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ins_lebenlesen
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Schleswig-Holstein

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Insgesamt 71 Bewertungen
Bewertung vom 01.09.2023
Aoyama, Michiko

Frau Komachi empfiehlt ein Buch


sehr gut

In fünf Kapiteln begegnen wir fünf verschiedenen Ich-ErzählerInnen und ihren Lebensgeschichten. Alle befinden sich auf unterschiedliche Weise in einer Sackgasse und hängen in ihren Mustern und von Selbstzweifeln geprägten Glaubenssätzen fest. Der Knotenpunkt ist die Bibliothekarin Sayuri Komachi, zu der alle auf magische Weise gelangen. Frau Komachi wird äußerlich als massiv und einschüchternd beschrieben. Doch sobald sie einen anschaut und spricht, strahlt sie etwas sehr Wohlwollendes, Verständnisvolles und Ruhiges aus. Wie sie da sitzt mit ihrer Bonbon-Dose, ihrer Strickjacke und ihren gefilzten Figürchen und für jeden Suchenden das besondere Buch und das passende Orakel bereithält, wünsche ich mir sofort durch ihre Augen gesehen zu werden und zu erfahren, welches Buch sie für mich ausgesucht hätte.

Es ist eine sehr japanische Geschichte – Parabel würde ich fast sagen - in einer einfachen, nüchternen Sprache erzählt, die sich sehr leicht lesen lässt. Die geheimnisvolle Person der Frau Komachi fügt ihr das Mystische hinzu und zieht uns aus der Realität in eine innere Welt. Es geht vor allem darum, den Blick offen zu halten für das Verborgene, das in allem schlummert und das wir vor lauter Angst und Zweifeln oft nicht sehen. Die Protagonisten sind eher zurückhaltende, schüchterne Personen, die durch die Begegnung mit Frau Komachi ihr Potenzial entfalten.

Ich mag diese unaufgeregten, parabelhaften japanischen Geschichten und bin noch in einer weltvergessenen Urlaubsstimmung. Beste Voraussetzungen, in diese warmherzige Atmosphäre mit den naiv liebenswürdigen, nachdenklichen Personen abzutauchen. Auch wenn ich literarisch gern mehr gefordert werde und die Erkenntnisse, die die Protagonisten gewinnen vielleicht ein bisschen profan und abgenutzt wirken, findet Michiko Aoyama einfühlsame und lebenskluge Worte, die mich sogar motivieren meine Energien neu auszurichten. Ein Ergebnis ist, dass ich heute Morgen nach langer Zeit meine Yoga-Übungen wieder aufgenommen habe.

Die Übersetzerin ist Sabine Mangold, die u.a. auch Murakami und Ogawa übersetzt und 2019 mit dem Übersetzerpreis der Japan Foundation geehrt wurde.

Bewertung vom 31.08.2023
Obermanns, Berthe

Und hinter mir das Nichts


ausgezeichnet

„Den Schreck dieses Augenblicks werde ich nie vergessen.“ „Du wirst ihn vergessen, es sei denn, Du errichtest ihm ein Denkmal.“

Berthe Obermanns erzählt in ihrem zweiten Buch UND HINTER MIR DAS NICHTS von der Suche nach einem neuen Leben, wenn nach einer schweren mentalen Erschütterung spürbar wird, dass das alte auf Lügen gebaut ist.

„Das Lügen war ich gewohnt. Ich log, um der Wirklichkeit Sinn zu geben und weil die Lügen es leichter machten. Ich log, um dieses bessere Leben, das ich mir noch immer wünschte, zumindest in einer erfundenen Realität vor mir zu sehen.“ (S. 32)

Im Falle von Sara, der jungen Psychologin, ist diese Erschütterung der Suizid ihres ERSTEN Patienten. Es gab keine Anzeichen, es gibt keine Erklärung, es wird keine Absolution geben. Alles, was ihr bis zu diesem Punkt Halt im Leben gab, erscheint plötzlich fremd und unpassend. Ihr Leben wird zu einer Schussfahrt ins Bodenlose, auf der sie jeden Anker zum Alltag von sich stößt. Was folgt ist eine schmerzhafte Suche nach Erklärungen, dem Sinn, der Wahrheit, dem Grund zu leben. Den Schmerz, den diese Suche auslöst, kann sie kaum ertragen und doch ist jede Umkehr ausgeschlossen.

Sarah bewegt sich fiebernd, getrieben und verzweifelt durch eine surreale Wirklichkeit voller traum- und albtraumhafter Begegnungen. Die Autorin spart nicht mit Methaphern und Symbolik und doch trifft sie mit jedem Wort den Kern. 🩶

Es fühlte sich an wie eine Tiefenbohrung in meine Seele. Als hätte Berthe Obermanns mit Worten, die ICH fühlte, aber nicht formen konnte, einen Teil meiner Geschichte erzählt. Ich möchte darüber reden, das Buch Freunden und Familie entgegen strecken und sagen: Lest! Das war ich! Das sind WIR, die aus einer tiefen Krise wieder auferstehen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 31.08.2023
Read, Shelley

So weit der Fluss uns trägt


sehr gut

Shelley Reads Debüt SO WEIT DER FLUSS UNS TRÄGT wurde hier schon oft mit dem GESANG DER FLUSSKREBSE von Delia Owens verglichen, das ich in sehr guter Erinnerung habe. Ich bin gespannt ob der Vergleich trägt.

Die 17jährige Victoria wächst in den 40er Jahren auf einer Pfirsichplantage in den Bergen Colorados auf. Dort beherrschen Angst vor Veränderungen und Ausgrenzung das dörfliche Zusammenleben. Nach einem schrecklichen Unfall, der die Familie zerstört hat, sieht Victoria sich als einzige Frau im Haus schon früh in die Rolle des Mädchens für alles und der Versorgerin gedrängt. Als sie sich – zwischen Gehorsam und Auflehnung – erstmals verliebt, ist es auch das erste Mal, dass sie sich gesehen fühlt und spürt, dass sie ihren eigenen Weg gehen muss.

Victoria gerät in eine Spirale tragischer Ereignisse und muss schwerwiegende einsame Entscheidungen treffen. Instinktiv findet sie ihren Weg, indem sie sich in die Natur zurückzieht und genau wie der Gunnison River, der das Leben dieses Landstrichs bestimmt, unbeirrt ihrem Fluss überlässt.

„Ich krümmte meine Zehen um die glitschigen Steine unter meinen Füßen und musste gegen die Strömung das Gleichgewicht halten, und dann schloss ich meine Augen und lauschte. Ich kann nicht genau sagen, was dieses klare Wasser mir mitteilte. Ich weiß nur, dass mir die reine Wahrheit sagte.“

Man spürt in jedem Satz, dass die Autorin in dieser Landschaft in Colorado tief verwurzelt und durchdrungen von einer großen Liebe für ihre Eigenheiten ist. Mit großer sprachlicher Kraft wird die Natur lebendig, der Saft der Pfirsiche tropft förmlich durch die Finger.

Die Geschichte wird einfühlsam aus der Perspektive von Victoria erzählt. Ihre Naturverbundenheit erinnert mich tatsächlich an „Der Gesang der Flusskrebse“. Doch hat mich Shelley Reads Geschichte nicht so tief berühren können. Dafür hätte ich weniger Adjektive und Pathos und mehr Kanten und Tiefen in den Charakteren gebraucht. So bleibt es mir ein schönes Leseerlebnis, das aber auch bald wieder verblassen wird.

Übersetzung von Wibke Kuhn.

Bewertung vom 20.08.2023
Hargrave, Kiran Millwood

Der Tanz der Frauen


sehr gut

Von dem Cover ging etwas aus, dem ich mich nicht entziehen konnte, die Farben, der Blick, die mittelalterliche Kulisse.

Die britische Lyrikerin und Romanautorin Kiran Millwood Hargrave entführt uns in ein Dorf in der Umgebung Straßburgs um 1518, wo die schwangere Lisbet mit ihrem Mann und ihrer Schwiegermutter in bescheidenen Verhältnissen lebt. Sieben Jahre der einsamen Trauer um ihre fehl- und totgeborenen Kinder haben Lisbet zermürbt. Sie lebt in einer Zeit, in der der Wert einer Frau an ihrer Gebärfreudigkeit gemessen wird und Frauen, die keine Kinder austragen können als verflucht gelten. Ihre Verzweiflung trägt sie im Inneren verschlossen und erlaubt sich hin und wieder den Rückzug zu einem verlassenen Tanzbaum, wo sie einen Schrein für ihre verlorenen Kinder errichtet hat. Doch so weit wie jetzt hat sie noch keine Schwangerschaft gebracht. Nun muss ihr Mann das Dorf verlassen, die Schwägerin Nethe kehrt aus der Verbannung zurück und auf dem Marktplatz im nahen Straßburg beginnen die Frauen zu tanzen. Erst eine, dann mehr und immer mehr. Die Tänzerinnen scheinen in einer Massentrance gefangen, ohne Pause, ohne Musik, mit blutenden Füßen.

Lisbet gerät in den Strudel der Ereignisse, in einen Kampf auf Leben und Tod, um Freundschaft, Liebe und ihr ungeborenes Kind. Der Tanz wird zum Symbol der Selbstbehauptung, des leisen, aber kraftvollen Aufbegehrens der Frauen.

Die Sprache ist so opulent wie das Cover, manchmal auf einem schmalen Grat zum Kitsch. Doch ist sie eben sehr bildhaft, sinnlich, zeitweise lyrisch, mit starken Bildern der Menschen, der Landschaft, der mittelalterlichen Verhältnisse. Auch wenn ich mir mehr historischen Tiefgang gewünscht hätte, die Geschichte schreitet mit dramatischen Wendungen sehr spannend voran. Ich habe mitgefühlt, gehofft und gebangt und mich sehr gut unterhalten.

Bewertung vom 13.08.2023
Giordano, Paolo

Tasmanien


sehr gut

Paolo Giordano ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch promovierter Physiker. Schon in seinem Debüt „Die Einsamkeit der Primzahlen“ gießt er Fiktion und Wissenschaft mit Poesie in eine literarische Form, in der sich menschliche Kraft in ganz besonderer Weise ausdrückt.

Auch in TASMANIEN sind die Protagonisten, allen voran der Ich-Erzähler Paolo, überwiegend Wissenschaftler und auch hier verwebt Giordano das literarische Erzählen mit Elementen aus der Physik, womit er der Fiktion etwas sehr Gegenwärtiges und Greifbares hinzufügt.

Paolo hat der Forschung den Rücken gekehrt und ist Schriftsteller und Wissenschaftsjournalist. 2015, mit Anfang 40 steckt er in einer Krise, ausgelöst durch die Entscheidung seiner 10 Jahre älteren Frau, das Bemühen, um eine Schwangerschaft zu beenden. Dem Riss, den diese Entscheidung auch durch die Beziehung zieht, entzieht sich Paolo durch Flucht. Als ein Mann der verpassten Gelegenheiten, der sich zurückzieht, anstatt zu konfrontieren, reist er nach Paris, das gerade unter dem Einfluss schwerer Terroranschläge steht. Er unterstützt Freunde bei ihren privaten und beruflichen Problemen, fängt an sich mit Wolkenforschung zu beschäftigen, verstrickt sich in eigene amouröse Begegnungen und nimmt die Arbeit an seinem Buch über die Atombombe wieder auf. Doch unbewusst, indem er sich all den Facetten der krisengeschüttelten privaten und globalen Umgebung zuwendet, geht er doch auf die Suche nach SEINEM Platz in der Welt.
Ich mag den Schreibstil sehr: etwas lakonisch, manchmal poetisch und vereinzelt selbstironisch. Die Handlung mäandert durch viele Schauplätze, Zeitebenen und Themen. Ich muss aufpassen, dass ich den Faden nicht verliere. Wörtliche Rede ohne Anführungszeichen macht es mir nicht leichter. Das ist ein Buch, das man nicht einfach weg liest und das auch nicht auf jede Frage eine Antwort gibt. Vielleicht hat es mich am Ende sogar etwas ratlos zurückgelassen. Doch es wirkt nach, denn es erzeugt einen Klangteppich unserer Zeit, der genau meinem Gefühl entspricht: wir leben in einer durch die Klimakrise, unübersichtliche Kriegsgeschehen und extreme politische Entwicklungen höchst komplexen und beängstigenden Zeit. Eigentlich scheint die Menschheit diesem Planeten nicht zumutbar. Das führt auch im Privaten zu Brüchen. Doch sind wir auch Schönheit, Liebe, fühlende Wesen und durch etwas verbunden, das stark und uralt ist, das uns in die Lage versetzt, das Ruder doch noch irgendwie rumzureißen.

Für mich ein unbedingt lesenswertes Buch, das mich inhaltlich den Faden von T.C.Boyles „Blue Skies“ hat aufnehmen lassen und das mit ihm zusammen weiter in mir rumoren wird.

Bewertung vom 01.08.2023
Heti, Sheila

Reine Farbe


ausgezeichnet

Was zur Hölle ist das? Ich stolpere durch die ersten Zeilen und sehe mich erstaunt um. Was ist das für eine Form, was für ein Genre? Was erwartet mich hier? Auf jeden Fall etwas Anderes, Intensives, das langsam und mit voller Aufmerksamkeit gelesen werden will.
Zunächst erscheint Gott und tritt an Tag 6 seiner Schöpfung einen Schritt zurück, um sein Werk auf sich wirken zu lassen. Dieser Moment, in dem er seinen ersten Entwurf begutachtet dauert schon die Ewigkeit auf dieser Erde. Vielleicht ist dieser Entwurf nicht gut genug und es wird einen Zweiten geben.

Mira ist Kunststudentin an der Akademie der Kritiker. Eine von uns in DIESER Welt des ersten Entwurfs. In dieser Welt erschafft die Kunst eine zweite, in der wir (Gott) „zeigen, wie die nächste Version unserem Wunsch nach aussehen sollte.“ Mira erzählt von ihrer Ausbildung zur Kunstkritikerin, ihrem Job als Lampenverkäuferin, von der Liebe zu einer Freundin, ihrem Leben. Sie wirkt seltsam fremd, kontur- und orientierungslos, bis ihr Vater stirbt. Als seine Seele sich mit ihrer verbindet, erfährt sie den friedlichsten Moment ihres Lebens, in den sie das Bedürfnis hat, noch tiefer einzutauchen.

Es geht um Glauben, Spiritualität, Philosophie, Psychologie, Klimakrise und vieles mehr. Alles wird verwoben zu einer Art neuer Schöpfungsgeschichte mit Mira im Mittelpunkt, die nach einer Daseinsform sucht, in der sie das Menschsein erträgt.

Der Ton ist getragen, mystisch, distanziert. Doch kommt er aus tiefster Seele mit bedeutungsvollen Sätzen. Aus den kurzen Kapiteln (manchmal nur ein Satz) hängen offene Enden. An denen ich zeitweise verzweifel, weil ich sie nicht verstehe und gleichzeitig erglühe, weil sie sich auf einer höheren gefühlsmäßigen Ebene doch erschließen.

Dieser Text erfordert ein Einlassen sowie das Loslassen von Erwartungen. Er schenkt im Gegenzug Schönheit, Neudenken, manchmal auch ein Hineinfließen. Mich hat er in seiner Komplexität, besonderen Form und Sprache beglückt.

Bewertung vom 16.07.2023
Büsing, Annika

Koller


ausgezeichnet

Jahrelang dümpelst Du durch Deinen Teich mit all Deinen Grenzen, Glaubenssätzen und Schutzmauern und plötzlich – in diesem Fall in einem Park in Leipzig – tritt jemand in Deinen Weg und alles ist anders. Du lässt alles stehen und liegen und tust das Mutigste, was Du je getan hast. Es sind die Zufälle, das Unbeabsichtigte, sagen wir einfach DAS LEBEN, das die tiefsten Spuren hinterlässt.

Koller platzt mit seiner ganzen Präsenz, mit seiner behinderten Schwester, mit einer Ex-Freundin, die aber doch noch irgendwie seine Freundin ist, mit seiner ganzen brachialen Unbefangenheit und Unmittelbarkeit in das eher introvertierte Leben von Chris. Doch dass auch so einer mit überwältigenden Gefühlen und Unaussprechlichem zu tun hat, drückt sich in einer Flut von Tränen aus, die Kollers Gesicht in jedem stillen Moment überschwemmt.

Von Chris, dessen Perspektive wir einnehmen, erfahren wir nicht viel. Er ist verschlossen, nachdenklich, voller Skepsis und Selbstzweifeln und VERLIEBT. Gegensätze ziehen sich bekanntlich an und schwupp, sitzen die beiden in einem alten VW Polo und wollen eigentlich ans Meer. Doch da im Leben selten das passiert, was der Plan ist, beginnt ein wilder Roadtrip auf den Spuren von Kollers Leben durch Deutschland ohne Navi, Karte und Kompass.

Wow! Annika Büsing hat mich schon mit ihrem Debüt NORDSTADT überzeugt. Hier packt sie noch einen drauf. Sie übertrifft sich an Leichtigkeit, mit der sie spielerisch in Nebensätzen große Worte unterbringt. Während die Story scheinbar mühelos und mit viel Humor an Fahrt und Dynamik aufnimmt, gewinnen die Protagonisten mit jeder Seite an Tiefe. Wir driften von einer unerwarteten Wendung zur nächsten, teilweise wird es etwas absurd, aber das passt zu dem Trip. Gleichzeitig erzählt sie aber auch voller Wärme und Tiefe mit zarten Untertönen von Familie, Freundschaft, Geschwisterliebe, Homosexualität, Fragen von Schuld und Reue und von der langsam keimenden Liebe zwischen Chris und Koller.

Wer NORDSTADT geliebt hat, wird KOLLER lieben, vielleicht sogar mehr. Wer beide nicht kennt: das müsst Ihr ändern!

Bewertung vom 11.07.2023
Keegan, Claire

Das dritte Licht


ausgezeichnet

Was ist das für ein wunderschönes Buch! Es drängt mich förmlich, diese kleine in Leinen gebundene Schönheit mit dem magnetisch wirkenden Cover an mein Herz zu drücken, es aufzuschlagen, durch das hochwertige Papier zu blättern und es nochmals an mein Herz zu drücken.

Und so geht es mir auch mit dem kleinen Mädchen, der Ich-Erzählerin, das so verloren, introvertiert und schutzlos in mein Leben tritt. Es braucht nur wenige Zeilen und ein paar Sätze, in denen jedes Wort sitzt, um mittendrin zu sein. Sehr schnell entsteht vor meinem Auge ein plastisches, sinnliches Bild von dem Mädchen, den prekären Verhältnissen, in denen es lebt, von den irischen Dörfern, durch die sie mit ihrem Vater zu den entfernten Verwandten ans Meer fährt, wo es für eine Weile bleiben soll, weil die Familie mit der Zahl der Kinder und einer erneut hochschwangeren Mutter überfordert ist. Die Bilder formen sich aus Licht, Gerüchen, Dialekt, der Art wie die Protagonisten sprechen und der Art wie sie tun was sie tun.

Zurückgelassen bei diesen Fremden begegnet das Mädchen der Angst und der Unsicherheit, aber vor allem der Hoffnung. Hoffnung auf Liebe, oder zumindest Zuwendung und Raum für sich und seine Bedürfnisse.

„Aber das hier ist ein anderes Zuhause. Hier gibt es Raum und Zeit zum Denken. Vielleicht bleibt sogar Geld übrig.“ (S.18)

Mr. Kinsellas Worte über das Mädchen: „Sie sagt, was sie zu sagen hat und nicht mehr“ (S. 65) könnten auch für die Erzählung stehen. Die Gefühle, die Zärtlichkeit der entstehenden Verbindung mit diesem Paar, drücken sich durch das Ungesagte aus. So entsteht eine eindringliche verdichtete Geschichte über Zugehörigkeit, Kindheit, Verlust und das komplexe Gebilde FAMILIE. Am Ende bleibe ich sprach- und verständnislos sitzen und frage mich was mit mir geschehen ist. Und fange gleich nochmal von vorn an, weil es nicht schon zu Ende sein darf. Zu viel ist mir vielleicht noch verborgen geblieben. Wunderbar! 🧡🧡🧡

Bewertung vom 09.07.2023
Baier, Hiltrud

Tangosommer


sehr gut

Kennt Ihr das? Die Luft ist raus, Ihr kommt in die nächste Geschichte einfach nicht rein? Meine Medizin: mit einem Eis in die Hängematte und in eine leichte sommerliche Geschichte voll Liebe, Licht und sympathischen Menschen abtauchen.

Hiltrud Baier kam mit der Geschichte von Riitta und Phil genau im rechten Moment. Was bei Riitta und Phil vor über 30 Jahren als heimliche Liebe zwischen Abiturientin und Referendar begann, hat heute, Riitta ist inzwischen Mitte 50, immer noch Kraft. Doch Phil hat eine Familie mit drei erwachsenen Kindern und Riitta lebt inzwischen allein im Norden Finnlands in einem kleinen Holzhaus am See und hat sich in ihrer Welt sehr gut eingerichtet. Ein Mal im Jahr trifft sie Phil für eine Woche zu einem Festival des Tangos und ihrer Liebe. Inzwischen keine Anrufe, Briefe, Besuche, kein gemeinsamer Alltag. Doch dieses Jahr ist alles anders. Beide machen sich unabgestimmt gleichzeitig auf den Weg. Riitta nach Süddeutschland und Phil mit seiner Tochter Johanna und seiner Enkelin nach Lappland. Werden sie sich finden?

Wie komme ich zu so einer Geschichte? Mich haben die Nächte ohne Nacht wie in Finnland Mittsommer genannt wird, der Tango und die Weite Lapplands mit seinen Seen gelockt. Hiltrud Baier ist es sehr gut gelungen, die Vorstellung davon lebendig zu machen. Ich sah mich selbst im Haus am See mit den Händen den heißen morgendlichen Kaffee umschließend den Vögeln zusehen und in der Stille versinken. Dazu die Melancholie eines finnischen Tangos.

Die Geschichte über Liebe, Familie, Sehnsucht und Schicksal ist spannend mit viel direkter Rede, vielen Wendungen und Perspektivwechseln erzählt. In kurzen Kapiteln wechseln sich Riitta, Phil und Johanna ab, ihren Blickwinkel und ihre Geheimnisse Stück für Stück aufzublättern. Über einige etwas unglaubwürdig und konstruiert wirkende Entwicklungen konnte ich hinwegsehen. Ich hab der Hängematte nochmal einen Schubs gegeben und mich gut unterhalten. Herz, was willst Du mehr?
Falls Ihr noch was Süffiges für den Urlaub braucht, nehmt TANGOSOMMER mit.

Bewertung vom 09.07.2023
Büsing, Annika

Nordstadt


ausgezeichnet

Wenn Du aus der NORDSTADT kommst, Deine Mutter gestorben ist als Du 8 warst, Dein alkoholkranker Vater Dich bei jeder Gelegenheit verprügelt hat und Du mit 17 vergewaltigt wurdest, ist Deine Zukunft am Rande der Gesellschaft festgeschrieben. So das Klischee. Nene, Mitte 20, schwimmt. Im Wasser zieht sie ihre Bahnen, schöpft Kraft und Lebenswillen. Und wehrt sich gegen das Klischee und ihr Schicksal. Sie schafft es sogar, nach einer Ausbildung als Bademeisterin im örtlichen Stadtbad zu arbeiten. Hier findet sie ein Zuhause. Und Boris, der nach einer Kinderlähmung lahmt und von Schmerzen, Demütigung und Scham gebrochen seine Verzweiflung vor sich herträgt. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Doch Nene versteckt ihre Verletzungen hinter einer lockeren Zunge und einer großen Portion Pragmatismus, während Boris versucht dem Leben aus dem Weg zu gehen. Werden die Mauern aus Wut und Schmerz, die beide so früh um sich errichtet haben, ein WIR zulassen?
Es beginnt eine ungewöhnliche Liebesgeschichte, die stark durch die sozialen Verhältnisse, in denen Nene und Boris aufgewachsen sind, geprägt ist.

Was für ein Debüt! In keiner Minute ist dem Text Unsicherheit anzumerken, die Dialoge sind treffsicher und auf den Punkt. Annika Büsing weiß, was sie sagen will, und findet dafür klare Worte ohne Kitsch. Momente der Beklommenheit löst sie mit Nenes ruppigem selbstironischem Humor sofort wieder auf. Nenes Ich-Erzählung wechselt in rasanter Geschwindigkeit von der Handlungsebene in ihre Erinnerungen und Gedanken und wieder zurück.

Manchmal wäre ich gern noch ein wenig länger bei einer Sache geblieben und hätte mir etwas mehr Tiefe gewünscht. Aber auf 130 Seiten ist alles gesagt, was zu sagen ist. Das ist definitiv ein weiteres Debüt-Highlight in meinem Lesejahr 2023 und Annika Büsings KOLLER liegt schon auf meinem Nachttisch.