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Raumzeitreisender
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 759 Bewertungen
Bewertung vom 15.06.2016
Stewart, Ian

Welt-Formeln


sehr gut

Mathematische Wahrheiten und fundamentale Naturgesetze

Genau genommen geht es in diesem Buch um mathematische Gleichungen und um physikalische Gesetze, die ebenfalls in Form von Gleichungen ausgedrückt werden. Autor Ian Stewart, Professor für Mathematik, stellt 17 bedeutende Formeln vor, erläutert ihre Entwicklungsgeschichten und gibt Einsatzmöglichkeiten an. Dass diese anfänglich häufig unterschätzt wurden, wird bereits beim „Satz des Pythagoras“ deutlich. So schlägt Stewart den Bogen von Pythagoras im alten Griechenland über den Gauß-Schüler Riemann und seiner Metrik bis hin zu Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie.

Weniger geläufig dürften logische Schwächen sein, die sich zu Beginn in der Infinitesimalrechnung von Newton und Leibniz verbargen und erst später durch Bolzano und Weierstraß beseitigt wurden. „Zum Glück warteten die damaligen Physiker und Mathematiker nicht, bis die logischen Fundamente der Infinitesimalrechnung geklärt worden waren, bevor sie die neue Methode anwandten.“ (81) Denn sie funktionierte trotz dieser Schwächen.

Der Autor klärt auf über die in der Landesvermessung eingesetzte „Methode der kleinsten Quadrate“, über den Zusammenhang von digitalen Fotos und der Fourier-Transformation, über die Maxwell-Gleichungen und ihre Bedeutung für die Erfindungen von Radio und Fernsehen sowie über die Dynamik nichtlinearer Gleichungen in der Chaostheorie. Die Themenauswahl ist gelungen. Der Autor deckt ein breites Spektrum ab, dabei liegt ihm die Physik besonders am Herzen.

Das längste Kapitel ist der Relativitätstheorie gewidmet. Stewart macht deutlich, dass die Navigation mittels GPS nur funktioniert, weil relativistische Korrekturen berücksichtigt werden. Er erläutert, dass die Allgemeine Relativitätstheorie zwar die beste Erklärung für den Ursprung des Universums liefert, das kosmologische Paradigma „Urknall“ aber dennoch Risse enthält. Dunkle Materie und Dunkle Energie bereiten Probleme, die Stewart zu der Schlussfolgerung verleiten, dass Kosmologen „einfallsreichere mathematische Modelle in Betracht ziehen sollten, bevor sie neue und nicht weiter untermauerte physikalische Phänomene einführen“. (384)

Die Ausführungen wären unvollständig, wenn sich Stewart nicht auch der Quantentheorie widmen würde. Die erfolgreichste Theorie der Physik ist so seltsam, dass man sie eigentlich nicht verstehen kann. Der Autor erläutert das „i“ in Schrödingers Differentialgleichung und beschreibt das berühmte Gedankenexperiment mit der Katze in der Box. Aufschlussreich ist Stewarts Beispiel mit dem Brechungsgesetz, wo das unberechenbare Verhalten einzelner Photonen durch sämtliche Verhaltensmöglichkeiten überlagert wird und dadurch aus der Quantenwelt die klassische Welt mit ihren bekannten Gesetzmäßigkeiten generiert wird.

Stewart versteht sein Handwerk, er vermittelt auf sachliche Art und Weise Erkenntnisse aus Mathematik und Physik. Aber seine Stärke ist auch seine Schwäche. Das Buch ist kein Drama wie "Fermats letzter Satz" von Simon Singh, es vermittelt nicht die Faszination ungelöster mathematischer Probleme wie "Die Musik der Primzahlen" von Marcus du Sautoy, es ist nicht humorvoll wie „Darf ich zahlen?“ von Günter M. Ziegler und auch keine Forschungsreise zu den Grenzen von Raum und Zeit wie "Das elegante Universum" von Brian Greene. Im Vergleich zu den genannten Büchern fehlt das letzte Quäntchen Atmosphäre, welches den Leser in seinen Bann zieht und die Welt drumherum vergessen lässt. Dennoch ist es informativ und lesenswert.

„Weltformeln“ ist ein populärwissenschaftliches Buch, welches überdurchschnittliche Kenntnisse in Mathematik und Physik und auch ein entsprechendes Interesse an mathematischen und physikalischen Fragestellungen voraussetzt. Es ist ein Buch für Leser, die sich von Formeln nicht abschrecken lassen und neugierig genug sind, die Strukturen unserer Welt, soweit sie mathematischer und physikalischer Natur sind, verstehen zu wollen.

Bewertung vom 15.06.2016
Mai, Jochen;Rettig, Daniel

Ich denke, also spinn ich


weniger gut

Der Mensch – ein irrationales Wesen

"Ich denke, also spinn ich" ist ein Buch über psychologische Effekte, die unseren Alltag bestimmen. Die Autoren, Diplom-Volkswirte, haben mehr als 120 solcher Phänomene zusammengetragen und beschrieben. Das Buch ist übersichtlich strukturiert wie ein Nachschlagewerk. Die behandelten Effekte sind nach Oberbegriffen kategorisiert. Am Ende der unterschiedlichen Kategorien befinden sich kurze Zusammenfassungen.

Viele der aufgeführten Phänomene sind allgemein bekannt. Dies gilt z.B. für den Jo-Jo-Effekt (Warum wir nach einer Diät wieder zunehmen) oder den Placebo-Effekt (Substanzen, von denen wir glauben, dass sie eine bestimmte Wirkung haben, können diese auch entfalten). Bei manchen Effekten sind Zweifel angebracht, ob diese wissenschaftlich belegt sind. So z.B. beim Gore-Effekt. Dass die Temperatur überall dort in den Keller geht, wo Al Gore auftaucht, um vor der Klimakatastrophe zu warnen, riecht nach selektiver Wahrnehmung. Sind Phänomene wie "Die Kasse, an die man sich anstellt, ist immer die längste" oder "Die Ampel springt immer auf Rot, wenn man sich dieser nähert" nicht nach dem gleichen Muster gestrickt?

Das Besondere an dem Buch ist die Zusammenfassung zahlreicher unterschiedlicher, überwiegend psychologischer Phänomene in einem leicht lesbaren populärwissenschaftlichen Werk. Deutlich wird: Der Mensch ist ein irrationales Wesen. Wer mehr wissen will bzw. ausführliche Begründungen haben möchte, muss auf Fachliteratur zurückgreifen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.06.2016
Schrödinger, Erwin

Was ist Leben?


sehr gut

Ein Klassiker der Wissenschaftsgeschichte

Es handelt sich um ein historisches Werk aus dem Jahr 1944. Erwin Schrödingers betrachtet die Grundlagen des Lebens aus dem Blickwinkel des Physikers. Die Frage, was Leben denn nun ist, wird nicht beantwortet. Es wäre auch naiv, das zu erwarten. Die Naturwissenschaft beschäftigt sich damit, wie Leben funktioniert, nicht damit, was es ist.

Der Biologe und Physiker Ernst Peter Fischer führt ausführlich in das Thema ein, beschreibt Hintergründe, zeitliche Abhängigkeiten und Folgen. Basis ist eine Arbeit von Timoféef-Ressovsky, Zimmer und Delbrück aus dem Jahre 1935, in der sie nahelegen, Gene als Makromoleküle zu betrachten. Schrödinger greift diese Gedanken auf und entwickelt sie weiter.

Schrödinger erklärt Grundlagen der statistischen Physik, prägt den Begriff „genetischer Code“, erläutert Vererbungsmechanismen und Mutationen und spekuliert über Zusammenhänge von Quantensprung und Mutation. „Nach der Auffassung die wir uns vom Mutationvorgang gebildet haben, genügt bereits die Verlagerung ganz weniger „regierender Atome“ in der Keimzelle, um eine deutlich erkennbare Veränderung der großmaßstäblichen Erbmerkmale des Organismus zu verursachen.“

Leben ist ein geordnetes und gesetzmäßiges Verhalten der Materie mit der Tendenz, eine bestehende Ordnung aufrechtzuerhalten und nicht in Unordnung überzugehen. Aufrecht erhalten bleibt sie durch Stoffwechsel (Essen, Trinken, Atmen). Das thermodynamische Gleichgewicht wird durch die Aufnahme von negativer Entropie verzögert, gleichzeitig wird Entropie (Wärme) abgegeben.

Die vielfältigen Erscheinungen des Lebens sind auch heute noch nicht geklärt. Die Ausgangsfrage bleibt ungelöst. Schrödinger stellt Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen einer physikalischen und einer biologischen Betrachtung heraus. In einer Schlussbetrachtung setzt er sich mit Determinismus und Willensfreiheit auseinander.

Bewertung vom 14.06.2016
Mankell, Henning

Die weiße Löwin / Kurt Wallander Bd.4


ausgezeichnet

Ein spannender Polit-Thriller

„Die weiße Löwin“ ist mehr als ein spannender Krimi. Es ist ein hervorragender Polit-Thriller mit Bezug zu Personen der Gegenwart. Alles beginnt damit, dass eine schwedische Immobilienmaklerin spurlos verschwindet. Schon bald deuten die Untersuchungsergebnisse darauf hin, dass es um ein Komplott mit internationalen Verstrickungen geht. Das Ziel: Eine berühmte Person des öffentlichen Lebens soll ermordet werden.

Henning Mankell ist ein begnadeter Erzähler. Er vermittelt glaubhaft das Milieu in den beiden Handlungsorten Schweden und Südafrika. Die Konfrontation mit der eiskalten Gewalt einer südafrikanischen Geheimorganisation lässt Kleinstadtkommissar Wallander konventionelle Grenzen überschreiten. Der Fall wird gelöst, ohne dass unrealistische Helden aufgebaut werden müssen. Dies ist einer der besten Wallander-Krimi von Henning Mankell.

Bewertung vom 14.06.2016
Willmann, Urs

Stress


sehr gut

Stress und seine Bedeutung

„Ohne Stress wäre unsere Spezies nie entstanden, und es gibt kaum einen Bereich des Lebens, in dem Stress nicht in Erscheinung tritt.“ (10)

Das Ziel des Buches besteht darin, die Sicht auf das Phänomen Stress zu verändern. „Er macht uns gesund, glücklich und stark, er verlängert das Leben.“ (37) Autor Urs Willmann stellt Untersuchungsergebnisse und Erfahrungsberichte vor, die veranschaulichen, welche Bedeutung Stress für den einzelnen Menschen und die Entwicklung der Menschheit hat.

Die Leser erfahren, warum Glücksspieler nicht überzeugend bluffen können, wenn sie sichtbar vor Stress frösteln (89), dass Schüchternheit keine psychische Störung ist (128) und welchen Einfluss Männerschweiß auf die Empfindlichkeit von Schmerz hat. (134) Der Autor erläutert die Aufgaben von Botenstoffen, beschreibt psychische und physische Reaktionen auf Stress und stellt einen Zusammenhang her zwischen dem Verhalten in Stresssituationen und der Evolution.

Angst und Stress stehen in engem Zusammenhang. Beide Zustände können Euphorie auslösen, wie der Autor anhand zahlreicher Beispiele deutlich macht. Auf Adrenalin folgt als Belohnung Endorphin und das führt zur Euphorie und manchmal zur Sucht. Natürlicher und auch künstlicher Rausch ist auch in der Tierwelt bekannt, wie der Autor nicht nur am Beispiel tasmanischer Känguruhs (170) deutlich macht.

In „Zumutungen“ untersucht Willmann menschliche Abgründe und liefert Erklärungsansätze für das Böse im Menschen. Der Körper honoriert, was dem eigenen Überleben hilft und das ist ein zweischneidiges Schwert. „In der Geschichte der Menschheit wurden Dominanz, Macht und Aggressivität immer durch eine Endorphinausschüttung im Gehirn belohnt.“ (203) Die Erregung durch das Böse ist physiologisch nicht von einer (positiven) Stressreaktion zu unterscheiden.

Welche Schlussfolgerungen für den Alltag können aus den Untersuchungen des Phänomens Stress gezogen werden? Willmann gibt hierzu, unterstützt von dem Mediziner und ehemaligen Leistungssportler Thomas Wessinghage, den er interviewt hat, aufschlussreiche Antworten. Es ist ein Mythos, dass Manager den größten Stress haben. Ob man sich gestresst fühlt, korreliert mit dem Grad der Autonomie, der sich bei einer Verkäuferin an der Kaufhauskasse oder bei einem Arbeiter am Fließband auf einem niedrigen Level befindet.

Entspannung ist auf verschiedenen Wegen möglich und hängt davon ab, was für ein Typ man ist. Umgekehrt sind herausfordernde Tätigkeiten auch im Alter sinnvoll, um Demenz vorzubeugen. Die Einsichten und Rezepte im Buch sind nicht spektakulär, wenngleich die These „Stress macht glücklich“ provokativ wirkt. Willmann untermauert seine These durch Erkenntnisse aus Psychologie, Hirnforschung und Medizin. Entstanden ist ein verständlich aufbereitetes Buch, welches aktuelle Erkenntnisse zusammenfasst und insgesamt lesenswert ist.

Bewertung vom 13.06.2016
McCann, Colum

Die große Welt


sehr gut

Facetten einer Großstadt

Der Roman spielt (überwiegend) in New York und besteht aus zehn Einzelgeschichten und der sie zeitlich und räumlich verknüpfenden Rahmenhandlung über das Leben und den Auftritt eines Hochseilartisten. Dieser spannt heimlich ein Seil zwischen den beiden Türmen des World Trade Centers und führt auf diesem Kunststücke vor. Auch inhaltlich gibt es in diesem Werk Verknüpfungen, da manche Akteure in mehreren Episoden vorkommen.

Colum McCann zeigt Facetten einer Großstadt auf. Seine Protagonisten stammen aus allen gesellschaftlichen Schichten (Artisten, Computerhacker, Ordensleute, Straßenmädchen, Richter, Altenpfleger); ein Hang zu Milieubeschreibungen sozialer Unterschichten – ähnlich wie in „Der Himmel unter der Stadt“ - ist unverkennbar. Die Einzelgeschichten sind zwar in sich abgeschlossen, aber auch gleichzeitig Teil eines größeren Zusammenhangs.

Das Vorhaben des Hochseilartisten ist riskant. Die Frage, ob er stürzt taucht mehrfach auf. Die Spannung, die der Akrobat erzeugt, ist ein Spiegel für die Spannungen der Protagonisten in ihrem Lebensalltag. Dieser Alltag in New York, insbesondere in der Bronx, ist gefährlich, wie einige Akteure erfahren müssen. Zwischen Hoffnung und Realität klaffen Lücken. Einige Retrospektiven sind in die Handlungen eingewoben. Autor McCann moralisiert nicht und klagt nicht an.

Die Verbindungen zwischen den Geschichten wirken natürlich und ausgereift. Es entsteht nicht der Eindruck von Konstruktionen wie z.B. in Daniel Kehlmanns "Ruhm", der das gleiche Stilmittel einsetzt. Nicht alle Erzählungen fesseln gleichermaßen. Zu den Highlights gehören die Geschichten über John Corrigan ("Nichts gegen den Himmel, aber mir gefällt's hier") und Tillie Henderson ("Auf H gebaut").

Bewertung vom 13.06.2016
Reinwarth, Alexandra

Hape


gut

„Das ganze Leben ist ein Quiz …“

Hape Kerkeling zählt seit Mitte der 1980er Jahre (Känguru) zu den erfolgreichsten Entertainern Deutschlands. Sein Auftritt als Double von Königin Beatrix der Niederlande ging in die TV-Geschichte ein. Er hat ein bemerkenswertes Talent für Sprachen (5 Fremdsprachen) und verfügt über besondere Qualitäten als Comedian, Moderator, Schauspieler, Sänger, Parodist und Kabarettist.

Das Buch ist eine Liebeserklärung an Hape Kerkeling, wie bereits im Vorwort ("Warum wir Hape lieben") angedeutet wird. Alexandra Reinwarth ist zweifelsohne ein großer Fan von Hape Kerkeling. Sie stellt seine Erfolge als solche dar und versteht es auf sympathische Weise, auch den Flops in seiner Karriere etwas Positives abzugewinnen. Das Leben, auch das von Hape Kerkeling, ist ein Lernprozess.

Die Autorin reflektiert Hape Kerkelings Leben, berichtet über seine Schulzeit, erläutert seine beruflichen Projekte (Filme, Fernsehen) und geht auch auf schwierige Phasen in seinem Leben (Das Outing) ein. Erkennbar ist eine Entwicklung von einem begabten Comedian hin zu einem galanten Entertainer, der im Laufe der Jahre nicht nur das Publikum unterhalten, sondern (auf dem Jakobsweg) auch sich selbst gefunden hat.

Von diesem „Selbst“, welches die Leser interessieren würde, wird leider zu wenig vermittelt. Das Buch gleicht eher einer lexikalischen Zusammenstellung wichtiger Informationen über Hape Kerkeling. Auf einige Detailbeschreibungen und Fakten zu den Filmen und Fernsehsendungen hätte ich verzichten können. Was ich vermisse, ist das, was nur in einer Autobiografie möglich ist, die Reflexion der betroffenen Person über sich selbst, die Eigenanalyse der Stationen des Lebens.

Bewertung vom 13.06.2016
Schalansky, Judith

Der Hals der Giraffe


sehr gut

Abenddämmerung

Inge Lohmark unterrichtet seit dreißig Jahren Biologie an einem kleinen Gymnasium im hinteren Vorpommern. Sie ist eine Lehrerin der alten Schule, autoritär, distanziert und unnachgiebig. Kritiker halten ihre Lehrmethoden für veraltet und werfen ihr fehlende Sozialkompetenz vor. Belege dafür gibt es zur Genüge, z.B. ihr Plan mit zynischen Beschreibungen ihrer Schüler oder ihr (damaliges) Verhalten gegenüber ihrer Tochter im Unterricht. Autorin Judith Schalansky hat den Roman aus der Perspektive von Inge Lohmark verfasst.

Mangels Nachwuchs soll die Schule in vier Jahren geschlossen werden. Das drückt auf die Stimmung. Ort, Zeit, Protagonistin und Situation wurden bewusst gewählt, so mein Eindruck, um diese desillusionierende Stimmung, die sich durch den gesamten Roman zieht, aufrechtzuerhalten. Die Schüler sind sich der realen Situation nicht bewusst, die Lehrer konstruieren sich ihre eigenen Scheinwelten, so z.B. der Direktor in seiner Rede an die Schüler.

Die Biologie spielt in diesem Roman eine große Rolle. Es werden nicht nur Themen aus der Biologie verarbeitet, sondern biologische Grundsätze steuern auch das Verhalten und die Sicht der Protagonistin. Dabei dreht sie die Sachverhalte so, dass sie in ihr Weltbild passen. So überwiegt in ihrer Vorstellung das Konkurrenzverhalten in der Natur gegenüber der Kooperation. Auch unterrichtet sie den Lamarckismus, die Vererbung von erworbenen Eigenschaften, obwohl diese Lehre längst von der Synthetischen Evolutionstheorie verdrängt wurde. Die „alte Schule“, also die Rückständigkeit der Biologie-Lehrerin, wird hier auf die Spitze getrieben.

Man kann Inge Lohmark, die gefangen ist in ihrem Weltbild, bedauern. Ihr Versuch aus dieser Welt auszubrechen (ihre Annäherung an die Schülerin Erika) geht in die falsche Richtung und scheitert kläglich. Judith Schalansky hat einen Roman kreiert, deren Bestandteile (Rahmen, Protagonistin, Situation etc.) wohl aufeinander abgestimmt sind und sich gegenseitig verstärken. Es ist ein sozialkritischer aber auch ein psychologischer Roman. Für Interpretationen bietet er reichlich Stoff.

Bewertung vom 12.06.2016
Eschbach, Andreas

Ein König für Deutschland


sehr gut

Ein spannender Politthriller

Andreas Eschbach ist es nach „Der Nobelpreis“ und „Ausgebrannt“ wieder einmal gelungen, ein brisantes Thema ideenreich aufzuarbeiten. Wer anfängt, den Roman zu lesen, legt ihn erst wieder weg, wenn das Ende erreicht ist. Dies gilt, obwohl Eschbach im Klappentext sehr viel vom Inhalt verrät. Warum er das tut, bleibt rätselhaft. Jedoch werden die Leser durch das „Wie“ der Beschreibungen entlohnt.

Eschbach hat Erfahrungen als Programmierer. Seine informationstechnischen Erklärungen sind präzise und überzeugen. Der Roman ist gut recherchiert, was durch zahlreiche Fußnoten belegt wird. Auf Basis des aktuellen technischen Wissensstandes und begründeter Zweifel an den Wahlergebnissen der US-Präsidentschaftswahlen 2000 konstruiert er ein mögliches Wahlszenario.

Beeindruckend, wie der biedere Gymnasiallehrer Simon König in die neue Rolle hineinwächst. Seine Fähigkeit, sich spontan auf neue Situationen einzustellen und provokative aber wohl begründete Reden zu halten, macht ihn zu einem bemerkenswerten Menschen. Selbst seine Frau Helene, von der er seit 20 Jahren getrennt lebt, kann sich seinem Charme nicht entziehen. Autor Eschbach beschreibt überzeugend, wie extreme Situationen bewirken können, dass Menschen über sich selbst hinauswachsen.

Auch die anderen Protagonisten sind schillernde Figuren. Sie fallen charakterlich und auch äußerlich aus dem Rahmen. Dies gilt für Benito Zantini, den exzellenten Magier, und auch für seine Mitarbeiter Furry und Pictures, die einem Zirkus entsprungen sein könnten. Alex und seine Computerfreunde sind echte Freaks. Die Teilnehmer seiner Computerspiele bewegen sich auf einer Gratwanderung zwischen virtueller und realer Welt.

Während Eschbach ausführlich beschreibt, wie Simon Königs Umfeld auf seinen Wandel reagiert, vermisse ich entsprechende Reaktionen aus Helenes Umgebung zu ihrer neuen Rolle. Eigentlich Schade. Hier hätten weitere Pointen gesetzt werden können. Verständnis habe ich dafür, dass nicht alle Folgen einer solchen Bundestagswahl beleuchtet werden können. Das wäre Stoff für einen eigenständigen Roman. Das Groteske der Situation wird auch so deutlich genug.

Andreas Eschbach ist ein begnadeter Schreiber, der aus den Zutaten Politik, Technik und Krimi einen facettenreichen Thriller mit aktuellem Bezug kreiert hat. Er besticht durch Ideenreichtum und Konsequenz im Denken.