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Raumzeitreisender
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Ahaus
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 759 Bewertungen
Bewertung vom 26.06.2016
Gaarder, Jostein

Das Leben ist kurz


sehr gut

„Wir sind Menschen, Aurel. Zuerst müssen wir leben, und dann – ja dann können wir philosophieren!“ (44)

Das Buch handelt von einem Brief, den Floria Aemilia an den großen Kirchenlehrer Augustinus geschrieben hat. Mit ihr hatte Augustinus, bevor er Bischof wurde, über mehr als 10 Jahre eine uneheliche Verbindung, aus der ein gemeinsamer Sohn hervorgegangen ist. Augustinus hat Floria aufgrund seiner religiösen Überzeugungen verlassen. Der Sohn blieb bei ihm.

Die Schreiberin ist zweifelsohne eine sehr gebildete Frau. Ihr Brief ist ein intellektueller Hochgenuss. Sie klagt an, dass Augustinus die Welt der Sinnlichkeit verlassen hat zugunsten einer gegenstandslosen Ideologie. „Du erinnerst dich nur an Gedanken, aber kannst du nicht versuchen, dir auch eine wirklich sinnliche Erfahrung ins Gedächtnis zu rufen?“ (61)

Die Trennung wurde maßgeblich von Augustinus' Mutter Monika bewirkt, die ihren Sohn entsprechend beeinflusst hat. „Aber die Einzige, die zwischen uns stand, war Monika.“ (54) Ihrem mächtigen Einfluss konnte sich Augustinus nicht entziehen. Und nach ihrem Tod übernahm Gott ihre Funktion. „Aber es dauerte nicht lange, da hattest du Gott an die Stelle deiner Mutter [Monika] gesetzt.“ (51)

„Das ist die Welt, Aurel, und sie ist hier und jetzt“ (116), ist eine der prägnanten Aussagen aus dem Brief mit der Intention, sich für das Diesseits zu entscheiden. Der Glaube führt zu Widersprüchen. „Ihr verleugnet die Liebe zwischen Mann und Frau. … Aber ihr verleugnet sie im Namen Gottes.“ (119)

Jostein Gaarder greift mit diesem Buch ein aktuelles Thema auf. Florias Argumentation ist modern und spiegelt die Situation der Kirche und insbesondere die Rolle der Frau in der Kirche wieder. Sie nimmt Dinge vorweg, die nach Augustinus Realität waren. „Ich fürchte mich davor, was die Kirchenmänner eines Tages vielleicht mit Frauen wie mir machen werden.“ (118)

Es ist hinsichtlich der Lehren, die aus diesem Buch gezogen werden können nicht entscheidend, wie hoch der reale Anteil ist. Der moralische Konflikt, der beschrieben wird, ist real. Auch wenn manche Stellen bezogen auf den historischen Kontext zu modern wirken, stellt sich die Frage: Sind Religionen es wert, auf menschliche Liebe zu verzichten?

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.06.2016
Wolff, Gabriele

Das dritte Zimmer


ausgezeichnet

Psychothriller aus der Welt der Bürokratie

Gabriele Wolff ist eine Krimiautorin mit Insiderkenntnissen. Sie beschreibt die hierarchischen Strukturen, Intrigen und Beziehungen innerhalb eines Ministeriums und die Verflechtungen mit der Wirtschaft auf glaubhafte Art und Weise. Um psychische Veränderungen, wie sie im Sog der Macht entstehen können, realistisch darzustellen, sind Erfahrungen und Einfühlungsvermögen erforderlich.

Die Autorin schreibt verständlich und die Handlungsstränge sind voll innerer Logik. Sie kennt die Psychologie der Täter und Opfer. Die Vielschichtigkeit des Romans und die markanten Personenbeschreibungen tragen ihren Teil dazu bei, dass der Roman vom Anfang bis zum Ende spannend ist. Besonders gefallen hat mir die forsche und fröhliche Kriminalbeamtin Friederike Weber - ein Modell für weitere Krimis.

Bewertung vom 26.06.2016
Sarrazin, Thilo

Der neue Tugendterror


sehr gut

Einsamer Rufer in der (Medien-) Wüste

„Wenn sich die Wirklichkeit dem eigenen Denkmuster nicht fügen will, werden auch in seriösen Zeitungen notfalls die Gesetze der Statistik auf den Kopf gestellt.“ (12) Thilo Sarrazin erläutert, was er damit meint. Das „eigene Denkmuster“ in diesem Sinne ist die von den Medien verbreitete gesellschaftlich opportune Meinung, welche im Dienste einer höheren moralischen Wahrheit zu stehen scheint. Wer hiervon abweicht, gilt als Provokateur. Meinungsvielfalt, wie sie in der Medienlandschaft vor 30 Jahren noch üblich war, ist heute nicht mehr vorhanden.

Autor Sarrazin beschäftigt sich mit diesem Phänomen. Er untersucht den Begriff Meinungsfreiheit, berichtet über eigene Erfahrungen mit Meinungsherrschaft und analysiert Meinungsbildungsprozesse. Er resümiert, dass die meisten Menschen (auch gegen besseres Wissen) Mehrheitsmeinungen von Gruppen annehmen, zu denen sie selbst gehören. Dieses Phänomen wurde hinlänglich psychologisch untersucht und ist allgemein bekannt. Offensichtlich fehlt es an kritischer Selbstreflexion bzw. an Mut, eine eigene (individuelle) Meinung zu vertreten.

Sarrazin untersucht vierzehn Axiome des Tugendwahns im Deutschland der Gegenwart. Damit stößt er eine gesellschaftliche Debatte an, die von Politik und Medien gern ausgeblendet wird, jedoch überfällig ist. Die Axiome sollten gründlich gelesen und kritisch reflektiert werden. Es mangelt heute an sachlich geführten offenen Diskussionen, ohne dass gleich die moralische Keule geschwungen oder massiver Druck ausgeübt wird.

Das Buch ist ein Plädoyer für Meinungsfreiheit und gegen Gleichmacherei. „Urteilen soll dann der Leser … welche Position ihn jeweils mehr überzeugt.“ (342) Der Autor verkündet nicht „die Wahrheit“, denn „die Wahrheit“ gibt es nicht. Menschen konstruieren ihre eigenen Wirklichkeiten. Die Medien (i.V.m. der Politik) haben die Rolle übernommen, die Meinungen in eine bestimmte Richtung zu biegen. Auffallend ist, dass diese publizierten Meinungen, so einheitlich und einvernehmlich sie auch wirken, oftmals nicht mit den Meinungen der Bürgerinnen und Bürger des Landes übereinstimmen. Notwendig für einen ausgewogenen Meinungsbildungsprozess sind vielschichtige Informationen und offene Diskussionen. Nur so funktioniert Demokratie.

5 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.06.2016
Steinbrück, Peer

Unterm Strich (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Jenseits der Illusionen

Peer Steinbrück gibt einen Überblick über weltpolitische Zusammenhänge und Abhängigkeiten und beleuchtet ausführlich die wirtschaftliche Situation in USA, China und Europa. Er relativiert die Möglichkeiten der Politik, Veränderungen herbeiführen zu können. Die „wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Steuerungsknöpfe“ liegen nicht mehr in Reichweite der Nationalstaaten, auch wenn alle Parteien in ihren Wahlprogrammen etwas anderes suggerieren.

Kann eine Währungsunion ohne politische Union funktionieren? Steinbrück bekennt sich zu Europa. Er erläutert die historische Entwicklung und deren Abhängigkeiten. Als Pragmatiker sieht er das realisiert, was machbar war. Europa ist ein Staatenbund und kein Bundesstaat. Im Übrigen habe er noch niemanden getroffen, der ihm sagen konnte, wie eine gemeinsame Wirtschaftsregierung denn aussehen sollte.

Steinbrück kritisiert Bankenfunktionäre, die in einer „Parallelwelt an der Spitze“, abgeschottet vom Volk auf der Straße, ihren Geschäften nachgehen. Dass Verluste sozialisiert und Gewinne privatisiert werden, dürfe es nicht noch einmal geben. Er empfiehlt zehn Regeln zur Kontrolle der Finanzmärkte. Hinzu komme die Notwendigkeit, ein Verfahren für eine geordnete staatliche Insolvenz von Mitgliedsstaaten zu verankern.

Mit den finanziellen Grundlagen des Sozialstaates befasst sich Steinbrück in „Sozialstaat im Schraubstock“. Einer abnehmenden Anzahl von Einzahlern steht auf Grund der Demographie eine zunehmende Anzahl Leistungsempfänger gegenüber. Hinzu kommt, dass sich die Schere zwischen arm und reich in Deutschland weit geöffnet hat.

Den verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz sieht Steinbrück verletzt, wenn es für Renten eine Garantie gibt bei gleichzeitig sinkenden Löhnen für Arbeitnehmer. „Die Frage, warum ich dieser Rentengarantie im Kabinett zugestimmt habe, muss ich mir als berechtigt gefallen lassen“, resümiert Steinbrück selbstkritisch.

Die Bedingungen für Politik haben sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts fundamental verändert, weil sie, im Gegensatz zur Ökonomie, nur im nationalen Umfeld agieren kann. Dies führt zu Frustrationen gegenüber der Politik, wenn diese ihre Grenzen nicht eingesteht. Deutschland müsse sich stärker in internationalen Gremien engagieren.

Das Verhältnis zwischen Politik und Medien bezeichnet Steinbrück als „delikate Beziehung“ und begründet ausführlich warum er das so sieht. Von einer Präsentation von Politikern in Talkshows hält er nicht viel. Mit Phrasen bespicktes Gerede ohne Konsequenzen führe dazu, dass Politik an Ansehen und Glaubwürdigkeit verliert.

In „Neuvermessung und Politik“ geht Steinbrück auf die Zukunft der Parteiendemokratie ein. „Von diffusen und marginalen Ausnahmen abgesehen, bietet keine Partei mehr eine geschlossene Weltanschauung.“ Dies führe zu einer weitgehenden Entideologisierung der politischen Landschaft und auch zu einem Wähler- und Mitgliederschwund.

In „Freiheit – Solidarität – Gerechtigkeit“ erläutert Steinbrück, wie er den Weg in die SPD gefunden hat und wie er die aktuelle Situation der SPD sieht. Er greift politische Themen wie „Rente mit 67“, „Agenda 2010“ und „Hartz IV“ auf und thematisiert die Probleme, die seine Parteikollegen mit diesen Themen haben.

Intelligenz, Sachverstand und Selbstkritik kann man Steinbrück auf Grundlage dieses Buches nicht absprechen. Hinsichtlich der Europapolitik gibt es einen Dissens zwischen Steinbrück und vielen Bürgern in Deutschland. Dies ändert nichts daran, dass es sich um ein gleichermaßen anspruchsvolles wie ausdrucksstarkes Buch handelt, welches dazu beitragen wird, dass das Bild der Politik und ihrer Protagonisten, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit, in ein besseres Licht gerückt wird.

Bewertung vom 25.06.2016
Watson, James D.

Die Doppel-Helix


ausgezeichnet

Ein spannender Bericht über die Entschlüsselung der DNA-Struktur

James D. Watson hatte bereits 1950, also mit 22 Jahren, an der Indiana University Bloomington (USA) promoviert und ging anschließend als Stipendiat nach London ans Cavendish-Laboratorium der Universität Cambridge. Dort lernte er den 12 Jahre älteren Francis Crick kennen und forschte mit ihm zusammen in den Folgejahren an der Molekularstruktur der DNA. 1953 gelang ihnen der Durchbruch, die Entwicklung eines räumlichen Modells der DNA-Doppelhelix auf Basis von kristallographischen Röntgenaufnahmen von Rosalind Franklin.

Heinz Haber bringt im Vorwort das, worum es in diesem Buch geht, treffend auf den Punkt: „Es wird immer nur über die Ergebnisse berichtet. Der schöpferische Vorgang, die geistige Leistung jedoch, das emotionale Engagement des Forschers – das wird immer mit Stillschweigen übergangen. Dieses Buch jedoch gibt ihnen einen Einblick, wie eine fundamentale Erkenntnis durch einen Forscher gewonnen wurde. Jeder Forscher ist ja auch ein Mensch, und die Motive für seine Arbeit, seine Irrwege und sein möglicher Erfolg sind Ausdruck seines menschlichen Strebens.“

Es handelt sich um einen Wissenschaftsreport, vergleichbar dem von Werner Heisenberg über die Entwicklung der Atomphysik in „Der Teil und das Ganze“. Im Unterschied zu diesem fehlen in Watsons Bericht die ernsthaften Ausflüge in die Philosophie, stattdessen gibt es häufiger Ausflüge in die Partyszene des Campus. Es ist diese private Seite ihres Forscherlebens, die dem Buch Leben einhaucht und die späteren Nobelpreisträger von ihrer menschlichen Seite zeigt. Es werden Schwächen eingestanden und Fehler eingeräumt. Das ändert nichts an dem Respekt vor dieser großartigen Leistung. Der Weg zum Erfolg ist manchmal ein Zickzackkurs.

Das Buch wirkt authentisch. Die wichtigen Akteure im Umfeld der DNA-Forschung, Maurice Wilkins, Rosalind Franklin, Linus Pauling, Francis Crick, James D. Watson und Erwin Chargaff werden gewürdigt und teilweise auch charakterisiert. Watsons negativer Eindruck von Rosalind Franklin wird im Epilog relativiert, ihre hervorragenden Röntgenarbeiten anerkannt. Es handelt sich um Wissenschaftsgeschichte, an der man als an naturwissenschaftlichen Entwicklungen interessierter Leser nicht vorbeikommt.

Bewertung vom 25.06.2016
Chomsky, Noam

Die Herren der Welt


ausgezeichnet

Das Vermächtnis eines kritischen Intellektuellen

Noam Chomsky, Professor für Linguistik und politischer Aktivist, ist einer der bekanntesten Kritiker der US-amerikanischen Politik. Er gilt als Gegner des Neoliberalismus und der Globalisierung und ist ein Befürworter echter Demokratie, die der Bevölkerung dient. Sein literarisches Lebenswerk besteht aus mehreren hundert Büchern.

„Die Herren der Welt“ umfasst wichtige Essays und Reden Chomskys aus den letzten fünf Jahrzehnten. „Wären Chomskys Sensibilität und Tatkraft ansteckender, so wären sie die rettende Hoffnung und Möglichkeit der Menschheit“, schreibt Marcus Raskin im Vorwort. „Das würde die Anerkennung internationaler Bürgerrechtsgesetze bedeuten, ein Ende der Realpolitik von Folter und Völkermord.“ (13)

Gibt es einen gerechten Krieg? Diese und verwandte Fragen untersucht Chomsky in „Einfache Wahrheiten, schwierige Fragen“. „Wenn die USA absolut das Recht haben, ein anderes Land zu bombardieren, um dessen Führung zu zwingen, jemanden auszuliefern, den sie der Beteiligung an einem Terroranschlag verdächtigen, dann haben Kuba, Nikaragua und eine Reihe weiterer Länder erst recht das Recht, die USA zu bombardieren, denn die Beteiligung der USA an terroristischen Anschlägen gegen diese Staaten steht außer Zweifel.“ (181) Chomsky beantwortet auch die Frage nach dem Ursprung der bestehenden Asymmetrie. „Normen werden von den Mächtigen in ihrem eigenen Interesse und mit der Zustimmung verantwortungsbewusster Intellektueller aufgestellt. Es handelt sich wohl um eine nahezu universale historische Regel.“ (150)

Ist Intelligenz eine Art tödliche Mutation? Beim Umgang mit dem Klimawandel, und nicht nur dort, kann dieser Eindruck entstehen. Chomsky beschreibt das menschliche Verhalten am Beispiel der Finanzkrise. Dabei wird deutlich, dass das Systemrisiko nach dem angloamerikanischen Unternehmensrecht zu Gunsten kurzfristiger Gewinne vernachlässigt werden muss. Damit ist die Unvernunft institutionalisiert. Bei der Finanzkrise muss der Steuerzahler als Retter auftreten. Im Falle des Klimawandels gibt es einen solchen Retter nicht.

Die Hoffnung der Menschheit liegt bei den so genannten „primitiven“ Gesellschaften. „Die Länder, die eine große und einflussreiche indigene Bevölkerung haben, sind an vorderster Front für die Erhaltung der Erde. Die Länder, die ihre indigene Bevölkerung weitgehend ausgerottet oder marginalisiert haben, rennen begeistert ins Verderben.“ (205)

Chomskys Ausführungen sind nicht frei von Zynik. „Ich kann im Gegensatz zu Bush und Blair nicht im Namen Gottes sprechen.“ (156) Zugegeben, Chomsky hat eine einseitige Sicht auf die US-amerikanische Politik. Aber das gilt mit anderen Vorzeichen auch für die amerikanischen und westeuropäischen Leitmedien. Wer sich mit den Machtstrukturen unserer Welt kritisch auseinandersetzt, kommt an Chomsky nicht vorbei.

3 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 24.06.2016
Guillen, Michael

Brücken ins Unendliche


sehr gut

Imagination

Das Buch „Brücken ins Unendliche“ ist aus den 1980er Jahren und mittlerweile für wenige Euro im Antiquariat erhältlich. Ist es veraltet? Nein, es ist so zeitlos, wie die Mathematik selbst. Diese faszinierende Reise durch die Welt der Mathematik kann auch noch im Jahre 2016 angetreten werden. Mathematik ist keine Naturwissenschaft. Mathematische Beweise sind im ganzen Universum gültig; sie können nicht falsifiziert werden.

Autor Michael Guillen verzichtet auf Gleichungen und Formeln und erreicht damit ein breites Publikum. Es geht darum, was menschliche Vorstellungskraft in den letzten zwei Jahrtausenden auf dem Gebiet der Mathematik hervorgebracht hat. Und da dürfen große Namen wie Euklid, Euler, Newton, Gauß, Cantor, Mandelbrot und Gödel nicht fehlen.

Thematisch geht es um Cantors Mengentheorie, natürliche Unendlichkeiten, Infinitesimalrechnung, Nicht-euklidische Geometrien, Gödels Unvollständigkeitssätze, Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik, um nur Beispiele zu nennen.

Ist das erklärende Schreiben über Mathematik eine Aktivität für zweitklassige Geister, wie Godfrey Harold Hardy es sah oder ist es im Sinne von Bernhard Riemann möglich, Mathematik auch einem nichtmathematischen Publikum zu vermitteln? Die Leser mögen selbst entscheiden.

Bewertung vom 24.06.2016
Jaud, Tommy

Vollidiot


gut

Der ganz normale Wahnsinn

Kundenberater Simon Peters ist durch den Wind. Er ist auf der Suche nach einer Frau. Am liebsten hätte er ein Rendezvous mit der scharfen Bedienung aus dem Café Starbucks. Eines Tages gelingt es ihm, sie zu einem Konzert einzuladen. Die Vorbereitungen verlaufen chaotisch.

Tommy Jaud beschreibt einen kurzen Abschnitt aus dem Leben des 29-jährigen Simon Peters. Wer auch nur einen Bruchteil von dem erlebt, was dem Protagonisten widerfährt, hat ein aufregendes Leben. Bei ihm läuft alles schief.

Aber die Geschichte endet würdig. Simon glaubt, die Wurzeln allen Unglücks erkannt zu haben und schreitet zur Tat – die Komik erreicht ihren Höhepunkt.

Autor Jaud parodiert die typische Sichtweise von Männern. Er überzeugt durch Sprachwitz, der sich durch den gesamten Roman zieht. Wer nach der ersten Hälfte der Geschichte glaubt, es könne nicht mehr toller kommen, wird eines Besseren belehrt. Der Klamauk ist endlos steigerungsfähig.

Bewertung vom 24.06.2016
Müller, Thomas

Bestie Mensch


weniger gut

Reale Abgründe

Thomas Müller entlarvt den weit verbreiteten Glauben „Wir können erkennen, was jemand in der Lage ist zu tun“ und „Das Böse ist weit weg“ auf überzeugende Weise als Vorurteile. Er erkennt: „Jedes menschliche Verhalten ist bedürfnisorientiert“ und „Menschliches Verhalten lässt sich nicht katalogisieren“.

Seine Aussagen sind einfach und bestechend (manchmal zu einfach). Trotz intensiver psychologischer Grundlagenarbeit bleibt der Mensch rätselhaft. Müllers visionärer Erklärungsversuch für destruktives Verhalten (Kapitel 46- 48) klingt plausibel und seine Motivation, sich mit Kriminalpsychologie zu beschäftigen (Verhinderung von Straftaten), rechtfertigen den Stress mit den Interviews.

Seine Querverbindungen zur Kriminalpsychologie in der Literatur (Schiller, Shakespeare) sind ausbaufähig, wenn ich z.B. an Dostojewskis „Schuld und Sühne“ denke.

Das integrierte Zitat von Nietzsche „Wenn man lange genug in einen Abgrund hineinblickt, muss man vorsichtig sein, dass der Abgrund nicht irgendwann einmal in einen selbst hineinblickt“, gilt auch für den Leser dieses Buches, der sein Gleichgewicht durch humorvolle Lektüre wiederherstellen muss.

Bewertung vom 23.06.2016
Knapp, Natalie

Der Quantensprung des Denkens


weniger gut

Krise der Wahrnehmung

Natalie Knapp, Philosophin und Literaturwissenschaftlerin, möchte dabei behilflich sein, überholte Denkregeln über Bord zu werfen und neue Möglichkeiten des Denkens zu erlernen. Die Autorin relativiert den Objektivitätsanspruch der Naturwissenschaften (34) und führt ohne Mathematik in die Strukturen der Quantenphysik ein. Ihre Ausführungen sind anschaulich, teilweise auch grenzwertig. So werden physikalische Theorien, entgegen ihrer Darstellung, nicht bewiesen (56) und auch die Biophotonenstrahlung gilt nicht als weltweit anerkannt (59).

„Wissenschaft ist nicht objektiv. Sie ist nur eine von vielen möglichen Arten, Informationen über die Wirklichkeit zu sammeln.“ (34) Das ist im Prinzip richtig, dennoch fehlt der Hinweis, vielleicht weil es nicht dem Weltbild der Autorin entspricht, dass die Naturwissenschaften aufgrund der empirischen Überprüfbarkeit, erklärungsmächtiger sind als andere Denksysteme. In diesem Sinne stellt die moderne Physik auch keine abstrakten Gleichnisse zur Verfügung, „gleichsam Mythen der Moderne“. (81)

„Wir hätten diesen Pfad [Relativitätstheorie und Quantenphysik] auch mithilfe der Philosophie finden können“, darf bezweifelt werden. (50) Ich glaube da überschätzt die Autorin die Möglichkeiten der Philosophie, die eher umgekehrt, Ergebnisse der Naturwissenschaften in ihre geistigen Modelle einfließen lässt. Dennoch spricht die Autorin prägnante Punkte an. Sie macht deutlich, dass wir nicht wissen, was Materie letztlich ist und sie erläutert auf verständliche Weise verschiedene Interpretationen der Quantenphysik.

Wie viele Dimensionen hat die Realität? Die Autorin insistiert, dass wir uns in unserer Wahrnehmung, entgegen unserer Möglichkeiten, einschränken. (166) Aus dem Blickwinkel der Evolution reicht die Wahrnehmung von vier Dimensionen aus, um unser Überleben zu sichern. Das Beispiel „Flächenland“ zeigt unsere Grenzen auf, nicht unsere Möglichkeiten. Das bedeutet nicht, dass die Realität auf vier Dimensionen beschränkt sein muss. Wir können weitere Dimensionen mathematisch beschreiben und in naturwissenschaftliche Modelle integrieren, vorstellen können wir uns diese nicht.

„Die weltweiten politischen, ökologischen und wirtschaftlichen Krisen zeigen deutlich, dass es an der Zeit ist, unser Weltbild zu überdenken.“ (168) Knapp kritisiert im letzten Drittel des Buches den Materialismus und spricht von einer Krise der Wahrnehmung, die ursächlich ist für all die Probleme, die sie beschreibt. Diese Überlegungen sind nicht neu. Fritjof Capra hat sich in den 1980er Jahren ausführlich mit diesem Thema beschäftigt. Was sind die Lösungen?

Forderungen wie den Fokus von Inhalten auf Prozesse zu legen (175), ist sicherlich manchmal sinnvoll, aber im NLP schon lange bekannt. „Beweglicher Denken“ ist leichter gesagt als getan, Mußestunden kannte schon Einstein und öfter auf sein Bauchgefühl zu hören, findet durchaus meine Zustimmung. Es liegt aber offensichtlich außerhalb der Möglichkeiten des Einzelnen, dem gegen unendlich strebenden wirtschaftlichen und materiellen Wachstum (215) entgegen zu wirken. Das Problem wird sich von alleine lösen.

Die Quantenphysik gilt für den Mikrokosmos und nicht für den Mesokosmos. Natürlich ist es weise, festzustellen, „dass wir der Welt nicht als unabhängiger Beobachter gegenüberstehen“ (229), aber diese Erkenntnis allein ändert noch nichts. Das Kapitel „Was tun?“ klingt nach Ratgeber, aber davon gibt es schon genug.

Natalie Knapps kreative Arbeit besteht darin, mit Analogien zu arbeiten und Erkenntnisse aus dem Mikrokosmos auf den Mesokosmos zu übertragen. Dieser Perspektivwechsel führt zu aufschlussreichen, aber nicht wirklich neuen Erkenntnissen. Dennoch ist deutlich geworden, dass die Autorin schwierige Sachverhalte anschaulich erklären kann. Wer Capra oder andere Autoren aus dem New Age kennt, wird in diesem Buch nur wenig Neuigkeiten erfahren.