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Christian1977
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Leipzig

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Insgesamt 198 Bewertungen
Bewertung vom 17.10.2023
Segtnan, Linda

Das achte Haus


sehr gut

Als der schwedischen Historikerin Linda Segtnan während ihrer Arbeit im Archiv zufällig ein Zeitungsausschnitt über den Mord an der neunjährigen Birgitta Sivander im Jahre 1948 im schwedischen Perstorp in die Hände fällt, ist ihr Interesse sofort geweckt. Wer war diese Birgitta und wieso konnte der Fall nie geklärt werden? Die hochschwangere Frau beginnt zu recherchieren, sichtet Materialien, besucht den Tatort und spricht mit damaligen Zeug:innen. Doch die Recherchen bringen Segtnan nicht nur an ihre körperlichen Grenzen. Ganz langsam scheinen sich auch in ihrem Bewusstsein die unterschiedlichen Zeitebenen aufzuheben, so dass die Autorin das Gefühl bekommt, unmittelbarer Teil der Ermittlungen Ende der 1940er-Jahre zu sein und eine besondere Verbindung zu Birgitta herzustellen. Über allem scheint die Angst vor dem Tod, der Vergänglichkeit zu schweben. Und so steigert sich Linda in eine Art Besessenheit hinein, um den Mordfall neu aufzurollen und endlich aufzuklären. Eine Besessenheit, die auch die Existenz ihrer eigenen Familie infrage stellt...

"Das achte Haus" ist das literarische Debüt der schwedischen Autorin Linda Segtnan, das jetzt in der deutschen Übersetzung von Kerstin Schöps im Schweizer Atrium Verlag erschienen ist. Der Verlag hat sich im Bereich der anspruchsvollen Spannungsliteratur beispielsweise durch die Veröffentlichungen von Mark Billingham oder den überragenden Genresprenger "Westwind" von Samantha Harvey einen Namen gemacht. "Das achte Haus" passt somit ganz hervorragend in sein Programm, denn Linda Segtnans Debüt schert sich weder um Genregrenzen, noch ist es in seiner Mischung aus True Crime und Autofiktion besonders gefällig. 2022 stand Segtnan damit auf der Short List des renommierten schwedischen Literaturpreises "Adlibrispriset" für den besten Debütroman. Dabei handelt es sich gar nicht um einen Roman.

Vielmehr verknüft Segtnan auf überwiegend gelungene Art zwei Erzählstränge, die sich überraschenderweise stärker überschneiden als anfangs gedacht. Der Haupthandlungsstrang bezieht sich dabei auf den deutschen Untertitel des Buches "In Gedenken an ein Mädchen". Er ist der eindeutig stärkere Faden des Werks. Denn Segtnan gelingt dieses "Gedenken" an Birgitta Sivander auf ganz erstaunliche Weise. Sprachlich setzt sie auf eine gelungene Mischung aus klassischen Spannungsmotiven und fast unbändiger Empathie. Besonders eindrücklich und intensiv ist in diesem Zusammenhang die Szene, in der sich Vergangenheit und Gegenwart vereinen. Während Birgitta im Wald des Jahres 1948 um ihr Leben rennt, fühlt sich Linda Segtnan an selber Stelle schier zu Boden gedrückt von den überwältigenden Ereignissen 70 Jahre zuvor. Und von der Boshaftigkeit der Welt, in die Segtnan selbst in nicht allzu langer Zeit ein Mädchen setzen wird.

Überhaupt lebt "Das achte Haus" von seiner gelungenen Konzeption. So wechselt die Perspektive beispielsweise im Mittelteil des Buches von zwei Mädchen zu zwei Jungen. Während zu Beginn Mordopfer Birgitta und Lindas neugeborene Tochter Vivianne im Fokus stehen, sind es kurz darauf plötzlich ein tatverdächtiger Junge und Segtnans erstgeborener Sohn Sam. Nur um im finalen Part eine weitere unvorhersehbare Volte zu schlagen.

Dennoch hat das Buch auch Schwächen. So nimmt beispielsweise das Privatleben der Autorin einen viel zu großen Rahmen ein. Dezidiert berichtet Segtnan über ihre Ängste und Empfindungen während der Schwangerschaft und der Geburt, umfangreich erzählt sie von den familiären Problemen mit ihrem Mann und ihrem Sohn. Das ist als emotionaler Unterbau der eigentlichen Geschichte durchaus verständlich und interessant, rückt aber das Gedenken an Birgitta in diesen Momenten viel zu stark in den Hintergrund. Hinzu kommt, dass nicht jeder literarische Kunstgriff sitzt. So wirkt es einigermaßen grotesk, wenn sich Linda in der Mitte des Buches plötzlich unmittelbar in die Mutter des beschuldigten Jungen verwandelt und in Ich-Perspektive von der damaligen Gerichtsverhandlung erzählt. Auch die esoterischen Momente und Spukgeschichten nehmen dem Text ein Stück seiner Ernsthaftigkeit.

Sieht man über diese Kritikpunkte hinweg und erwartet weder ein typisches "True Crime"-Buch noch einen Thriller, erhält man mit "Das achte Haus" aber eine lohnenswerte Lektüre, die gleichermaßen spannend wie bewegend ist. Es ist eine Lektüre, die mich zwar glücklicherweise nicht zu einem Besessenen werden ließ, aber durchaus dafür sorgte, dass mich der Mordfall Birgitta wahrlich mitgenommen hat. Insgesamt ist Linda Segtnan mit "Das achte Haus" und dem dazugehörigen Einsatz von Fotos, Zeitungsausschnitten und Karten das "Gedenken an ein Mädchen" sehr gelungen.

Bewertung vom 09.10.2023
Roth, Joseph

Die Legende vom heiligen Trinker


ausgezeichnet

Paris, 1934: Andreas ist ein obdachloser Alkoholiker und lebt irgendwo unter den Brücken an der Seine. Als ein gut gekleideter Herr ihm begegnet, scheint sich das Glück auf seine Seite zu schlagen. Schließlich schenkt ihm der Mann 200 Francs und fordert sie nicht einmal zurück. Doch Andreas sieht sich als Ehrenmann und besteht auf die Rückzahlung. Der Herr lässt sich darauf ein, fordert Andreas aber auf, nicht ihm das Geld zurückzugeben, sondern es der Heiligen Thérèse von Lisieux in einer Pariser Kirche zu widmen. Kein Problem für den Ehrenmann Andreas - wäre da nicht der permanente Alkoholdurst... Doch auch wenn die 200 Francs schnell ausgegeben sind, scheint Andreas das Glück plötzlich gepachtet zu haben. Ein Wunder der kleinen Thérèse? Doch wie lange kann man sich auf Wunder verlassen?

Joseph Roths Erzählung "Die Legende vom heiligen Trinker" erschien erstmals 1939, kurz nach dem Tode des damals gerade einmal 44-jährigen österreichischen Schriftstellers. Es ist somit die letzte Veröffentlichtung Roths und nimmt nicht nur deshalb eine besondere Rolle im Werk des Autors ein. Gemeinsam mit seinen Romanen "Radetzkymarsch" und "Hiob" begründet auch diese Novelle Roths Rang als einen der wichtigsten deutschsprachigen Autoren des frühen 20. Jahrhunderts. Nun ist sie in einer Neuauflage der Penguin Edition erschienen.

Mit der 2021 gestarteten Klassikerreihe in knallbunten Farbtönen wollte Penguin laut eigener Aussage "Farbe ins Bücherregal" bringen. Eine Aktion, die vollends aufgegangen ist. Denn mittlerweile konnte man mit Neuausgaben wie Melvilles "Bartleby, der Schreibgehilfe" oder Emily Brontës "Sturmhöhe" nicht nur herausragende Klassiker einer jüngeren Generation schmackhaft machen, sondern ganz nebenbei auch den German Brand Award 2022 gewinnen.

Roths "Legende vom heiligen Trinker" erscheint wohl nicht von ungefähr in giftigem Grün. Denn nicht nur Andreas' Galle wird in der gerade einmal knapp 80 Seiten langen Erzählung über die Maßen gefordert, sondern auch die Leserschaft, der hier ein bittersüßes Gebräu präsentiert wird.

Ins Auge sticht dabei nicht nur die Farbe des Buches, sondern auch die äußerst einfache, fast naive Sprache, mit der es Joseph Roth gelingt, von Beginn an Empathie für seinen Antihelden Andreas aufzubauen. Dabei ist "unser Andreas", wie es in der Erzählung liebevoll heißt, kein Kind von Traurigkeit. Nach und nach erfahren wir nämlich, was ihn an den Rand seiner Existenz geführt hat. Andreas hat einen Mann totgeschlagen, einen Rivalen im Kampf um eine Geliebte. Doch Roth und die Leser:innen verzeihen es ihm vollständig. Damit hat unser Andreas einen Bonus im Vergleich zu anderen Trinkern der Literatur. Hat Ole Jastrau aus Tom Kristensens wundervollen Roman "Absturz" jemals einen Menschen körperlich verletzt? Dazu war er gar nicht in der Lage. Dennoch war man von ihm permanent enttäuscht, fast wütend auf ihn. Unser Andreas hingegen kann sich alles erlauben.

Und so freut man sich mit ihm über das Glück, das ihn so plötzlich auf all seinen Wegen begegnet. Sei es das viele Bargeld, das er in einer gebraucht gekauften Geldbörse findet. Seien es die wohlmeinenden Menschen, die ihm immer wieder mit Geld aus der Patsche helfen, obwohl Andreas es genauso regelmäßig versäuft wie Ole Jastrau. Es ist ein Märchen. Oder sogar noch mehr, denn die häufigen Satzanfänge mit "Und" in Verbindung mit dem Wörtchen Legende und der allseits beliebten Thérèse von Lisieux machen aus der Erzählung fast etwas Biblisches. Auch die zahlreichen Wiederholungen erinnern durchaus daran.

Das ist von Roth ebenso klug konzipiert wie hintersinnig und mit feinem Humor hinterlegt. Doch ganz am Ende - man ahnt es früh - bleibt einem das Lachen im Halse stecken und Roth dekonstruiert die gesamte Legende mit einem einzigen bitteren allerletzten Satz. Das ist sehr berührend, besonders wenn man im Hinterkopf hat, dass dies die letzte Erzählung Roths und er dem Alkohol letztlich erlegen ist.

Garniert wird die Legende mit einem zwar informativen, aber nicht besonders originellen Nachwort, denn es handelt sich dabei lediglich um ein paar Auszüge der Roth-Biographie von Wilhelm von Sternburg aus dem Jahre 2009. Da die Penguin Edition aber von Beginn an eher auf ein hervorragend kuratiertes Programm in Verbindung mit einem frischen Design und einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis setzte und das Nachwort dabei ein wenig vernachlässigte, ist es auch diesmal nichts, was besonders negativ ins Gewicht fallen würde.

Mit Roths "Legende vom heiligen Trinker" gelingt es der Penguin Edition abermals, einen sehr lesenswerten Klassiker der Weltliteratur in ansprechender Form und Aufmachung wieder ins Interesse einer breiten Leserschaft zu rücken. Mit der Figur seines Andreas hat Roth einen klassischen, aber dennoch liebenswerten Antihelden erschaffen, der lange im Gedächtnis bleiben wird.

Bewertung vom 02.10.2023
Johnson, Josephine

Die November-Schwestern


ausgezeichnet

Irgendwo in den USA zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise: Das Leben der Familie Haldmarne ist geprägt von Entbehrungen, Armut und harter Arbeit. Die drei ungleichen Schwestern Marget, Merle und Kerrin unterstützen ihre Eltern dabei so gut sie können. Als mit Grant ein junger Mann auf der Farm angestellt wird, gerät das ohnehin fragile Gleichgewicht aus den Fugen. Eine zusätzliche Belastung ist der ausbleibende Regen. Während ein benachbarter Farmer von seinem gepachteten Gut vertrieben wird, rückt das Unglück auch für die Haldmarnes immer näher...

"Die Novemberschwestern" ist der Debütroman von Josephine W. Johnson (1910 - 1990) aus dem Jahre 1934. 1935 erhielt sie dafür den Pulitzer-Preis und ist damit bis heute die jüngste Preisträgerin. Umso überraschender, dass es bisher keine deutsche Übersetzung des Romans auf dem Markt gab. Der Aufbau Verlag hat dies nun glücklicherweise geändert und eine hervorragende Übersetzung von Bettina Abarbanell veröffentlicht.

Es ist ein besonders aus sprachlicher Sicht bemerkenswerter Roman. Gleich die ersten Wörter geben den traurig-poetischen Tonfall vor, den das Werk während seiner gut 220 Seiten auch nicht mehr verlieren wird. "Jetzt im November sehe ich unsere Jahre im Ganzen", lautet der erste Satz und nimmt damit direkt Bezug auf den Originaltitel "Now In November". Josephine W. Johnson erschafft mit ihrer Sprache eine Atmosphäre, die ihresgleichen sucht. Einen ansatzweise ähnlichen Sound las ich zuvor höchstens bei Maria Borrélys „Mistral“ oder „Chita“ von Lafcadio Hearn. Jedem Satz merkt man ihre Liebe zur Natur an, ohne dass dabei etwas verklärt oder beschönigt wird. Denn gerade die Beschreibungen der Natur sind voller Intensität. Sei es der bedrohliche Wirbelsturm, der die Hoffnung auf Regen mit sich bringt. Sei es der Herbst mit seinen welkenden Blättern oder die Sommerhitze, die die Natur mehr und mehr austrocknet. Johnson kann sich getrost als Vorläuferin des modernen "Nature Writing" bezeichnen lassen. Doch die explizite Darstellung klimatischer Verhältnisse ist nicht das einzige heute noch aktuelle gesellschaftliche Thema. Auch Rassismus oder der Umgang mit Diversität machen aus "Die Novemberschwestern" ein überraschend zeitgemäßes Werk.

Erstaunlich sind auch die Erzählperspektive und die daraus resultierende Figurenkonzeption. Denn alles, was wir lesen, erfahren wir lediglich aus der Sicht von Ich-Erzählerin Marget, der mittleren Schwester. Sie ist diejenige, die ihre ältere Schwester Kerrin als krank bezeichnet. Sie ist diejenige, die sich selbst permanent als eine Art Mauerblümchen präsentiert und den Wettbewerb mit ihrer kleinen Schwester Merle um den Farmangestellten Grant scheut, obwohl sie klammheimlich an fast jedem Kapitelende von ihrer Liebe zu diesem erzählt.

Wer sich auf die „Novemberschwestern“ einlässt, und das ist dringend empfohlen, sollte auf jeden Fall geduldig sein. Denn über weite Strecken ist das Erzähltempo sehr langsam, fast entschleunigend, was wegen der fantastischen Sprache aber kein Nachteil ist. Und nach einem kleineren Durchhänger in der Mitte des Romans nimmt die Dramatik im letzten Drittel gewaltig zu, um in einem wahrlich bewegenden Finale zu enden.

Josephine W. Johnson gelingt es auf grandiose Art, ihren tieftraurigen, teils fast schon deprimierenden Inhalt in eine so funkelnd-furiose Sprache zu kleiden, dass durch diesen Kontrast ein wunderbar gelungener Roman entsteht, dem ich viele Leser:innen wünsche. Ein wenig bedauerlich ist nur, dass dem Buch ein einordnendes Nachwort zu Werk und Autorin fehlt.

Bewertung vom 29.09.2023
Kristensen, Tom

Absturz


ausgezeichnet

Kopenhagen, Mitte der 1920er-Jahre: Der Kulturredakteur Ole Jastrau lebt mit seiner Frau Johanne und Söhnchen Oluf eigentlich in geregelten Verhältnissen. In seiner Tätigkeit für die Zeitung "Dagbladet" bespricht er Bücher, er hat einen intakten Freundeskreis. Doch passend zu den politisch unruhigen Verhältnissen ergreift auch Ole eine innere Unruhe. Als sich zwei ehemalige Weggefährten im wahrsten Sinne des Wortes bei ihm einnisten, nimmt das Unheil seinen Lauf. Ole Jastrau verfällt mehr und mehr dem Alkohol und sieht sich und sein Leben dem Absturz entgegentaumeln...

Tom Kristensen (1893 - 1974) schrieb den Roman "an seinem eigenen Leben entlang", heißt es im Klappentext von "Absturz", das jüngst in der deutschen Neuübersetzung von Ulrich Sonnenberg bei Guggolz erschienen ist. Das dänische Epos sollte trotz seiner Länge mühelos an die Erfolge, die der Verlag beispielsweise mit den Vesaas-Übersetzungen erzielte, anknüpfen können. Denn der laut Guggolz "bedrohlich funkelnde dänische Monumentalroman" ist nicht weniger als ein Meisterwerk der Literatur.

"Bedrohlich funkelnd" trifft den Kern von "Absturz" dann tatsächlich auch hervorragend. Man könnte auch sagen: Ein Prosit der Ungemütlichkeit! Nahezu von Beginn an legt sich nämlich eine Noir-Atmosphäre über den Roman. Das abendliche Kopenhagen wird vom verschwommenen Licht der Straßenbahnen reflektiert. Irgendwo leuchtet ein Neonschild. In der "Bar des Artistes" - was für ein Name - sitzen die Männer des Kopenhagener Kulturbetriebs mit ihren Hüten zusammen, sie rauchen und trinken. Irgendwann setzt natürlich auch der Regen ein und prasselt gegen die nächtlichen Scheiben der "Dagbladet"-Redaktion. Tom Kristensen gelingt es, das gesellschaftliche und politische Kopenhagen der 1920er-Jahre zum Leben zu erwecken und die Leserschaft direkt um 100 Jahre zurückzukatapultieren.

Zu Beginn des Romans fühlt man sich wie in einem Theaterstück, einer Art Kammerspiel. Kristensen lässt die Leserschaft teilhaben an Jastraus Überforderung, an seiner Zerrissenheit. Jede Regung, jeder Gesichtsausdruck werden beschrieben. Als schaute man auf eine Bühne. "Jastrau starrte an die weiße viereckige Decke. Leer wie seine Weltanschauung", heißt es gleich auf der ersten Seite des Romans. Durch diese zwei kleinen prägnanten Sätze ist der Tonfall für die kommenden fast 660 Seiten vorgegeben. Man wird den leeren Ole Jastrau keinen Augenblick mehr aus den Augen lassen. Keine einzige Szene in "Absturz" kommt ohne diesen klassischen Antihelden aus.

Äußerst gelungen ist es auch, wie Kristensen es versteht, die drei literarischen Textgattungen Epik, Lyrik und Dramatik kongenial miteinander zu verbinden. Die dramatischen Elemente finden sich nicht nur in den zahlreichen Dialogen, sondern auch in der oben geschilderten Detailverliebtheit in Bezug auf Räume und Orte. Sprachliche Höhepunkte sind die seltenen lyrischen Passagen. Kristensen legt dabei beispielsweise sein eigenes Gedicht "Angst" dem rebellischen Kommunisten Steffensen, einer der schillerndsten Figuren des Romans, in den Mund.

Ein weiteres Plus von "Absturz" ist die Figurenkonzeption. Neben dem wunderbar ambivalenten Jastrau ist dabei vor allem der schon erwähnte Stefan Steffensen zu nennen. Steffensen ist der rebellische Sohn des Apothekers und Autors H.C. Stefani, dem wiederum in diesem gesamten Drama trotz nur weniger Auftritte eine ganz besondere Rolle zufällt. Steffensen ist so etwas wie der wilde Gegenpol zu Ole Jastrau. Eine Art kommunistisches Gespenst aus dessen Jugend. Steffensen verkörpert all das, wofür Ole selbst einst stand. Für Poesie, für Idealismus und Kommunismus. Auf der anderen Seite ist er ein Schmarotzer, der Jastrau nach Strich und Faden ausnimmt und irgendwann sogar dessen Wohnung übernimmt. Die beiden verbindet eine herzliche Hassliebe, über weite Strecken des Romans können sie weder ohne- noch miteinander und trauen sich gegenseitig das Schlimmste zu.

Wer diese Tour de Force bis zum Ende durchhält - und das sei dringend empfohlen -, wird im Finale noch einmal mit einem absoluten Höhepunkt des Romans belohnt. Denn, was Kristensen in seinem letzten Kapitel und dem Epilog gelingt, ist mehr als der buchstäbliche "Absturz", sondern ein geniales Vexierspiel, das die hoffentlich nüchterne Leserschaft zum Nachdenken bringen und zu einer permanenten Gänsehaut führen wird.

Mit Tom Kristensens "Absturz" gelingt es dem Guggolz Verlag einmal mehr, einen nahezu in Vergessenheit geratenen Klassiker der Weltliteratur wieder ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Nicht nur Freunde von Knut Hamsun und Jón Kalman Stefanssón sollten sich diesen Roman zu Gemüte führen. Belohnt werden sie mit einem sprachlichen Meisterwerk, das zwar anstrengend ist, dabei aber auch unheimlich intensiv und aufregend. Ein Hoch auf Tom Kristensen!

Bewertung vom 15.09.2023
Mayr, Suzette

Der Schlafwagendiener


sehr gut

Kanada, im Jahre 1929: Schlafwagendiener Baxter rattert im Nachtzug von Montréal nach Vancouver. Mit ihm an Bord sind unter anderem ein Schauspieler, eine Schriftstellerin, ein Medium und eine Oma mit ihrer Enkelin. Niemand der Fahrgäste kennt den Traum des Dieners. Denn Baxter nimmt diesen Knochenjob nur in Kauf, weil er auf sein Zahnmedizinstudium spart. Bis dahin heißt es also Schuhe wienern, die Toilette putzen und manchmal sogar - natürlich heimlich - sexuelle Dienstleistungen übernehmen. Wobei Baxter noch mehr verheimlichen muss, denn er steht im gesellschaftlichen System nicht nur wegen seiner Hautfarbe ganz unten, sondern ist zudem auch noch homosexuell. Als der Zug jäh durch eine Schlammlawine gebremst wird, überwältigt der Schlafmangel Baxter immer stärker. Geplagt von Halluzinationen sehnt der Schlafwagendiener das Ende der Reise herbei - wohl das Einzige, was ihn mit den Fahrgästen eint....

Liest man etwas von einem Schlafwagen, mag einen selbst gleich die Müdigkeit überfallen. Bei Suzette Mayr ist das hingegen ausgeschlossen, denn die Autorin wirft die Leserschaft sofort hinein in eine schier unglaubliche Hektik. Gemeinsam mit Baxter wird hier noch die letzte Koje vorbereitet, während dort schon der erste Fahrgast wartet. Wann trifft der Zug wo ein, wann fahren wir endlich ab und wo, verdammt nochmal, ist eigentlich mein Abteil? In diesem Stil merkt man von Beginn an, welch aufreibenden Job Baxter und seine Kollegen dort verrichten müssen. Passend dazu setzt Mayr auf das erzählerische Präsens, das immer eine besondere Unmittelbarkeit ausdrückt. Dabei befinden wir uns bisher lediglich im "Vorher", einem langen Epilog, der den Protagonisten seinem Publikum näher vorstellt.

Und dieser Baxter ist zweifelsohne ein Sympathieträger. Nach außen hin erträgt er stoisch sämtliche Erniedrigungen und Demütigungen, doch innerlich brodelt auch er. Wir werden diesen Baxter den gesamten Roman über nicht aus den Augen verlieren. Keine Szene funktioniert ohne ihn, und wir wissen über die Fahrgäste immer genau das, was auch Baxter weiß. Nicht mehr und nicht weniger. Das ist von Suzette Mayr äußerst klug konzipiert, denn dadurch wachsen nicht nur Sympathie und Empathie für den Helden, sondern es sorgt auch für Spannung, da man nie weiß, was hinter welcher Tür eigentlich gerade geschieht. Es sei denn, Baxter blickt hinein...

Züge sind ja oftmals ein dankbares Setting für gute Romane, wie beispielsweise zuletzt auch "Wunderkind Erjan" von Hamid Ismailov oder "Was geschieht in der Nacht" von Peter Cameron. So auch hier, wo im Hauptstrang der Zug bzw. sein Umfeld sogar überhaupt nicht verlassen werden. Fernab jeglicher Eisenbahnromantik sollte Suzette Mayr somit auch passionierte Bahnfahrer:innen ansprechen. Und dennoch kommt nicht nur der Zug zwischenzeitlich zum Stillstand, sondern auch die Dynamik des Romans. Die Fahrgäste wenden sich mit immer den gleichen Fragen und Problemen an Baxter, was nicht nur ihn, sondern auch die Leser:innen zunehmend nervt. Hier hätte dem "Schlafwagendiener" eine Straffung oder andere Entwicklung gut getan. Hinzu kommt, dass von den zahlreich eingesetzten bildhaften Vergleichen nicht jeder gleichermaßen passt. Insbesondere die anfänglich immer wiederkehrenden Eisenbahn-Bilder wirken teilweise etwas bemüht oder repetitiv.

Das ist allerdings Kritik auf hohem Niveau, denn im Finale legt nicht nur der Zug noch einmal zu, sondern auch Suzette Mayr. Nachdem die Leserschaft eine recht alberne Séance ertragen musste, besinnt sich der Roman nämlich seiner Stärken: der Empathie, Solidarität und Warmherzigkeit, die Mayr mit dem Buch Minderheiten entgegenbringt. Sicherlich sah man schon Schlafwagendiener in Filmen durchs Bild huschen, aber wer schrieb jemals so ernsthaft und ausführlich über sie? Zeitgleich behandelt Mayr auch heute noch gesellschaftlich wichtige Themen wie Rassismus und den Umgang mit Homosexualität, der in der historischen Perspektive aufgrund der Strafbarkeit ungleich dramatischer war. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht auch die sage und schreibe drei Seiten lange Literaturliste, die Mayr bei der Recherche für das Schreiben eines Romans (!) aufgewendet hat. Dies unterstreicht, wie sehr ihr dieses Thema am Herzen lag und sorgt für zahlreiche zusätzliche Sympathiepunkte. Erwähnt werden sollte auch die formal liebevolle Aufmachung. Da gibt es die Jobanzeige für Schlafwagendiener, den Aufbau eines Waggons oder auch mal ein kleines Schriftbild, wenn die ihrerseits kleine Esme etwas flüstert.

Insgesamt ist "Der Schlafwagendiener" eine liebevolle und unterhaltsame Zugreise in eine Zeit, in der sich in Kanada ein Schwarzer darüber Gedanken machen musste, ob er in einer öffentlichen Toilette neben einem Weißen stehen darf. In eine Zeit, in der ein Diener in einem Zug den Dreck anderer Menschen entfernen musste, ohne dafür kaum mehr als ein mickriges Trinkgeld zu erhalten. Und in eine Zeit, in der ein Homosexueller für Sexualkontakte mit anderen Männern ins Gefängnis musste.

Bewertung vom 05.09.2023
Helfer, Monika

Die Jungfrau


sehr gut

Als Monika Helfer am 70. Geburtstag Post von ihrer langjährigen Schulfreundin Gloria erhält, ist sie überrascht, denn zu dieser hatte sie seit Jahren keinen Kontakt mehr. Nun ist die Frau offenbar schwer erkrankt und wünscht sich, dass die Autorin über sie schreibt, bevor Gloria stirbt. Kein leichtes Unterfangen für Monika, denn die Beziehung zu der einst so glamourösen und exzentrischen Frau war einerseits durch Nähe und Vertrauen geprägt, andererseits aber auch durch Lügen und Wut. Doch Monika stellt sich dieser Herausforderung und begibt sich zurück in die 60er-Jahre, als ein Mädchen wie Gloria immer nur auffiel und nicht hineinpassen wollte in die verstaubte Nachkriegsgesellschaft...

Nach der Trilogie um Monika Helfers "Bagage" ist "Die Jungfrau" der neueste Roman der Bestseller-Autorin, der kürzlich bei Hanser erschienen ist. Erneut ist er im Bereich der Autofiktion anzusiedeln, doch anstatt eines Familienmitglieds steht diesmal mit Gloria eine höchst ambivalente Freundin im Mittelpunkt des Interesses. Stilistisch bleibt sich Helfer mit ihren kurzen, prägnanten Sätzen und den pointierten und unprätentiösen Beobachtungen hingegen treu. Dabei schont sie weder sich noch die Freundin.

Der Roman beginnt im wahrsten Sinne des Wortes mit einem Knalleffekt, der bezeichnend für den Rest des Buches ist. In einer beschaulichen, fast schon transzendentalen Szene, in der zwei Mädchen in ihrer Reinheit einen sommerlichen Sonnenaufgang erwarten - bis ein Schuss den Morgen zerreißt. In der Folge wird es immer wieder so sein, dass die Beziehung der beiden Mädchen durch Aktionen der einen oder der anderen gestört werden. Die reine, freundschaftliche Liebe bleibt so wie das Bild der beiden Mädchen beim Sonnenaufgang eine Illusion.

Gloria ist keine einfache Person. Das Mädchen lebt mit seiner alleinerziehenden Mutter in einem riesigen Haus inklusive Hausangestellter. Sie ist reich und verschwenderisch und zieht mit ihrer glamourösen Art die Blicke der Jungen und Männer auf sich. Dennoch bleibt sie laut eigener Aussage bis zum Wiedertreffen der mittlerweile 70-jährigen Frauen die titelgebende Jungfrau. Dieser Widerspruch bleibt nicht der einzige dieses zutiefst zerrissenen Charakters. So wie auch die Freundschaft mit Monika eine widersprüchliche ist. Die beiden können nicht mit-, aber auch nicht ohneinander. Für Monika ist Gloria eine Art Flucht aus dem Alltag und aus der Armut. Andersherum ist Monika für Gloria die Flucht aus der Einsamkeit und Langeweile.

Bei der Beurteilung des Romans sollte man bedenken, dass er zwar autobiografische Anteile enthält, aber eben ein Roman ist. Ansonsten könnte man Helfer dafür kritisieren, eine Freundin in manchen Szenen doch einigermaßen bloßzustellen. Schon der Beginn spielt mit Fakt und Fiktion. Die Post zum 70. Geburtstag müsste die Schrifstellerin Helfer nämlich 2017 erreicht haben, was in "Die Jungfrau" unmöglich ist, da es später beispielsweise um eine Corona-Infektion geht. In einem Interview mit dem "Standard" stellt Helfer klar, dass Gloria ihre "erfundene Freundin" und aus verschiedenen zusammengesetzt sei.

Insgesamt beweist Monika Helfer mit "Die Jungfrau" einmal mehr ihr großes schriftstellerisches Können, ihre Weisheit und ihre Begabung, tiefgehende Beobachtungen und Gefühle in wenigen Worten präzise und pointiert wiederzugeben. Was im Vergleich zur Familien-Trilogie fehlt, sind die Empathie und die großen Emotionen, die sich insbesondere in "Die Bagage" und "Löwenherz" so unmittelbar auf die Leserschaft übertrugen. Dennoch ist auch der neue Roman ein sehr lesenswertes Buch, das insbesondere mit der Darstellung der pubertären Monika auch einmal eine ganz andere Seite der Autorin bzw. ihres romanhaften Ichs präsentiert.

Bewertung vom 26.08.2023
Wagner, Jan Costin

Einer von den Guten / Ben-Neven-Krimis Bd.3


ausgezeichnet

Der BKA-Ermittler Ben Neven, selbst verheiratet und Familienvater, arbeitet mit seinem Kollegen Christian Sander und dem weiteren Team an einem spektakulären Fall des Kindesmissbrauchs, der die ganze Abteilung schon seit einiger Zeit beschäftigt. Während die Hauptschuldigen ermittelt wurden, sind die Polizist:innen dabei, ein regelrechtes Netzwerk aufzudecken. In den Blick gerät dabei der Parkplatz eines Schwimmbads in Dortmund. Dort soll es Fälle von Kinderprostitution geben. Was niemand weiß: Ben ist selbst einer der Freier. Wöchentlich trifft er sich dort mit dem 13-jährigen Adrian. Und während die Ermittlungen voranschreiten, zieht sich die Schlinge um Bens Doppelleben immer weiter zu...

"Einer von den Guten" ist der dritte Band der Ben-Neven-Reihe von Jan Costin Wagner, der jetzt bei Galiani erschienen ist. Zwar ist es für die Lektüre nicht zwingend notwendig, die Vorgängerbände "Sommer bei Nacht" und "Am roten Strand" zu kennen, sie erleichtert aber das Verständnis für die Figuren und deren Zusammenhänge. Davon abgesehen sind sie von so hoher Qualität, dass man sie eigentlich ohnehin gelesen haben sollte.

Manchmal ist Literatur schmerzhaft. Sie führt dich an Abgründe, an die du dich normalerweise nicht herantrauen würdest. Sie packt dich und reißt dich mit. Du leidest mit den Figuren und freust dich mit ihnen. Du wünschst ihnen das Beste oder hoffst, dass sie mit ihrem Verhalten und ihrem Tun nicht durchkommen werden. Du bist meistens auf Seiten der Guten. Doch was ist, wenn die Figuren so zerrissen sind, dass es dir schwerfällt, sie zu beurteilen? Oder sie zu verurteilen? Ein solches Buch ist "Einer von den Guten".

Wie schon in den beiden Vorgänger-Bänden gelingt es Jan Costin Wagner auch in diesem Buch vortrefflich, die Zerrissenheit seiner Figuren intensiv erlebbar zu machen. In kurzen, meist traurigen und atmosphärischen Sätzen nähert er sich insbesondere seinem Protagonisten Ben Neven, der stärker als je zuvor im Fokus steht. Denn "Einer von den Guten" ist tatsächlich mehr Psychogramm als Kriminalroman. Auch "Sommer bei Nacht" und "Am roten Strand" mäanderten schon deutlich über die Genregrenzen hinaus, mit dem dritten Band treibt Wagner dieses Spiel auf die Spitze.

Die Dialoge, die teilweise nur aus Fragmenten bestehen, sind herausragend. Vor allem die Gespräche zwischen Ben und seinem besten Freund Ludwig Landmann, den wir schon in den ersten Büchern als eine Art Ziehvater des pädophilen Ermittlers kennengelernt haben, sind von fast unglaublicher Intensität. In jedem Satz, in jedem kleinsten Wort steckt so viel mehr als das Gesagte. Ein weiterer Pluspunkt ist die Multiperspektivität, die diesmal durch die Figur des Adrian bereichert wird. Der einsame rumänische Junge, der von seinem Vater dazu genötigt wird, sich zu prostituieren, ist Wagner hervorragend gelungen. Die Schwierigkeit, dass Adrian fast kein Deutsch spricht, umgeht der Autor, indem er sich tief in die Gedankengänge des Kindes hineinversetzt. Dabei vermeidet er die Gefahr des Klischees, den Jungen lediglich als Opfer zu präsentieren. Denn mit der Freundschaft zu der 14-jährigen Vera erfährt Adrian auch Momente des Glücks - und die Leserschaft eine zärtliche kindliche Liebe, die als eine Art Gegenpol zu den oftmals schwer zu ertragenden Szenen rund um Ben Neven wirken.

Erstaunlich ist die Feinfühligkeit Wagners auch mit Blick auf seine Hauptfigur. Spätestens mit diesem Band dürfte sich die Mehrheit der Leser:innen einig sein: Ben ist keiner mehr von den Guten. Dafür macht er sich in mehrfacher Hinsicht zu schuldig. Dennoch verurteilt Wagner ihn nicht. Das macht Ben ohnehin schon selbst. Man spürt in diesen Szenen oder auch in dem Moment, in dem Ben einen Therapeuten aufsucht, wie intensiv und differenziert sich Jan Costin Wagner mit dem Thema Pädophilie auseinandergesetzt haben muss. Das ist in jeder Hinsicht außergewöhnlich und mutig, denn zweifelsohne wird dieser Band die Leserschaft noch mehr spalten als die ebenfalls schon kontroversen Vorgänger-Romane.

Mit "Einer von den Guten" bestätigt Jan Costin Wagner, dass die Reihe um Ben Neven die derzeit wohl aufregendste in der deutschsprachigen Kriminalliteratur ist. Die Ereignisse am Ende des Buches lassen darauf hoffen, dass es einen vierten Band geben wird. Den Leser:innen sollte bewusst sein, dass sie sich auf eine beklemmende Lektüre einlassen. Eine Lektüre, die sie beschäftigen und verfolgen wird. Doch dafür werden sie belohnt. Mit einer intensiven und beeindruckenden Geschichte. Und mit unvergesslichen Charakteren. Denn manchmal ist Literatur einfach schmerzhaft.

Bewertung vom 24.08.2023
Häusser, Alexander

Karnstedt verschwindet


ausgezeichnet

Als Simon erfährt, dass ausgerechnet er den Nachlass seines verschwundenen Jugendfreundes Karnstedt verwalten soll, kann er das zunächst gar nicht recht glauben. Immerhin hatte er seit mehr als 20 Jahren überhaupt keinen Kontakt mehr zu diesem. Dabei waren sie einst die besten Freunde: der haarlose Karnstedt und der schmächtige Simon - zwei Außenseiter, die nur gemeinsam den zahlreichen Gemeinheiten ihrer Mitschüler:innen entkamen. Doch wie kam es überhaupt zum Ende dieser Freundschaft? Und was soll Simon jetzt auf diesem verlassenen Bauernhof in Dänemark? Darüber schreibt Alexander Häusser in seinem bewegenden Roman "Karnstedt verschwindet".

Die Erstausgabe des Werks erschien bereits 2007, nun ist die überarbeitete Ausgabe bei Pendragon veröffentlicht worden. Eine kluge Entscheidung des Verlags mit dem freundlichen kleinen Drachen, denn "Karnstedt verschwindet" ist zeitlos gut. Auf gerade einmal 220 Seiten gelingt es Häusser, eine Vielzahl aktueller Themen wie Individualität, Homosexualität, Freundschaft und Verrat so passend miteinander zu verknüpfen, dass der Roman nicht einmal ansatzweise überfrachtet wirkt.

Liest man ein Buch mit einem Figurennamen im Titel, erwartet man zweifelsfrei, einen besonderen Charakter kennenzulernen. Man denke nur an Douglas Stuarts "Shuggie Bain" oder Eva Romans Coming-of-Age-Wunder "Pax". Und diese Erwartungen werden auch bei "Karnstedt verschwindet" nicht enttäuscht. Besagter Titelheld entpuppt sich nicht nur wegen seines komplett haarlosen Körpers als exzentrisch, sondern setzt auch durch sein Verhalten Akzente. Karnstedt hat schon im Jugendalter erheblichen Einfluss auf Simons Leben, nun greift er durch sein Verschwinden und das Benennen Simons als Nachlassverwalter erneut massiv ein. "Karnstedt hat mit seinem Auftrag mein Leben unterbrochen. Er hat einen Staudamm im Fluss der Zeit errichtet, Gott gespielt, wie damals", lässt Häusser Simon sagen. Mit diesem Satz sollte man bereits ein Gespür bekommen, für die leise, aber umso eindringlichere Erzählart des Autors.

In der Folge gelingt es Häusser, drei unterschiedliche Erzählstränge parallel verlaufen lassen, ohne die Gefahr, dass man sich als Leser:in darin verfangen könnte. Denn tatsächlich differieren sie nicht nur in der Perspektive, sondern auch im Tonfall komplett. Während in Dänemark Ich-Erzähler Simon versucht, einen Überblick über das von Karnstedt hinterlassene Chaos zu bekommen, wirft ein allwissender Erzähler einen Blick auf die letzten Schultage der beiden Protagonisten vor dem Abitur. Garniert wird das Ganze mit einem kleinen Ausflug ins Genre des Abenteuerromans, wenn Simon Karnstedts Anwalt dessen letzte Aufzeichnungen vorliest. Während die Jugendfreundschaft typische Merkmale des Coming-of-Age-Romans wie Sexualität und Entwicklung aufweist, verströmt die Dänemark-Episode zeitweise gar ein gewisses Mystery-Flair. Denn der verschwundene Karnstedt scheint im wahrsten Sinne des Wortes allgengenwärtig zu sein.

Ein weiterer Pluspunkt des Romans ist die Figurenzeichnung - übrigens auch dank der Überarbeitungen, die erstmals in dieser neuen Ausgabe so erscheinen. Nicht nur Karnstedt überzeugt in seiner Darstellung, auch Simon und die anderen wichtigen Nebenfiguren wie der Lieblingsfeind der beiden - Tischlersohn Tummer - weisen zahlreiche Grautöne auf. Jede einzelne Figur begeht schwerwiegende Fehler, aber keine von ihnen kann man am Ende des Romans komplett verurteilen. Das liegt auch an der Empathie, die Alexander Häusser seinen Charakteren entgegenbringt.

Und so werden im höchst überraschenden und wahrlich dramatischen Finale alle drei Erzählstränge kongenial miteinander verbunden. Ein Finale, das nicht nur durch einen sich ständig steigernden Spannungsbogen überzeugt, sondern mich ungemein bewegt und aufgewühlt hat. Ein Finale, das bisweilen sogar an eine antike Tragödie erinnern mag.

"Karnstedt verschwindet" ist ein eindrucksvoll stiller, doch umso intensiverer Roman, der durch seine Konstruktion, die Sprache, die Atmosphäre und die Figuren gleichermaßen zu punkten weiß. Ein unbedingt lesenswertes und wuchtiges Statement für die Individualität.

Bewertung vom 22.08.2023
Blackwood, Algernon

Zwielicht 17


sehr gut

Ob klassische Schauergeschichte, zeitgenössisches Psychogramm eines Serienkillers oder modernster Science Fiction-Horror - das deutsche Horrormagazin "Zwielicht" liefert in seiner 17. Ausgabe eine umfassende und bunte Mischung aus deutscher und internationaler Genre-Literatur.

Dabei sticht zunächst das wirklich sensationelle Cover des Schweizers Björn Ian Craig ins Auge. Mit einer gehörigen Portion Retrocharme spielt es so gruselig mit den Urängsten eines Kindes, wie es zuletzt vielleicht Blind Guardian in ihrem denkwürdigen Video zu "Mr. Sandman" gelang. Oder der genialen TV-Verfilmung von "Stephen Kings Es", gegen die der zweiteilige Kino-Blockbuster "Es" von Andrés Muschietti trotz modernster Special Effects nicht einmal ansatzweise anstinken konnte.

Mit Christian Blums "Arsénique" gelingt dem Zwielicht dann auch ein gelungener Einstieg mit einem Ausflug ins Metal-Genre. Zwar nicht zu den bereits angesprochenen Blinden Gardinen, dafür aber zur charismatischen Titelheldin, die ihren mehrstimmigen Gesang auf ganz eigene Art und Weise einzusetzen vermag. Insgesamt warten auf die Leserschaft 15 Geschichten, die sich sowohl stilistisch, als auch thematisch stark voneinander unterscheiden. Dass es bei einer solch umfassenden Anthologie dabei auch recht deutliche Qualitätsunterschiede gibt, scheint unvermeidlich. Während beispielsweise Algernon Blackwoods "Traumpfade" von 1911 auch sprachlich traumwandlerisch sicher daherkommen, verlieren sich einige wenige zeitgenössische Geschichten in einem Wust aus Genreklischees und Groschenroman-Flair. Zum Glück bilden letztere die eindeutige Minderheit.

Das größte Verdienst des Magazins ist ohnehin die unermüdliche und unglaublich liebevolle Recherche, mit der eher vergessene Autor:innen wie eben Blackwood, Arthur Machen oder Maurice Level wieder ins Zwielicht gerückt werden. Auf dem dazugehörigen Blog der Herausgeber Michael Schmidt und Achim Hildebrand finden sich nicht nur schier unfassbar umfangreiche Übersichten zu den genannten Schrifsteller:innen, sondern auch äußerst informative Interviews mit den Übersetzer:innen oder Autor:innen der Anthologie. Ein Blick auf defms.blogspot.com lohnt sich als Ergänzung zur Lektüre also ungemein. Dort wird man nicht nur feststellen, dass mittlerweile sogar schon "Zwielicht 18" erschienen ist, sondern dass es auch diverse Sonderveröffentlichungen - wie eben zu Algernon Blackwood - gibt.

Etwas irreführend ist in meinen Augen übrigens die Bezeichnung "Horrormagazin", denn "Zwielicht 17" kommt eher wie eine klassische Anthologie daher. Zwar gibt es am Ende der 15 Stories noch zwei Artikel mit Bezug zum Horrorgenre, doch auch hier hält sich der Einsatz von Bildern stark in Grenzen. Da sich der Titel aber in mittlerweile 18 Ausgaben bewährt hat, wird er wahrscheinlich nur noch Neueinsteiger:innen wie mich überraschen.

Insgesamt bietet "Zwielicht 17" über seine 280 Seiten eine unterhaltsame und gruselige Atmosphäre, die man mit wenigen Ausnahmen durchaus am Stück genießen kann. Für diejenigen Leser:innen, die dem klassischen Horrorgenre in den letzten Jahren vielleicht abhanden gekommen sind, empfehle ich vor allem die Geschichten, die sich nicht um Genregrenzen scheren und dabei sowohl sprachlich, als auch inhaltlich überraschen. Hier seien als Lesetipps neben den mehrfach erwähnten "Traumpfaden" von Algernon Blackwood vor allem auch Arthur Machens "Folter" von 1924, Maurice Levels "Babel" von 1910 und von den zeitgenössischen Geschichten Torsten Scheibs "Ein besonderes Näschen" zu empfehlen.

Bewertung vom 14.08.2023
Cline, Emma

Die Einladung


ausgezeichnet

Als die 22-jährige Alex gegen Ende des Sommers von ihrem reichen und viel älteren Liebhaber Simon vor die Tür gesetzt wird, scheint ihr bisheriges Leben vorbei zu sein. Nach ihrer Zeit als Escortgirl schien Simon wie die Chance auf einen Neuanfang - und wie der Eintritt in die Welt der Reichen und Schönen in den Hamptons. Doch nach mehreren Fehlern der jungen Frau ist die gemeinsame Zeit abgelaufen. Während Alex sich irgendwie durchschlagen muss, rückt der Tag näher, auf den sie all ihre Hoffnungen setzt: der Labour Day, an dem Simon eine große Party schmeißen möchte. Alex muss auf diese Party kommen, um mit Simon Versöhnung zu feiern - koste es, was es wolle...

"Die Einladung" ist nach "The Girls" der zweite Roman der Kalifornierin Emma Cline, der jetzt in der deutschen Übersetzung von Monika Baark bei Hanser erschienen ist. Ihm dürfte eine ebenso große Aufmerksamkeit und Kontroverse gewiss sein wie dem Debüt. Denn "Die Einladung" ist alles andere als ein Wohlfühl- oder Sommerroman mit einer liebenswerten Hauptfigur.

Vielmehr ist Alex eine klassische Antiheldin. Sie lügt, stiehlt und nutzt ihre Mitmenschen ganz nach ihrem Belieben aus, um an ihr Ziel zu gelangen. Und trotzdem gelingt es Emma Cline verblüffenderweise, dass man eine Art Komplizenschaft mit ihr eingeht. Man hofft nämlich, dass Alex mit all diesen Dingen durchkommt, bangt mit ihr, dass ihr erneuter Fehltritt keine Konsequenzen haben wird. Vornehmlich erreicht Cline dies mit ihrem einnehmenden und flüssigen Schreibstil. Man folgt dieser jungen Frau auf Schritt und Tritt. Am Ende wird Cline sie kein einziges Mal aus den Augen gelassen haben. Selbst vergangene Momente werden aus der Gegenwart heraus erzählt, so dass die Erzählstimme ins unliterarische Plusquamperfekt wechselt, nur um die gegenwärtige Alex nicht allein stehen zu lassen. Dabei erzeugt die Autorin nicht besonders viel Empathie für ihre Hauptfigur und bringt ihr selbst auch keine entgegen. Auch der eher nüchterne Stil trägt zu diesem Empfinden bei. Umso erstaunlicher, dass trotzdem diese Bindung zur Protagonistin erreicht wird.

Alex' Geschichte ist im Grunde eine tieftraurige, auch wenn wir über ihre weiter zurückliegende Vergangenheit kaum etwas erfahren. Sie wirkt wie eine verlorene Seele, irrt heimatlos umher wie ein Geist, als den sie sich selbst manchmal bezeichnet. Und in der Tat erinnert "Die Einladung" in gewissen Momenten an eine abgebrühtere Variante des genialen David Lowery-Films "A Ghost Story", in dem ein Gespenst sich ein Bettlaken umlegt, um zumindest für das Publikum sichtbar zu sein. Auch Alex bleibt über weite Strecken des Romans unsichtbar bishin zur kompletten Selbstaufgabe ihrer Identität. Sie ordnet sich unter, um zu gefallen, setzt in den unpassendsten Momenten ein Lächeln auf. Nur in ganz wenigen Momenten schimmert die echte Alex durch die glatte Oberfläche: Immer dann, wenn Alex im Pool oder im Meer schwimmen geht, scheint sie ganz bei und für sich zu sein.

Durch den immer wieder aufblitzenden subtilen Humor ist "Die Einladung" zudem auch eine Gesellschaftskritik. Die Scheinwelt der Reichen und Schönen besticht durch ihre Oberflächlichkeit, durch die Ausgrenzung der Menschen, die nicht dazugehören können oder wollen. Das ist zwar nicht neu, doch wie Emma Cline ihre Protagonistin als Wandlerin zwischen den Welten - da ist wieder das Geistmotiv - einsetzt, gibt dem Roman etwas zutiefst Eigenständiges.

Clever ist auch, wie lässig Cline die Spannung aufbaut. Erst nach und nach erzählt sie, wie Alex eigentlich in diese offenbar ausweglose Situation hineingeraten konnte. Dazu bedarf es nicht vieler Worte, manchmal reicht ein einfaches Auflegen von Alex' Gesprächspartnern am Telefon.

Möchte man etwas an dem Roman kritisieren, ist es vielleicht die fehlende Entwicklung der Protagonistin in der zweiten Hälfte. Trotz diverser Rückschläge bleibt Alex mit Ausnahme der Wasserszenen eigentlich immer gleich. Vielleicht passt das aber eben auch umso besser zu einer Figur, die ihre Identität ohnehin schon nahezu aufgegeben hat. Sprachlich schien mir zudem die Übersetzung an der einen oder anderen Stelle etwas zu knirschen.

Insgesamt ist "Die Einladung" aber ein sehr überzeugender und hochaktueller Roman, denn die Scheinwelt der Reichen und Schönen lässt sich sehr gut auch auf die Sozialen Medien und ihre Auswirkungen auf Kinder und junge Leute übertragen. Zudem ist er mehr als eine schnöde Gesellschaftskritik, weil er mit Blick auf Alex als verlorenes Individuum psychologisch subtil, aber dennoch tief in die Seele seiner Hauptfigur hineinschaut, ohne mit ihr zu fühlen, aber auch ohne sie zu verurteilen. Um es auf die Leserschaft zu übertragen: Man bangt mit Alex und man ärgert sich über sie, aber sie lässt einen nie kalt. Das ist das Hauptverdienst von Emma Cline.