraubende Alltag eines hektisch geführten Lebens erscheint mir in weite Ferne gerückt. Ich schließe kurz die Augen und atme tief durch.«

Auch das Lesen dieses Buchs kam mir wie ein Durchatmen vor, wie eine kleine Flucht. So schön sind die Geschichten in dieser Anthologie, dass man sich problemlos darin verlieren kann. Einzige Bedingung: Man muss Liebe zur und Achtung vor der Natur empfinden.

Die einzelnen Geschichten sind durchaus abwechslungsreich, mal wird es weihnachtlich, mal mystisch. Wir treffen sowohl Geri und Freki, Odins Begleiter, als auch „ganz normale“ Wölfe, wir erleben Beispiele des Miteinanders von Mensch und Wolf, werden Zeugen von beeindruckenden Wolfsbegegnungen mit ihrem ganz eigenen Zauber. Und ganz nebenbei können die Schilderungen ängstlichen Menschen helfen, sich dem Thema Wolf anzunähern.

Apropos Weihnachten: Es steht „Weihnachtsanthologie“ auf dem Buch, allerdings hat das Thema Weihnachten eine untergeordnete Bedeutung, im Mittelpunkt stehen nun mal die Wölfe und die winterliche Natur. Daher kann man diese Geschichten meiner Meinung nach problemlos auch außerhalb der Weihnachtszeit lesen.

Fazit: Wunderschöne Geschichten, die sich ein Naturfreund nicht entgehen lassen sollte.

Bewertung vom 28.12.2015
Rath, Hans

Wir müssen reden! / Und Gott sprach Bd.1


sehr gut

»Na, immerhin scheint Gott Humor zu haben«, sage ich. Baumann nickt. »Es bleibt Gott nichts anderes übrig, als die Dinge mit Humor zu nehmen. … Es ist die Wahrheit, Dr. Jakobi. Ich bin es wirklich. … Ich bin Gott. Und ich bin, unter uns gesagt, ziemlich im Arsch.«

Der Psychotherapeut Jakob Jakobi ist ziemlich am Ende. Seine Ehe ist gescheitert, seine Praxis am Rand des Ruins und während sein Bruder der Mutter „nur Freude macht“, schlägt er sich mit dem Dasein als schwarzes Schaf der Familie herum. Vermutlich wäre eine völlige Neu-Orientierung im Leben gar keine schlechte Idee, aber dieser Zirkusclown, der einen Therapeuten sucht und ihn um Hilfe bittet, ist wirklich ein interessanter Fall, denn er hält sich für niemand geringeren als Gott. Und als solcher ist er ziemlich deprimiert…

Bücher aus der Rubrik „lustig“ haben es bei mir häufig schwer, da mir Humor leicht zu platt oder überzogen vorkommt. Das war hier nicht der Fall, ich konnte mich herrlich amüsieren. Das Thema ist recht abgedreht, trotzdem kann man sich die Ausgangssituation gut vorstellen. Bei den vielfältigen Möglichkeiten, die Persönlichkeitsstörungen haben können – wieso soll sich da ein Mensch nicht auch für Gott halten? Und ein Therapeut ist letztlich auch nur ein Mensch, warum soll bei ihm also im Leben alles glatt laufen?

Die vielen Dialoge zwischen Gott und seinem Therapeuten machen den besonderen Reiz der Geschichte aus. Nach einer Weile fragt man sich, wer hier wen therapiert, was von der Anlage der Story her nicht überraschend kommt, aber einfach gut und witzig gemacht ist. Es wird auch das ein oder andere ernsthafte Thema gestreift, so dass ein Ansatz zum Nachdenken vorhanden ist. Es gibt noch zwei weitere Bücher mit Jakob Jakobi („Und Gott sprach: Der Teufel ist auch nur ein Mensch!“, „Und Gott sprach: Du musst mir helfen“), die sicher auch noch bei mir einziehen werden.

Fazit: Sehr unterhaltsam – ein Buch, das einfach Spaß macht.

»Gott ist ein Zocker? Interessant. Dabei hat Einstein doch behauptet: Gott würfelt nicht.« »Ich weiß. Einstein war’n Klugscheißer.«