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Bücherfreundin

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Insgesamt 325 Bewertungen
Bewertung vom 21.08.2024
Krien, Daniela

Mein drittes Leben


ausgezeichnet

Berührende Geschichte über Trauer und die Rückkehr ins Leben
Im neuen Roman "Mein drittes Leben" von Daniela Krien steht die Ich-Erzählerin Linda im Mittelpunkt. Sie ist glücklich mit Richard verheiratet, die beiden haben eine Tochter, Sonja. Als das Mädchen 17 Jahre alt ist, geschieht ein schreckliches Unglück. Ein LKW-Fahrer übersieht Sonja, die mit ihrem Fahrrad unterwegs ist, beim Abbiegen. Sonja überlebt den Unfall nicht. 
Zwei Jahre später hat Linda sich von Richard getrennt und ihre Tätigkeit als Kuratorin im Kunstbereich aufgegeben. Sie ist an Krebs erkrankt und leidet unter den Folgen der Behandlung. In einem kleinen Dorf mietet sie einen Hof und führt ein zurückgezogenes Leben. Sie kümmert sich um ihren Hund Kaja und die Hühner, und sie lenkt sich mit der schweren Hofarbeit ab. Soziale Kontakte pflegt sie kaum. Richard kümmert sich um sie, er besucht sie regelmäßig und hofft, dass sie wieder zueinanderfinden. 
 
Das Buch, das sich dem Thema Trauerbewältigung widmet, ist in sehr schöner und klarer Sprache geschrieben. Mit großer Einfühlsamkeit beschreibt die Autorin Lindas tiefe Trauer über den Tod ihres Kindes und die Unmöglichkeit, ein normales Leben zu führen. Der Verlust ihrer Tochter nimmt ihr den Lebensmut, jegliche Freude und Perspektive. Anfangs noch gefangen in ihrer Trauer und ihrem Schmerz, braucht es viel Zeit, bis es Linda gelingt, sich wieder anderen Menschen zu öffnen und ihnen mit Empathie zu begegnen. Sie erkennt, dass auch ihr nahestehende Menschen schweren Lebenskrisen ausgesetzt sind und versucht ihnen zu helfen.

Wir begleiten Linda nicht nur durch die verschiedenen Phasen der Trauer, sondern erleben auch ihren harten Alltag auf dem Hof. Die körperlich schwere und für sie ungewohnte Arbeit hilft ihr dabei, den Tag zu überstehen, starke Medikamente helfen ihr durch die Nacht. In Rückblicken erfahren wir viel über Sonja und die Mutter-Tochter-Beziehung sowie das vergangene Familienleben, und wir lernen Natascha kennen, deren Tochter durch schweren Autismus behindert ist und in der Linda eine liebe Freundin findet.

Die Autorin beschreibt ihre Haupt- und Nebenfiguren sehr authentisch und lässt uns tief in Lindas Gefühls- und Gedankenwelt blicken. Ich mochte Linda, die ihr Leben neu ordnet und ihrer Trauer Raum gibt, und ich mochte Richard, der sie auf ihrem neuen Weg unterstützt und immer für sie da ist. Mir hat das Buch, in dem es neben Verlust und Trauer auch um Liebe und Freundschaft geht, sehr gut gefallen. Es ist tiefgründig und eindringlich, ohne rührselig zu sein, und es hat mich von Beginn an bis zum hoffnungsvollen Ende gefesselt und zutiefst berührt.

Absolute Leseempfehlung für diesen großartigen Roman!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.08.2024
Bronsky, Alina

Pi mal Daumen


sehr gut

Geistreiche Unterhaltung mit viel Witz und Tiefgang
In "Pi mal Daumen", dem neuen Roman von Alina Bronsky, geht es um die beiden Mathematik-Studenten Oscar und Moni, die sich zum ersten Mal in einem Hörsaal begegnen. Oscar ist 16 Jahre alt, ein etwas weltfremder Überflieger mit autistischen Zügen und Adelstitel. Moni dagegen ist schon 53 und hat neben ihrer Tochter Püppi drei Enkel, um die sie sich regelmäßig kümmern muss. Sie hat drei Jobs, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, während sich Oscar dank des Reichtums seiner Eltern nicht ums Geldverdienen kümmern muss. Trotz aller Unterschiedlichkeit und der Herablassung und Ablehnung, mit der Oscar Moni anfangs begegnet, werden die beiden zu Freunden.

Die Geschichte ist, wie ich es von der Autorin bereits kenne, in schöner Sprache mit viel Wärme und noch mehr Humor erzählt, sie liest sich sehr flüssig. Wir lernen zwei Menschen kennen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Der Ich-Erzähler Oscar tritt sein Studium mit sehr viel Selbstvertrauen an und ist wenig erfreut, als sich die etwas schrill gekleidete Moni im Hörsaal neben ihn setzt. Sie verwickelt ihn in ein Gespräch, und er erkennt sehr schnell, dass ihr die wichtigen Grundlagen der Mathematik fehlen. Moni indes entwickelt mütterliche Gefühle für den jungen Mann, der sich nicht nur schlecht ernährt, sondern soziale Defizite und sehr spezielle Verhaltensweisen aufweist. Regelmäßig versorgt sie ihn mit Nahrung, während Oscar ihr bei der Lösung komplizierter Aufgabenstellungen hilft.

Ich fand es sehr spannend, Oscar und Moni nicht nur durch die Semester mit all ihren Herausforderungen zu begleiten, sondern auch Einblick in ihr privates Umfeld zu erhalten. Wir lernen Oscars Familie kennen, die mit seinen Eigenarten lebt, auf ihn eingeht und ihn unterstützt, während Monis Familie, die nichts von ihrem Studium weiß, ihre Hilfsbereitschaft und Warmherzigkeit über die Maßen ausnutzt.
Meine Lieblingsfigur war Moni, die eine außergewöhnliche Frau mit mathematischer Begabung ist, leidenschaftliche Mutter und Großmutter mit einem großen Herzen für ihre Mitmenschen. Ich mochte auch Oscar, der sich dank der Freundschaft mit Moni in seinem Sozialverhalten erfreulich weiterentwickelt hat. 

In "Pi mal Daumen" geht es nicht nur um zwei liebenswerte Außenseiter und die Freundschaft, die sie verbindet, sondern auch um Liebe, Selbstvertrauen, die Erfüllung eines Traums - und natürlich um Mathematik. Ich habe das kurzweilige Buch, eine Komödie mit Tiefgang, sehr gern gelesen und mich bestens unterhalten gefühlt.

Leseempfehlung! 

Bewertung vom 13.08.2024
Khayat, Rasha

Ich komme nicht zurück


ausgezeichnet

Großartiger Roman über eine besondere Freundschaft
In ihrem aktuellen Buch "Ich komme nicht zurück" erzählt die Autorin Rasha Khayat die Geschichte einer Freundschaft. Hanna, Zeyna und Cem kommen aus unterschiedlichen Kulturen und sind seit den späten Achtzigern unzertrennlich. Ihr Zuhause ist eine Arbeitersiedlung im Ruhrgebiet. Hanna lebt seit dem Tod ihrer Mutter bei ihren Großeltern Felizia und Theo, Zeynas Mutter ist im Krieg durch eine Bombe getötet worden, ihre Tochter wächst bei ihrem Vater Nabil auf. Cem lebt bei seinen Eltern, die einen Lebensmittelladen betreiben. Die enge Freundschaft der drei bekommt durch die Terroranschläge des 11. September 2001 erste Risse. Zeyna und Cem leiden unter den Anfeindungen, denen sie nun ausgesetzt sind, und rücken näher zusammen, während Hanna sich ausgegrenzt fühlt. Zeyna verändert sich, sie wird ruhelos und beschließt, Fotografin zu werden, um die Welt zu bereisen. Schließlich kommt es zu einem Ereignis, das zum Bruch der Freundschaft zwischen Zeyna und Hanna führt.
 
Die Geschichte wird aus Hannas Sicht in der Ich-Form erzählt. Wir begleiten sie im Hier und Jetzt nach ihrer Rückkehr in die Wohnung der Großeltern, nachdem Felizia gestorben ist. Vor dem Hintergrund der Pandemie und den Kontaktverboten vereinsamt sie zunehmend. Sie setzt sich mit Cem in Verbindung, und sie sucht verzweifelt nach Zeyna, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Doch eine Kontaktaufnahme scheint unmöglich ...
 
Auf einer weiteren Erzählebene lernen wir Hanna, Zeyna und Cem als 9-jährige Kinder kennen und sehen sie aufwachsen, erleben sie als Jugendliche und junge Erwachsene. Hannas Großeltern bringen Zeyna große Zuneigung entgegen, Nabil und Theo verbindet eine herzliche Freundschaft.

Das Buch ist in sehr schöner Sprache geschrieben, kraftvoll und gleichzeitig poetisch, es liest sich sehr flüssig. Die Autorin beschreibt die Charaktere ganz wunderbar: die ruhige und eifersüchtige Hanna, die kämpferische und selbstbewusste Zeyna und der ausgleichende Cem, der immer für beide da ist. Ich mochte die drei Freunde, aber meine Lieblingsfigur war die sensible Hanna, die gefangen ist in ihren Erinnerungen an die Vergangenheit. 
.
Ich habe das Buch, in dem es neben Freundschaft auch um Sehnsucht und Verrat, Einsamkeit, Trauer und Ausgrenzung geht, und das auch den Zeitgeist der achtziger und neunziger Jahre sehr treffend beschreibt, sehr gern gelesen. Es hat mich bis zum hoffnungsvollen und stimmigen Ende gefesselt, berührt und nachdenklich gemacht. 
 
Absolute Leseempfehlung für diesen großartigen Roman!

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.08.2024
Spence-Ash, Laura

Und dahinter das Meer


ausgezeichnet

Wunderbares Debüt
In ihrem Debütroman "Und dahinter das Meer" erzählt die amerikanische Autorin Laura Spence-Ash die Geschichte der jungen Beatrix, die in London bei ihren Eltern Millie und Reginald Thompson aufwächst. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs beschließen ihre Eltern schweren Herzens, ihre 11-jährige Tochter vor den Bombenangriffen in Sicherheit zu bringen und nach Amerika zu Gasteltern zu schicken. Nach langer Überfahrt mit dem Schiff wird Beatrix von ihrer Gastfamilie, die aus den Eltern Nancy und Ethan Gregory sowie deren Söhnen William und Gerald besteht, herzlich aufgenommen. William ist 13, Gerald 9 Jahre alt. Bea lebt sich in Boston schnell ein und fühlt sich bald als Mitglied der Familie. Die Sommermonate auf der kleinen Privatinsel in Maine, auf der die Gregorys ein Haus besitzen, bilden den jährlichen Höhepunkt im Leben der Familie, und auch Bea liebt die unbeschwerten Ferien am Meer. Als sie 16 Jahre alt ist, endet der Krieg, und es ist für sie an der Zeit, nach London zurückzukehren. 
 
Der mitreißende Roman ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil erleben wir Beas Jahre bei den Gregorys, die zwei weiteren Teile beinhalten die Jahrzehnte danach. Die einzelnen Kapitel sind teilweise kurz und schildern abwechselnd die Ereignisse aus Sicht der einzelnen Familienmitglieder. 

Die Autorin erzählt Beas Geschichte, die einen Zeitraum von fast 40 Jahren umfasst, in ganz wunderbarer und bildhafter Sprache. Mit viel Feingefühl und Wärme beschreibt sie die liebenswerten Charaktere. Neben der anfangs sehr schüchternen Bea lernen wir die herzliche Nancy kennen, die sich immer nach einer Tochter gesehnt hat, und den ruhigen Ethan, der als Mathematiklehrer an einer Privatschule tätig ist. Während Bea ein aufregendes Leben in Boston lebt, vermissen ihre in London zurückgebliebenen Eltern sie schmerzlich und sehnen den Tag herbei, an dem sie ihr Kind wieder in die Arme schließen können. 

Wir begleiten Bea während der spannenden Jahre in Boston und erleben ihre Rückkehr nach London. Dort fällt es ihr schwer, sich wieder einzugewöhnen, sie sehnt sich nach ihrer Gastfamilie. Ich konnte sehr gut nachvollziehen, dass sie sich hin- und hergerissen fühlt zwischen zwei Welten. Im London der Nachkriegsjahre muss sie ihren Weg finden, das Verhältnis zur Mutter gestaltet sich wegen deren Eifersucht auf die Gregorys schwierig. Die Jahre vergehen, und wir folgen Bea und den Mitgliedern beider Familien durch die Zeit, erleben dabei ihre Schicksalsschläge, Höhen und Tiefen. 

Die wunderbare Geschichte, in der es neben Liebe, Familie und Freundschaft auch um Verlust und Trauer geht, hat mir sehr gut gefallen, sie hat mich gefesselt und zutiefst berührt.

Absolute Leseempfehlung! 

Bewertung vom 07.08.2024
Phillips, Julia

Cascadia


ausgezeichnet

Faszinierend und fesselnd
In ihrem zweiten Roman "Cascadia" führt uns die amerikanische Autorin Julia Phillips auf die malerische Insel San Juan im Nordwesten der USA. Dort bewohnen die Schwestern Sam und Elena gemeinsam mit ihrer Mutter ein inzwischen vom Verfall bedrohtes Haus, das die Großmutter nach dem Tod ihres Mannes gekauft hatte. Sam ist 28 Jahre alt und arbeitet nach durch die Pandemie verursachter zweijähriger Arbeitslosigkeit wieder im Bistro auf einer Fähre. Die fast 30-jährige Elena hat die kleine Familie mit ihren Einkünften im örtlichen Golfclub über Wasser gehalten, doch nach wie vor ist das Geld knapp, die unbezahlten Rechnungen stapeln sich. Es ist Sams Traum, mit Elena die Insel zu verlassen, um sich gemeinsam mit ihr ein neues, ein besseres Leben aufzubauen. Doch die Erfüllung ihres Traums liegt noch in weiter Ferne, da ihre Mutter betreut und gepflegt werden muss. Sie ist schwer lungenkrank und hat Sarkoidose, die Lösungsmittel im Nagelstudio, in dem sie arbeitete, haben sie krank gemacht. Eines Tages steht ein wilder Bär vor ihrem Haus, der das Leben der Schwestern und auch ihre Beziehung zueinander verändern wird .....
 
Wir erleben zwei Schwestern, die in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen leben. Beide arbeiten hart, doch die geringen Einkünfte reichen nicht aus, um ihnen ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Ihre Schulden wachsen durch die Behandlungskosten der Mutter stetig. Während Elena eher praktisch veranlagt ist und sich in hohem Maße um die Mutter kümmert, träumt Sam von einer sorglosen, finanziell gesicherten Zukunft. Mit dem Auftauchen des Bären geht eine Veränderung mit Elena vor. Während Sam sich vor dem Tier fürchtet, sucht ihre Schwester Kontakt zu ihm, sie füttert es und spricht mit ihm.

Die Geschichte ist in schöner Sprache ruhig erzählt und liest sich sehr flüssig. Die Autorin hat nicht nur die Hauptcharaktere, sondern auch die Nebenfiguren ganz wunderbar gezeichnet. Die psychische Verfassung von Sam ist hervorragend dargestellt, ebenso Elenas spirituelle Bindung zu dem Bären. 

Das fesselnde Buch, in dem es neben Familie und Geschwisterbeziehung auch um Armut, Krankheit und Träume geht, hat mir sehr gut gefallen, es hat mich fasziniert und erschüttert. Ich mochte die verbitterte und träumerische Sam trotz ihrer etwas schroffen Art, und ich mochte die besonnene und sanfte Elena, die den wilden Bären als Bereicherung empfindet und sich auf die Begegnungen mit ihm freut. Die Geschichte endet überraschend, heftig und schockierend. Ich habe mich natürlich gefragt, ob ich eine reale Geschichte gelesen habe oder ein Märchen. Das Buch ermöglicht jedem, seinen Gedanken viel Raum zu geben und seine ganz persönliche Antwort zu finden.

Absolute Leseempfehlung für dieses außergewöhnliche und spannende Buch!
Faszinierend und fesselnd

Bewertung vom 04.08.2024
Dutzler, Herbert

Wenn die Welt nach Sommer riecht


ausgezeichnet

Fesselnde und unterhaltsame Reise ins Österreich der siebziger Jahre
Der neue Roman "Wenn die Welt nach Sommer riecht" von Herbert Dutzler spielt auf zwei Zeitebenen. Im Hier und Jetzt betrachtet Siegfried Niedermayr ein Fotoalbum, das er nach dem Tod der Mutter aus ihrem Haus mit nach Hause genommen hat. Es ist sein allererstes Fotoalbum, und die Fotos, anfangs noch schwarz-weiß, erinnern ihn an ein bewegtes und aufregendes Jahr, als er 13 Jahre alt war.

Auf der Vergangenheitsebene entführt uns der Autor ins Österreich der siebziger Jahre. Wir begleiten den 13-jährigen Ich-Erzähler Siegfried, kurz Sigi genannt, für die Dauer eines Jahres. Sigi lebt mit seinen Eltern Edeltraud und Adolf sowie seiner jüngeren Schwester Uschi und der Großmutter in einem alten Bauernhaus auf dem Land. Er ist ein wissbegieriger Schüler, der nach den Ferien in die vierte Klasse des Gymnasiums kommt. Er liest mit großer Leidenschaft die Bücher von Karl May, interessiert sich für Raumfahrt und kocht gern, was der Vater nicht gern sieht, da Kochen für ihn Frauensache ist.

Die Geschichte hat mir sehr gut gefallen, sie ist in schöner Sprache und mit viel Herz und Humor erzählt. Die Charaktere sind liebevoll und vollkommen authentisch beschrieben. Ich mochte Sigi, der kein Kind mehr ist, der dafür kämpft, seine Haare etwas länger tragen zu dürfen und der erste romantische Gefühle für ein Mädchen aus der Parallelklasse entwickelt. Das Buch beinhaltet neben Sigis Alltag innerhalb der Familie und der Schule auch Themen wie erste Erfahrungen mit Zigaretten und Alkohol sowie die Probleme, die durch die Herausgabe einer Schülerzeitung entstehen.

Mein Lieblingskapitel ist der Besuch bei Tante Irmgard in Wien, als Sigi zum ersten Mal auf einer Rolltreppe fährt, seinen ersten Toaster sieht und sich für den Farbfernseher der Tante begeistert, damals noch keine Selbstverständlichkeit in den Haushalten. Die Unternehmungen dieses Wochenendes begeistern ihn und werden ihm immer in Erinnerung bleiben.

Das Jahr mit Sigi als 13-Jährigem ist wie im Flug vergangen. Es hat mir sehr viel Lesefreude bereitet, in die mir vertraute Welt der siebziger Jahre einzutauchen, als der Haushalt in vielen Familien noch Frauensache und die Erziehung sowohl zuhause als auch in der Schule autoritär war. Ich habe Sigi gern begleitet, oft geschmunzelt und ihn manchmal bedauert. Es würde mich sehr freuen, bald wieder über ihn und seine Familie lesen zu dürfen.

"Wenn die Welt nach Sommer riecht" ist nach "Die Welt war eine Murmel" und "Die Welt war voller Fragen" bereits der dritte Band um Sigi Niedermayr. Die Bände können unabhängig voneinander gelesen werden, da in jedem Buch die familiären Strukturen gut beschrieben werden.

Absolute Leseempfehlung von mir für diese wunderbare, mit viel Herz und Humor geschriebene Geschichte!

Bewertung vom 02.08.2024
Minnameier, Christoph

Lua Luftwurzel - Silberelfen fängt man nicht


ausgezeichnet

Zauberhaftes Kinderbuch
Der Beltz & Gelberg Verlag hat "Lua Luftwurzel - Silberelfen fängt man nicht", das Debüt von Christoph Minnameier, veröffentlicht.
Das gebundene Buch ist hochwertig gestaltet und richtet sich an Kinder ab etwa 6 Jahren. Es erzählt die Geschichte der kleinen Silberelfe Lua, deren Aufgabe es ist, sich um die Tiere im Wald zu kümmern. Sie hilft, wo sie kann und ist immer gut beschäftigt. Ihr Schreck ist groß, als sie den Hilferufen eines kleinen Vogels folgt und mit einer List in einen goldenen Käfig gelockt und eingesperrt wird. Sie ist in eine Zauberfalle der Hexe Malicia Warzenbuckel geraten, die eine angesehene Fabelwesen-Händlerin war. Inzwischen laufen ihre Geschäfte mit dressierten Haushaltshilfen schlecht. Sie freut sich, dass sie nun eine Silberelfe gefangen hat, die seltenste aller Waldelfenarten. Lua stellt bald fest, dass sie nicht die einzige Gefangene der Hexe ist. Im Käfig neben ihr hockt Fobu, ein Gnom. Wird es den beiden gelingen, bald wieder in Freiheit zu leben?
 
Die fantasievolle Geschichte ist auf 123 Seiten in 14 Kapitel unterteilt, sie ist in kindgerechter Sprache packend erzählt und eignet sich hervorragend zum Vorlesen. Auch Erstleser werden an dem liebevoll gestalteten Buch ihre Freude haben. Die Schrift ist schön groß und gut lesbar. Auf vielen Seiten befinden sich pfiffige Illustrationen in schönen Farben von Daniel Napp. Die kleinen Leser begleiten Lua, erleben geheimnisvollen Nebelzauber, lernen Zappaniel Zifferzankim kennen und erfahren, was das Zauberwort "Borkwatzka" bewirkt. Mir hat die Darstellung der Hexe sehr gut gefallen. Sie ist nicht so böse und Angst einflößend wie in anderen Märchen, man sieht in ihr auch eine Person mit eigenen Sorgen und Nöten.
 
Das mitreißende und märchenhafte Buch mit dem schönen Ende, in dem es auch um Freundschaft und Hilfsbereitschaft geht, hat mir sehr gut gefallen, und ich hoffe auf weitere Leseabenteuer von Lua Luftwurzel. Die kleine Silberelfe ist einfach zum Verlieben und wird Jungen und Mädchen gleichermaßen begeistern. 

Absolute Vorlese- und Leseempfehlung!
Zauberhaftes Kinderbuch

Bewertung vom 30.07.2024
Parrott, Ursula

Ex-Wife


sehr gut

Wiederentdeckung eines fast 100 Jahre alten Skandalromans
Der Fischer Verlag hat "Ex-Wife", den Roman der amerikanischen Autorin Ursula Parrott, der bereits im Jahr 1929 anonym veröffentlicht wurde, nun in deutscher Übersetzung herausgegeben. Das Buch erregte damals in den USA sehr viel Aufsehen und löste einen Skandal aus. Es verkaufte sich mehr als 100.000 Mal und wurde zum Bestseller.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Patricia, die nach nur drei Jahren Ehe von ihrem Ehemann Peter verlassen wird. Sie haben früh geheiratet, Pat ist 21, Peter 22 Jahre alt. Wenig später kommt ihr Sohn Patrick zur Welt, der mit drei Monaten stirbt. Peter hat Affären mit anderen Frauen, und als Pat ihm untreu wird, reagiert er mit tiefer Enttäuschung, hielt er Pat doch immer für die reinste Frau der Welt. Als Pats Freundin Hilda aus Boston zu Besuch kommt, kommen Hilda und Peter sich näher. Nach drei Wochen bittet Peter seine Frau um die Scheidung, da er Hilda heiraten möchte.

Die Handlung erstreckt sich über einen Zeitraum von nur wenigen Jahren und lässt uns eintauchen ins New York der zwanziger Jahre. Wir begleiten Pat, die in einem Kaufhaus tätig ist und sich nach der Trennung von Peter mit ihrer Freundin Lucia eine Wohnung teilt. Tagsüber schreibt sie Werbetexte, nachts besucht sie Clubs und Flüsterkneipen. Es wird getanzt, geraucht, gut gegessen, der Alkohol fließt in Strömen, und viele Männer liegen Pat zu Füßen. Doch ihr Herz gehört immer noch Peter ...

Das Buch ist in der Ich-Form in schöner Sprache erzählt und liest sich sehr flüssig. Wir erhalten Einblick in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als die Stellung der Frau in Ehe und Gesellschaft noch eine ganz andere war als heute. Scheidung war ein Skandal, und geschiedene Frauen wurden oft wie Freiwild behandelt. "Ex-Wife" ist eine Geschichte über Frauen, Ehe und Affären, Liebe und Freundschaft. Es werden auch traurige Themen behandelt, wie häusliche Gewalt, Übergriffigkeit, Verlust und Trauer.
Mir hat Pats Entwicklung sehr gefallen. Anfangs versinkt sie in Selbstmitleid und wünscht sich sehnlichst, dass Peter zu ihr zurückkehrt. Mit Lucias Hilfe gelingt es ihr, ihr Leben neu zu gestalten. Die modebewusste Frau widmet sich nicht nur intensiv ihrem Äußeren, sondern entwickelt auch beruflichen Ehrgeiz in der männlich dominierten Werbebranche.

Die Autorin hat die Charaktere sehr authentisch und bildhaft gezeichnet. Pat ist eine moderne Frau, die die neugewonnene Freiheit in vollen Zügen genießt. Trotz ihrer erfolgreichen Karriere sehnt sie sich nach Romantik, Ehe, Stabilität und Mutterschaft. Ich habe sie gern begleitet, auch wenn ich sie oft als oberflächlich empfand und ihre Handlungen nicht immer nachvollziehen konnte. Meine absolute Lieblingsfigur war Lucia, die ihrer Freundin stets mit Rat und Tat zur Seite steht.

Das fesselnde Buch hat mir sehr gut gefallen - Leseempfehlung!

Bewertung vom 27.07.2024
Buck, Vera

Das Baumhaus


sehr gut

Atmosphärischer Thriller
Im Mittelpunkt des aktuellen Thrillers "Das Baumhaus" der Autorin Vera Buck steht die Familie Saunders, bestehend aus dem Vater Henrik, der Mutter Nora und dem 5-jährigen Sohn Fynn. Henrik ist Kinderbuchautor, seine Frau arbeitet als Meerestechnikerin. Sie wohnen in Greifswald und nehmen eine 15-stündige Fahrt auf sich, um im schwedischen Västernorrland das idyllisch gelegene Ferienhaus am See zu übernehmen, das einst Henriks Großvater gehörte. Henrik beschäftigt sich viel mit Fynn, er erzählt dem Jungen phantasievolle Geschichten und zeigt ihm den großen Wald, der zum Grundstück gehört. Während eines Spiels im Wald verschwindet Fynn spurlos, die Polizei startet sofort eine große Suchaktion, um den Jungen zu finden. 

Auf einer zweiten Erzählebene lernen wir Rosa kennen. Sie hat ein Studium in forensischen Wissenschaften absolviert und ist nach Hause zurückgekehrt, um ihren Bruder Ebbe zu pflegen. Nachdem sie im Wald bei der Suche nach Tierkadavern das Skelett eines Kindes ausgegraben hat, geht sie mit ihrem Fund zur Polizei. Besteht hier ein Zusammenhang mit Fynns Verschwinden?
Der dritte Erzählstrang widmet sich der jungen Marla, die als Kindergartenkind entführt wurde und sich seitdem in der Gewalt ihres Entführers befindet.

Die Geschichte, in der einem Baumhaus eine wichtige Rolle zukommt, ist in einfacher und klarer Sprache erzählt, sie liest sich sehr flüssig. Wie bereits in "Wolfskinder", dem ersten Thriller der Autorin, sind auch hier die einzelnen Kapitel abwechselnd aus der Perspektive verschiedener Personen in der Ich-Form geschrieben. Die Autorin ermöglicht es dadurch dem Leser, das Geschehen durch die Augen von Henrik, Nora, Rosa und Marla besonders intensiv zu erleben. 

Im ersten Teil des Buches geht es eher gemächlich zu, wir lernen nach und nach die unterschiedlichen, gut gezeichneten Charaktere kennen. Ab dem zweiten Teil steigt mit Fynns Verschwinden der Spannungsbogen stark an und bleibt bis zum Ende auf konstant hohem Niveau. Ich mochte die geheimnisvolle und bedrohliche Atmosphäre und habe mich von der Autorin mehrmals auf falsche Fährten führen lassen. Es kommt zu einigen Wendungen, der Aufdeckung von Geheimnissen und unerwarteten Erkenntnissen, so dass die Suche nach dem Täter bis zur für mich vollkommen überraschenden Auflösung sehr spannend blieb.

Der Thriller ist packend und mitreißend, durch die Cliffhanger am Ende jedes Kapitels wird die Spannung noch zusätzlich gesteigert. Am Ende finden die einzelnen Erzählstränge zu einem sinnvollen Ganzen zusammen. Auch wenn ich die Geschichte nicht immer ganz realistisch fand und der letzte Teil handlungsmäßig etwas überfrachtet war, hat sie mich gefesselt und ist mir stellenweise unter die Haut gegangen.

Leseempfehlung für diesen atmosphärischen Thriller!

Bewertung vom 20.07.2024
Abécassis, Éliette;Gleinig, Kirsten

Bevor wir uns vergessen


ausgezeichnet

Schöne Liebesgeschichte - ganz wunderbar erzählt
Im Mittelpunkt von "Bevor wir uns vergessen", dem aktuellen Roman der französischen Autorin Éliette Abécassis, stehen Alice und Jules, die seit über 60 Jahren ein Paar sind.

Im ersten Kapitel, wir schreiben das Jahr 2022, lernen wir Alice und Jules kennen, die Mitte Achtzig sind und sich auf einer Parkbank im Jardin du Luxembourg treffen. Die beiden sind sich sympathisch und kommen ins Gespräch, aber sie wissen nicht, dass sie sich nicht zum ersten Mal begegnen, dass ein gemeinsames langes Leben hinter ihnen liegt. 

Die Autorin erzählt die Geschichte in umgekehrter Chronologie und blättert dabei langsam die lebenslange Beziehung eines Paares auf, das durch Höhen und Tiefen gegangen ist. Alice ist 18 Jahre alt, als sie im Mai 1955 dem 22-jährigen Jules begegnet. Auf ihre zu Beginn heimliche Liebesbeziehung folgen Heirat und die Geburten ihrer beiden Kinder. Doch das Glück der beiden ist nicht von Dauer. Jules verfolgt mit viel Ehrgeiz und Fleiß seine Karriere als Architekt, während Alice sich um die Kinder und den Haushalt kümmert. Das Paar verbringt nur noch wenig Zeit miteinander, und Alice fühlt sich zunehmend von ihrem Mann vernachlässigt.

Der mitreißende Roman ist in ganz wunderbarer Sprache geschrieben und hat mich von Beginn an begeistert. Die Autorin hat die interessanten Figuren sehr authentisch skizziert. Ich mochte Alice und Jules und habe sie gern durch die Jahrzehnte begleitet, dabei nicht nur ihren Alltag erlebt, ihre Unzufriedenheit und Irrwege, sondern auch die tiefe Zuneigung gespürt, die sie verbindet. Obwohl sie so verschieden sind und unterschiedliche Eigenarten und Vorlieben haben, finden sie sich immer wieder. Jules liebt und verehrt seine Frau, dennoch können sie ihr Glück nicht bewahren. 

Die Geschichte, in der es um Liebe, Leidenschaft und Sehnsucht, Untreue und Altwerden geht, hat mir sehr gut gefallen, sie hat mich gefesselt und tief bewegt. Ich fand das Buch ganz großartig, ich mochte die kluge Sprache und den außergewöhnlichen, rückwärts gerichteten Erzählstil. Ich mochte auch Alice und Jules, auch wenn ich ihre Handlungsweisen nicht immer verstanden habe. Dass die beiden trotz aller Widrigkeiten und Enttäuschungen eine tiefe Liebe verbindet, die sie bis in hohe Alter zusammenhält, hat mich sehr berührt. Ein krönender Abschluss ist für mich der Brief am Ende des Buches, den Jules nach ihrem Kennenlernen an Alice geschrieben hat und der eine wichtige Rolle in der Geschichte spielt.

Leider umfasst das Buch nur 174 Seiten. Gern hätte ich noch viel mehr über Alice und Jules gelesen - absolute Leseempfehlung für diesen großartigen Roman!