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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 916 Bewertungen
Bewertung vom 20.04.2016
Schloß Gripsholm
Tucholsky, Kurt

Schloß Gripsholm


gut

Ich dichte erst ab 12 %

Es gibt nur wenige Schriftsteller, die derart vielseitig geschrieben haben wie Kurt Tucholsky, der als kritischer und weitsichtiger politischer Journalist ebenso erfolgreich war wie als Publizist, Kritiker für Literatur, Film und Musik, als Kabarettautor, Lyriker und nicht zuletzt als Satiriker. Schloß Gripsholm, sein 1931 erstmals erschienener, berühmter «Sommerroman» wurde ein großer Publikumserfolg, er gehört zu den heiteren Erzählungen, die ihm hier nach anfänglichem Sträuben letztendlich doch locker und leicht aus der Feder geflossen ist. Der Erfolg beim Publikum war entsprechend, es folgten immer wieder neue Auflagen. Der notorische Schürzenjäger Tucholsky berichtet von einem Liebesurlaub mit seiner Freundin in Schweden, dessen immer nur ganz dezent angedeutete erotische Komponente der Geschichte eine gewisse Würze verleiht. In einer Art Vorspiel zum Roman ist ein fiktiver Briefwechsel des Autors mit seinem Verleger Ernst Rowohlt abgedruckt, der ihn auffordert, doch mal eine «kleine Liebesgeschichte» zu schreiben. Im Antwortbrief auf die Prozentzahl an Rezensionsexemplare angesprochen bietet ihm Rowohlt 14% an, was der Autor ablehnt: «Bei 14% fällt mir bestimmt nichts ein – ich dichte erst ab 12%.»

«Sie hatte eine Altstimme und hieß Lydia» heißt es im ersten Satz von der Sekretärin, die mit dem Ich-Erzähler Peter ein unkonventionelles Liebespaar bildet, das für fünf Wochen nach Schweden reist, um dort die Seele baumeln zu lassen, sich gründlich zu erholen. Lydia ist gleichzeitig guter Kumpel und engelsgleiche Geliebte für Peter, der sie zumeist «Prinzessin» nennt und unsterblich verliebt ist in sie. Als er sie kennenlernte als balzender Mann, «beleuchtete ich alle Schaufenster meines Herzens. Und dann sprachen wir von der Liebe. Das ist wie bei einer bayerischen Rauferei – die raufen auch erst mit Worten.» Ihr Ferienquartier wird nun Schloß Gripsholm, wo sie in einem Anbau fern von den Touristen genau das finden, was sie suchen: Nichtstun, Faulsein, heiter verliebt die Natur genießen. Der Besuch von Karlchen, einem guten Freund von Peter, unterbricht ihre Idylle für einige Tage, danach taucht plötzlich auch Billy auf, Lydias beste Freundin, die sich von ihrem Liebhaber getrennt hat.

Bei einem ihrer Streifzüge durch die Gegend treffen die Prinzessin und Peter auf Ada, ein kleines, offensichtlich tief verstörtes Mädchen, das in einem Kinderheim lebt und dort von der tyrannischen Leiterin gequält wird. Es gelingt ihnen, die in der Schweiz lebende Mutter davon zu überzeugen, das Kind zu sich zurückzuholen. Dieser zweite Handlungsfaden rückt die Realität wieder etwas mehr in den Vordergrund, brutale Gewalt der Herrschenden den hilflos Unterdrückten gegenüber beschwört bei Peter den Albtraum eines Gladiatorenkampfes herauf, bei dem nichts als die nackte Gewalt regiert. Eine Idylle wie die im Schloß Gripsholm ist also nur auf Zeit vorstellbar, eine ernüchternde Erkenntnis für die beiden Turteltauben. Nach gemeinsamem Kreuzworträtselraten mit Billy kommt es am Ende zu einer Liebesnacht zu dritt, ganz unkonventionell genießen die Urlauber die Unbeschwertheit ihrer schönen Ferientage.

Tucholsky schreibt witzig, verschmitzt, lakonisch, geistreich, weitsichtig. Er benutzt, Gott sei Dank nur im kurzen Abschnitten, plattdeutsch und andere Idiome, was einerseits erheiternd ist, andererseits aber auch den Lesefluss erheblich stört. Sein kreativer Schreibstil ist durch überraschende Wortschöpfungen und verblüffende Gedankengänge geprägt, die satirische Komponente seiner Erzählung wird durch kluge Reflexionen ergänzt. Bei alldem schwingt unübersehbar im Hintergrund oft auch eine gewisse Melancholie mit, die vielbeschworene leichte Sommergeschichte ist jedenfalls nicht ganz so unbeschwert, wie sie vielen Lesern erscheint. Insoweit ist Schloß Gripsholm ein lesenswertes Buch, das oft unterschätzt wird und weit mehr Tiefgang bietet als eine typische Liebesgeschichte das jemals kann.

Bewertung vom 31.03.2016
An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Schimmelpfennig, Roland

An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts


weniger gut

Tragisch unterkühlt

Auffallen um jeden Preis ist wohl die Devise, und dazu geeignet scheint auch ein solch bandwurmartiger Romantitel wie «An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21ten Jahrhunderts». Frank Witzel hat seinen Lesern die Abkürzung «Die Erfindung» zugestanden für seinen noch üppigeren Romantitel, von Theaterautor und Dramaturg Roland Schimmelpfennig war diesbezüglich noch nichts zu hören. Er hat jedenfalls mit diesem deskriptiven Titel für seinen Debütroman vorab schon einiges angedeutet, die Eiseskälte dient ihm als Metapher für Erstarrung, Vereinsamung, Ausweglosigkeit als sozialer Befund. Und schon im ersten Satz wird neben dem geografischen Schauplatz der Handlung auch gleich eine Art Leitmotiv eingeführt, das einen weiteren literarischen Trend bestätigt, den Hang zum Tier als Subjekt der Handlung, hier in Form eines Wolfes. Also nicht gerade ein Kuscheltier, im Mythos wie im Volksverständnis als bedrohliches Tier angesehen, womit der Leser auf das Folgende bereits bestens eingestimmt ist.

In kurzen Episoden wird, auf mehrere Handlungsstränge verteilt, von Menschen erzählt, die im Dunstkreis der Metropole Berlin soziologische Typen verkörpern, denen allesamt etwas Unfrohes anhaftet, die permanent enttäuscht werden. Da ist zunächst der polnische Saisonarbeiter, der bei einem Stau auf der Autobahn dem Wolf als Erster begegnet und ihn geistesgegenwärtig fotografiert, vor einem Schild «Berlin 80 km» auch noch. Seine als Putzfrau arbeitende Freundin verkauft das Foto, und sofort ist der Wolf in allen Zeitungen präsent und wird schnell zum Problemwolf wie einst Bruno, der bayerische Problembär seligen Angedenkens. Der Pole wird arbeitslos, die Freundin lässt sich auf einer Party von einer Zufallsbekanntschaft schwängern, der jugendliche Erzeuger dringt auf Abtreibung. Ein junges Pärchen reißt von zuhause aus, weil die Mutter ihre Tochter ins Gesicht geschlagen hat, eine lebensgefährliche Flucht bei strengem Forst, bei der ihre Liebe auf der Strecke bleibt. Die Eltern suchen erfolglos nach ihnen, sie stecken ihrerseits in handfesten Problemen, Alkoholismus spielt eine dominante Rolle, auch Hoffnungslosigkeit und Sprachlosigkeit. Wir erleben den Kioskbesitzer, der die fixe Idee hat, den Wolf zu finden und zu erschießen, es gibt andere Figuren mehr, deren Wege sich mit dem Ausreißerpärchen kreuzen, und immer wieder taucht dabei unvermutet der Wolf auf.

Der Autor bedient sich in lose aneinandergereihten kurzen Szenen einer unterkühlt wirkenden Sprache, mit minimalistischen, schmucklosen Sätzen, die häufig ohne Nebensätze auskommen und wie Bühnensprache phonetisch zweckmäßig und dramaturgisch leichtverständlich aneinandergereiht sind. Die im Roman eh schon vorherrschende meteorologische wie mentale Eiseskälte wird dadurch aber entschieden überstrapaziert, der Leser muss sich warm anziehen, könnte man sagen, - oder viel Alkohol trinken wie die allesamt tragischen Romanfiguren. Viele von ihnen bleiben übrigens namenlos, was zu sperrigen Formulierungen wie «Die Freundin der Mutter des Jungen» führt, und über ihr Geschick können wir am Ende nur mutmaßen, irgendwelche Andeutungen gibt es keine. Im letzten Satz schließlich heißt es lapidar: «Der Wolf war verschwunden.»

In Form eines Gegenwartsromans beschreibt der Autor lakonisch eine äußerst triste Gesellschaft, wobei mir seine emotionslose Geschichte deutlich überzeichnet erscheint, allzu eiskalt konstruiert zudem, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Absicht, ein Panorama der Jetztzeit zu zeichnen, ist jedenfalls wenig überzeugend, sowohl in inhaltlicher als auch sprachlicher Hinsicht. Rückblickend gesehen war mir persönlich nur der Wolf sympathisch, der als Rudeltier hier aber einsam umherirrt, wie all die blutleeren menschlichen Figuren übrigens auch. Erstaunlich, dass es dieser fragwürdige Roman in die Shortlist des Leipziger Buchpreises geschafft hat, klug aber, dass die Jury ihm diesen Preis letztendlich nicht verliehen hat.

Bewertung vom 29.03.2016
Die Unglückseligen
Dorn, Thea

Die Unglückseligen


gut

Wider die finale Demütigung

Die unter dem Künstlernamen Thea Dorn auch im Fernsehen häufig präsente Schriftstellerin hat sich mit ihrem neuesten Roman «Die Unglückseligen» an ein uraltes Menschheitsthema gewagt, die Endlichkeit des Lebens. Dabei greift sie in ihrer kreativ konstruierten Geschichte auf den Faustmythos zurück, lässt trickreich die Jetztzeit auf die deutsche Romantik treffen mit all den Verwicklungen, die daraus erwachsen. Wie im Kupferstich von Dürer agieren hier Ritter, Tod und Teufel im Kampf um die «finale Demütigung», wie die Autorin ihre Thematik in einem Interview genannt hat. Sich an einen solchen Stoff gewagt zu haben ist allein schon lobenswert, als Agnostikerin enthält sie sich dabei wohlweislich einer abschließenden Wertung der Frage, ist der Tod ein verdammenswertes Übel oder unabdingbare Voraussetzung für das Leben als solches.

Die deutsche Humangenetikerin Dr. Johanna Mawet, anlässlich eines Forschungsaufenthaltes in den USA mit genetischen Untersuchungen nach den Ursachen des Alterungsprozesses beschäftigt, begegnet im Supermarkt einem äußerst seltsamen Mann. Der gibt sich als der 1776 in Schlesien geborene und zu einiger Berühmtheit gelangte Physiker Johann Ritter aus, wäre mithin also 240 Jahre alt. Die ebenso skeptische wie neugierige Johanna beginnt sich näher mit dem merkwürdigen Mann zu befassen, sie lässt seine DNA analysieren in der Hoffnung, dort auf das Geheimnis seiner besonderen körperlichen Konstitution zu kommen. Genetisch überraschenderweise als Dreißigjähriger eingestuft, scheint er andererseits nicht nur tatsächlich älter als der mit 122 Jahren bis dato älteste Mensch zu sein, sein Körper hat auch die unerklärliche Fähigkeit, verlorene Gliedmaßen zu regenerieren. Ein Arm, den er im Kriege verloren habe, sei ihm binnen einiger Monate nachgewachsen. Um die skeptische Wissenschaftlerin zu überzeugen, schneidet er sich kurz entschlossen einen Finger ab, und tatsächlich wächst der Finger wieder nach.

Johann Wilhelm Ritter, bekannt mit Goethe und befreundet mit Novalis, hatte in seinen jungen Jahren als berühmter Forscher barbarische Selbstversuche mit Strom durchgeführt, ehe er 1810 in Armut starb. Tatsächlich aber, erklärt er Johanna, sei er nicht gestorben, ein Anderer wurde für ihn im Armengrab verscharrt, er selbst sei seitdem als ewig Rastloser durch die Welt gezogen. Johanna kehrt mit ihm nach Deutschland zurück, sie hat die fixe Idee, seine damaligen Versuche am eigenen Leibe zu wiederholen und ihre eigene DNA vor und nach den galvanischen Einwirkungen analysieren zu lassen, um nach Unterschieden zu suchen. Mehr sei hier nicht verraten, um den Spannungsbogen zu erhalten. Der fortschrittsgläubigen Johanna steht mit Ritter also ein aus der Zeit Gefallener gegenüber, der mehrfach vergeblich versucht hat, sich das Leben zu nehmen, für den das Leben gerade der Sterblichkeit wegen aber erst seinen Sinn erhält, wertvoll wird.

Thea Dorn benutzt für jeden ihrer drei Protagonisten ein spezielles Idiom, Johanna ein heutiges Deutsch, Ritter ein der Epoche seiner Geburt entsprechendes, altmodisch gedrechseltes, den Teufel wiederum lässt sie in einem für Lyrikunkundige komplizierten Versmaß sprechen, dem sie im Interview geradezu musikalische Eigenschaften attestierte. Häufig wendet sie sich auch selbst an den Leser, erklärt Zusammenhänge, all dies in wechselnder Typografie. Die ihrem unübersehbar ironischen Roman zugrunde liegende Thematik ist Ursache und Quell aller Religionen, ist das Menschheitsthema überhaupt. Man kann dies als wichtigen Anstoß nehmen, Tod oder Unsterblichkeit philosophisch selbst mal weiter zu durchdenken, denn schon in der Variante Lebensverlängerung, wie wir am Beispiel des 240 Jahre alten Ritter sehen, werden nicht unerhebliche Zweifel geweckt. Man könnte nun bemängeln, dass hier selbstverliebt zu Vieles auf einmal hineingepackt wurde, bereichernd ist der ebenso ambitionierte wie amüsante Roman gleichwohl, es lohnt allemal, ihn mit Bedacht zu lesen.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.03.2016
Ein anderer Ort
Oz, Amos

Ein anderer Ort


gut

Im Mikrokosmos des Kibbuz

Der 1939 als Amos Klausner geborene Schriftsteller nahm 15jährig beim Eintritt in einen Kibbuz den Namen Amos Oz an, als meistübersetzter israelischer Autor und Professor für hebräische Literatur wurde er zeitlebens mit vielen Preisen geehrt. In seinem 1966 erschienenen ersten Roman «Ein anderer Ort» thematisiert er die israelische Utopie einer basisdemokratisch geführten, sozialistischen Siedlungsgemeinschaft, dem Kibbuz, der im heutigen Israel wirtschaftlich und gesellschaftlich bedeutungslos geworden ist. Der Gegensatz einer streng rationalen, disziplinierten Gesellschaftsordnung des idealistischen Kollektivs zu den individuell vorhandenen, existentiellen Trieben und Prägungen der einzelnen Mitglieder bildet den Stoff, besser Zündstoff, für eine Geschichte, die zeitlich Anfang der sechziger Jahre – noch vor dem Sechstagekrieg - angesiedelt ist.

In einer Fülle von anschaulich beschriebenen, oft kantigen Figuren bilden zwei Paare die alles dominierenden Protagonisten. Ihre als Amour fou den beschaulichen Frieden im Kibbuz störenden sexuellen Beziehungen bilden im Wesentlichen den losen erzählerischen Leitfaden einer ansonsten handlungsarmen Geschichte. Der von seiner Frau verlassene Lehrer des Wehrdorfs im Norden Israels hat ein Verhältnis mit der Frau des LKW-Fahrers, welcher sich wiederum von dessen 15jähriger Tochter verführen lässt, was nicht ohne Folgen bleibt, sie wird schwanger. Die in dieser unheilvollen Melange begründeten individuellen Konflikte münden gleichwohl in ein versöhnliches Ende, das Menschliche obsiegt über das rein Rationale.

Um die hier kurz skizzierte Handlung herum wird ein etwa einjähriger Abschnitt aus dem Kibbuzleben erzählt. Amos Oz beschreibt in einzelnen Szenen wunderbar stimmig und mit Liebe zum Detail eine ganz eigene Welt, die für den ausländischen Leser unwirklich, fast exotisch erscheinen muss mit ihrem streng befolgten Regelwerk. Dessen religiöse Komponente wird verkörpert durch den LKW-Fahrer, ein ebenso tatkräftiger wie ernster, wortkarger Mann, der häufig in Bibelzitaten sprechend seine Gesprächspartner immer wieder verblüfft mit seiner unbeirrten Geradlinigkeit. Überhaupt ist die selbstverständliche Bereitschaft der Siedler, sich den strengen Regeln und der harten Arbeit zu unterwerfen, ihre fast mönchische Genügsamkeit wirklich staunenswert. Weit ins Familienleben eingreifend wachsen Kinder hier räumlich getrennt von den Eltern auf, jedes Privateigentum wird strikt ablehnt, die Gleichheit aller postuliert, ein Irrtum, an dem auch der Kommunismus gescheitert ist. Der von den Älteren verinnerlichte Gründungsmythos der Kibbuzniks wird von den jungen Leuten zunehmend in Frage gestellt, sie sperren sich gegen die sozialistische Idee, verlassen ihr Wehrdorf, ziehen in die Städte oder gehen ins Ausland. Die Nähe der arabischen Feinde und deren ständig drohenden Angriffe fördern unter den jungen Israelis einen aggressiven Militarismus, der dem Friedenswillen der Alten entgegensteht: «Ein Jude, der zur Waffe greift, ist kein Jude», glauben jene. Und so endet denn auch dieser Roman mit einem von den Kibbuzniks durch eine Landnahme provozierten Scharmützel mit den Arabern, dem der Traktorfahrer zum Opfer fällt und das viel Sachschaden anrichtet.

Unübersehbar nostalgisch und wehmütig verklärend beschreibt Amos Oz hier eine bieder anmutende Pionierzeit, die schon damals ihren Zenith überschritten hatte. Er erzählt sie aus der Perspektive eines Ich-Erzählers, der anonym bleibt, aber im Dorf lebt und den Leser schon im ersten Satz direkt anspricht: «Vor euch liegt der Kibbuz Mezudat Ram». Zuweilen in Form des Bewusstseinsstroms erzählt, häufig aber durch direkte Rede, breitet der Autor das Bild eines fremdartigen Mikrokosmos vor dem Leser aus. Immer wieder lässt er ihn auch teilhaben an seinen Gedanken, würzt all dies mit feiner Ironie und schafft damit elegant eine Atmosphäre der Vertrautheit, die den Leser fest an sein Buch zu fesseln vermag.

Bewertung vom 21.03.2016
Narrenweisheit oder Tod und Verklärung des Jean-Jacques Rousseau
Feuchtwanger, Lion

Narrenweisheit oder Tod und Verklärung des Jean-Jacques Rousseau


sehr gut

Vitam impendere vero

Zum Spätwerk von Lion Feuchtwanger, einem der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller im vergangenen Jahrhundert, zählt der 1952 erschienene Roman «Narrenweisheit», dessen Untertitel «Tod und Verklärung des Jean-Jaques Rousseau» seine Thematik verdeutlicht. Er gehört zur Gattung der historischen Romane, mit denen der Autor, beginnend mit «Jud Süß», weltweit großen Erfolg hatte, und umfasst zeitlich die letzten Monate vor dem Tod des großen französischen Denkers und Schriftstellers 1778 bis zur feierlichen Überführung seines Leichnams ins Pariser Panthéon im Jahre 1794.

Bereits der Titel spielt darauf an, dass Rousseau, der im Roman fast nur Jean-Jaques genannt wird, neben seiner unbestrittenen Weisheit auch ein Narr war mit psychotischen Ängste und wahnhaften Abwehrreaktionen. Unbeholfen zudem, was seine privaten Lebensumstände betraf, sein Unvermögen beispielsweise, aus seinen Werken den ihm gebührenden finanziellen Nutzen zu ziehen. Wie so oft in seinem Leben war er auch 1778 nach heftigen Querelen in Paris wieder mal auf die Gastfreundschaft eines seiner Gönner und grenzenlosen Bewunderer angewiesen, des Marquis de Girardin, Seigneur von Ermenonville. Der aber konnte sich nicht lange im Ruhme des gefeierten Gastes sonnen, Rousseau verstarb ganz plötzlich, nach offizieller Version an einem Schlaganfall. Feuchtwanger, der sein Buch einen «Detektivroman mit historischem Hintergrund» nannte, ergänzt die Fakten jedoch um eine Mordgeschichte, der Liebhaber von Rousseaus Ehefrau Théresè habe den berühmten Denker aus Geldgier erschlagen, der Mord aber wurde aus den verschiedensten Gründen vertuscht und als haltloses Gerücht abgetan. Ebenfalls in die Handlung eingebettet ist die Romanze von Girardins Sohn Fernand mit Gilberte, eine Jugendliebe, die sich erst auf vielen Umwegen zu erfüllen scheint, wenn da nicht die Einberufung zur republikanischen Armee wäre, die ein mögliches Happy End für die Beiden letztendlich in Frage stellen könnte.

Das Besondere dieses stilistisch ausgezeichneten Romans ist die Fülle von historischen Ereignissen und berühmten Zeitgenossen, die hier eingebaut sind und die eigentliche Handlung immer wieder überlagern, die oft sogar im Zentrum des Erzählten stehen. Man erlebt als Leser den Beginn der französischen Revolution aus der Perspektive der Aristokratie, als deren geistiger Vater Rousseau angesehen wird, von Robbespiere, der ihn in Ermenonville besucht, grenzenlos bewundert. Im Verlauf der Revolution jedoch werden auch Girardin und sein Sohn denunziert und geraten ins Visier des republikanischen Tribunals, Fernand landet in Untersuchungshaft, sei Vater steht unter Hausarrest, beide trotz ihrer republikanischen Gesinnung. Gilberte, die durch Heirat in den Adelsstand erhoben wurde, muss sogar erkennen, dass die frisch errungenen Privilegien nun eher nachteilig, sogar hochgefährlich sind in Zeiten der Revolution mit ihren unvorhersehbaren Auswüchsen an Gewalt. Rousseaus eigentlich ja unpolitische Thesen erweisen sich als widersprüchlich und fragwürdig angesichts des jakobinischen Terrors, den er mit heraufbeschworen hat, Fernands einst felsenfeste Überzeugungen jedenfalls sind gewissen Zweifeln unterworfen.

Der flüssig lesbare Roman veranschaulicht durch seine historische Thematik, trotz mancher fiktiven Ergänzungen, recht eindrucksvoll und ohne wissenschaftlichen Anspruch die Wirkungen des Werkes von Jean-Jaques Rousseau auf den Gang der Geschichte. Insoweit bietet die Lektüre neben ihrem Unterhaltungswert en passant eine Auffrischung, wenn nicht sogar einen nicht unbeträchtlichen Zugewinn an Geschichtswissen für den Normalleser, bei mir war es jedenfalls so. Weit mehr als der ihm zugeschriebene, wirkmächtige Aufruf «Zurück zur Natur» überzeugt mich Rousseaus Wahlspruch «Vitam impendere vero», sein Leben der Wahrheit weihen scheint mir ein nachahmenswerter Vorsatz, auch wenn genau das, wie wir in diesem Roman erfahren, allzu schnell als Narretei abgetan wird.

Bewertung vom 14.03.2016
Interessengebiet
Amis, Martin

Interessengebiet


schlecht

Anus mundi

Als Enfant terrible der englischen Literatur ist der erfolgreiche Schriftsteller Martin Amis schon häufig befehdet worden in seiner Heimat. Was ihm jedoch bei seinem neuesten Roman «Interessengebiet» passiert ist, das stellt zweifellos den absoluten Gipfelpunkt der Missbilligung dar. Sein Roman wurde beim deutschen Hanser-Verlag schlicht und ergreifend abgelehnt, in Frankreich bei Gallimard übrigens auch. Wenn man allerdings weiß, dass der Titel des Romans die Bezeichnung der SS für den gesamten Lagerbereich des KZs Auschwitz war, erahnt man den Sprengstoff, der diese drastischen Reaktionen bewirkt hat, der Holocaust ist - und bleibt wohl auf ewig - ein brisantes Thema. Und so fand der umstrittene Roman nur auf dem Umweg über die Schweiz zu uns. Die Aufregung erinnert mich an Jonathan Littels «Die Wohlgesinnten» und wirft natürlich auch hier die gleiche Frage auf, ob nämlich aus Tätersicht erzählte Holocaust-Romane einen fremdsprachigen Autor bedingen. Könnte, frage ich, ein dem Tätervolk angehörender, renommierter Autor, ohne einen Skandal auszulösen, ebenso locker und ironisch das Grauen als wohlfeilen Background für seine Erzählung benutzen?

Äußerer Rahmen der Handlung ist die Geschichte einer Liebe auf den ersten Blick, der draufgängerische Golo Thomsen, isländischer Herkunft, SS-Verbindungsoffizier zu den Buna-Werken der IG Farben, verliebt sich unsterblich in Hannah, die Frau des Kommandanten von Auschwitz, Paul Doll. In sechs Kapiteln, ergänzt um ein mit «Nachspiel» überschriebenes Schlusskapitel, entwickelt der Autor seine verstörende Geschichte, in deren Mittelpunkt im wesentlichen das KZ-Lagerleben steht, das in wechselnden Unterkapiteln aus der Perspektive der drei Ich-Erzähler Golo, dem versoffenen und überforderten Doll sowie von Szmul erzählt wird. Letzterer ist ein Häftling, der als Kapo eines Sonderkommandos fungiert, das den Vergasten die Goldplomben entfernen und die Haare abschneiden muss, um die Leichen anschließend ins Krematorium zu bringen. All dies ist schon vielfach geschildert worden, der Autor fügt dem Schreckensszenario absolut nicht Neues hinzu.

Eine gewisse Spannung erhält der Plot dadurch, dass die sich anbahnende Romanze des als Schwerenöter beschriebenen Golo mit Hannah natürlich hochgefährlich wäre, schließlich ist Doll als Kommandant unumschränkter Herr über Leben und Tod im Lager. Doch Golo genießt seinerseits Protektion aus Berlin, ausgerechnet Martin Bormann nämlich ist sein Onkel, Hitlers einflussreicher Privatsekretär, die graue Eminenz im Tausendjährigen Reich. Genau hier aber gleitet die Geschichte ins Kitschige ab, die Gespräche von Golo mit Onkel Martin und Tante Gerda, in denen auch deren unkonventionelles Sexleben nicht ausgespart bleibt, sind absolut unwirklich. Meist drehen sich die in einem besonderen Lagerjargon gehaltenen Gespräche um die Logistik des Todes, um ökonomische Probleme, um die wenigen Veranstaltungen, die für die Offiziere Abwechslung in das trostlose Lagerleben bringen, und abstoßend vulgär um Frauen natürlich. Der Jude Szmul wiederum fungiert als moralische Instanz, er will heimlich notieren, was im Lager wirklich passiert, er will der Nachwelt damit Zeugnis ablegen über das Unsagbare, das doch so unsäglich erscheint.

Die Liebesgeschichte inmitten des Grauens hat einen unerträglich bitteren Beigeschmack, auch wenn uns Lesern ein Happy End erspart bleibt. Das Figurenensemble verkörpert allzu klischeehaft jene scheußlichen Menschentypen, die eine solch extreme Ausnahmesituation auszuformen imstande ist. Die fiktionale Überhöhung impliziert eine Verharmlosung, die mir unerträglich erscheint angesichts des historischen Geschehens. Als Satire im Stil von Monty Python ist der Roman jedenfalls rettungslos missglückt, eventuell vorhandene moralische Absichten werden damit auf böse Art konterkariert. Und ohne Auschwitz, im Lagerjargon Anus mundi, soviel ist auch sicher, wäre «Interessengebiet» ein Schundroman, der kaum jemanden interessiert.

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.03.2016
Die größere Hoffnung
Aichinger, Ilse

Die größere Hoffnung


sehr gut

Gedichte nach Auschwitz

In ihrem einzigen Roman «Die größere Hoffnung» thematisiert die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger das Schicksal eines halbjüdischen Mädchens während der Nazizeit. Der 1948 erschienene Band ist eine vehemente Absage an die nach dem Zweiten Weltkrieg weitverbreitete Kahlschlagliteratur, die darauf abzielte, die politische Vergangenheit ein für alle mal zu überwinden, einen radikalen Neubeginn zu erzwingen. Unbeirrt der Wahrhaftigkeit verpflichtet, schreibt die literarisch vielseitige Autorin mit diesem teilweise autobiografischen Roman nicht nur gegen die Verdrängung einer unliebsamen historischen Vergangenheit an, sie hinterfragt auch geschickt deren reale Vorbedingungen und analysiert ebenso scharfsinnig wie misstrauisch die wirksamen seelischen Triebkräfte, eine entschiedene Absage an jede Form von Konformismus.

Protagonistin des Romans ist Ellen, ein halbjüdisches Mädchen im Backfischalter, die bei der Großmutter lebt, weil die jüdische Mutter in die Emigration gehen musste und der Vater als Offizier die Familie verlassen hat, um seine Karriere nicht zu gefährden. Ellens große Hoffnung ist, der Mutter nach Amerika folgen zu können, dafür aber braucht sie ein Visum. In zehn Kapiteln entwickelt Ilse Aichinger ihre allegorische Geschichte über die Judenverfolgung am Beispiel von verfolgten Kindern mit «falschen Großeltern», die einen Judenstern tragen müssen, denen vieles verboten ist und die ständig mit der Angst vor der «geheimen Polizei» leben. Als der Krieg schließlich die Stadt erreicht, weitet sich der zunächst nur politische Wahnsinn zum absoluten Inferno, das sich jeder Deutung entzieht. Die traumatischen Erlebnisse und abenteuerlichen Begegnungen Ellens mit absurden Figuren sind konsequent aus Teenagersicht erzählt, deren Naivität literarisch als Vehikel genutzt wird, um das Unsagbare in Worte fassen zu können. Damit wird der Schrecken der Geschehnisse abgemildert, werden ihm fast märchenhafte Züge verleiht, eine konträre «Alice im Wunderland», ins Grauenhafte transformiert.

Die aus dieser speziellen Perspektive erzählte Geschichte bildet ein kunstvolles Konstrukt aus Träumen, Ängsten, Mythen und historischer Realität, chronologisch ungeordnet einer mal personalen, mal auktorialen Erzählhaltung folgend. Der lyrische Text dieser Gefühlswelt ist weitgehend unkonkret, bleibt beharrlich unbestimmt, ist geradezu surreal, in den Ängsten und Zwangsvorstellungen entfernt an Kafka erinnernd, aufgeladen mit reichlich Symbolismus. Er vermeidet konsequent jede Nennung von Namen und Orten des historischen Hintergrunds, umschreibt ganz bewusst reale Begriffe aus der Welt dieser schlimmsten Bösewichte der Menschheit. Die im ersten Drittel dominierende, ebenso märchenhafte wie konfuse Erzählweise wird später etwas abgemildert in ihrer Unstetigkeit, die wirren Gedankensprünge weichen einem etwas mehr auf Kontinuität im Erzählfluss setzenden Schreibstil, der gleichwohl die stete Aufmerksamkeit des Lesers fordert. Wer sich jedoch einlässt auf diese sehr spezifische sprachliche Form, wer sich den erzeugten Bildern überlässt, der schwimmt schon bald mit auf einem Wörterstrom von beeindruckender imaginativer Kraft, dessen Wirkung man sich kaum noch entziehen kann.

Die zur Verknappung neigende Ilse Aichinger hat sich über ihren wenig gelesenen Roman wie folgt geäußert: «Ich wollte zunächst eigentlich nur einen Bericht über die Kriegszeit schreiben. An ein Buch habe ich gar nicht gedacht, ich wollte nur alles so genau wie möglich festhalten. Als das Buch dann bei Fischer erschienen ist, stand noch immer viel zuviel drin. Ich wollte am liebsten alles in einem Satz sagen, nicht in zwanzig». Die so entstandenen Lücken muss der geneigte Leser füllen in diesem Klassiker, der auf beeindruckende Weise das Verdikt von Theodor W. Adorno über die Gedichte nach Auschwitz widerlegt.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.03.2016
Memento Mori
Spark, Muriel

Memento Mori


gut

Ein Denkanstoß

Der deskriptive Titel «Memento Mori» weist lateinkundige Leser sogleich unverkennbar auf die ziemlich spezielle Thematik von Muriel Sparks 1960 erschienen Roman hin: «Denke daran, dass du sterben musst». Die in Schottland geborene Schriftstellerin löste mit diesem frühen Werk einst eine Kontroverse innerhalb des Feuilletons aus. Kann man, darf man, wurde da gefragt, Alter, Sterben und Tod, diese Zumutung für eine vernunftbegabte Menschheit, so locker und ironisch als Groteske darstellen? Man darf! Und seither wurde Muriel Spark als wichtige Autorin von Rang angesehen, nicht nur im englischsprachigen Raum. 1993 wurde ihr der Titel «Dame» des Order of the British Empire verliehen, die Liste aller ihrer Preise und Ehrungen ist imposant.

«Alter schützt vor Torheit nicht» könnte man dem Roman als Motto voranstellen, und vor Bosheit erst recht nicht, muss man hinzufügen. Drei alte Sünder sind die Protagonisten, Godfrey, seine Frau Charmian und seine Schwester Lettie, alle jenseits der siebzig, um sie herum ein illustres Völkchen der gleichen Altersklasse, die sich an Kuriosität gegenseitig zu übertreffen scheinen. Äußerer Rahmen für die Handlung sind mysteriöse Telefonanrufe, bei denen ein anonymer Anrufer immer wieder «Denken Sie daran, dass sie sterben müssen» sagt und dann auflegt. Die Frage, wer dahintersteckt, wird übermächtig, als neben Lettie, die als erste damit belästigt wurde, immer mehr der Senioren solche Anrufe erhalten, aber weder die Polizei noch ein zusätzlich engagierter Privatdetektiv können den Fall klären. Kunstvoll ineinander verwoben erzählt die Autorin von Testamentsänderungen, Erbschleicherei, Erpressungen, Heimtücke, Rachegelüsten, Bosheiten, Schrulligkeiten und Lebenslügen der Greise, die auch im hohen Alter alles andere als altersweise sind, die im Gegenteil hartnäckig ihre egoistischen Pläne verfolgen, gierig ihren finanziellen Vorteil suchen, ihre schuldbeladene Vergangenheit vertuschen wollen.

Einen breiten Raum nimmt dabei auch die körperliche Hinfälligkeit der Hochbetagten ein, ihr täglicher Kampf gegen ihre diversen Gebrechen, ihre Vergesslichkeit. Die Bühne dafür ist bis ins Altersheim und die geriatrische Klinik erweitert, wo Bettlägerige und Senile von Ärzten und Schwestern betreut werden, die nicht zu beneiden sind angesichts der Kampfeslust der Patienten. Mit schwarzem Humor schildert die Autorin ironisch die Aussetzer und mentalen Fehlleistungen ihres skurrilen Personals, eine zuweilen maliziöse Satire, die nicht selten ins Makabre abgleitet. Todesfälle und Beerdigungen sind dabei nicht ausgenommen, und so etwas wie Trauer kommt einfach nicht vor in dieser rabenschwarzen Geschichte. Wobei der englische Humor mich hier etwas enttäuscht hat, viel mehr als dass der wohlhabende Godfrey aus Geiz seine Streichhölzer aufspaltet habe ich nicht gefunden, stattdessen tea time bis zum Abwinken, very british eben. Die Story ist in der gesellschaftlichen Mittelschicht der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg angesiedelt, man lebt recht auskömmlich ohne wirkliche Geldsorgen.

Der dialogreiche Text ist in einem leicht lesbaren Stil verfasst, bei der Fülle von Figuren ist allerdings erhöhte Aufmerksamkeit erforderlich, Lesern mit ausgesprochen schlechtem Namensgedächtnis sei ein Spickzettel angeraten. Nicht jeder wird mit der unverblümt sarkastischen Perspektive der Autorin einverstanden sein, Gott, Jenseits und Anderes aus der religiösen Wundertüte fehlt hier völlig, der Tod ist etwas so Normales, dass man kein Aufhebens davon macht, unbeeindruckt wieder zur Tagesordnung übergeht. Und so gibt es auch für die kriminalistische Frage eine einfache Antwort: «Ich bin davon überzeugt, dass der Urheber der anonymen Anrufe der Tod selbst ist, wenn man das sagen darf. Ich weiß nicht, was Sie dagegen unternehmen könnten, Dame Lettie. Wenn Sie sich nicht an den Tod erinnern, erinnert der Tod Sie an sich». Kann man das alles als Denkanstoß im Umgang mit dem Tod auffassen? Aber sicher doch!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.03.2016
Montauk
Frisch, Max

Montauk


sehr gut

Mein Name sei Frisch

Das epische Werk des Schweizer Schriftstellers Max Frisch ist autobiografisch geprägt, so auch die 1975 erschienene Erzählung «Montauk», die jedoch nicht fiktiv, sondern authentisch sei. Vorbild für diese Erzählhaltung ist Michel de Montaigne, aus dessen Einführung zu seinen weltberühmten «Essais» Frisch im vorangestellten Motto zitiert: «Denn ich bin es, den ich darstelle. Meine Fehler wird man hier finden, so wie sie sind, und mein unbefangenes Wesen, so weit es nur die örtliche Schicklichkeit erlaubt». Auf die Schicklichkeit komme ich noch zurück, Frisch selbst verdeutlich seine Absicht an einer der Stellen im Buch, an denen er die Entstehung des Textes von «Montauk» selbst thematisiert. «Ich möchte erzählen können, ohne irgendetwas dabei zu erfinden. Eine einfältige Erzähler-Position» merkt er dazu an.

Äußerer Rahmen der Erzählung ist ein Wochenendausflug zu dem titelgebenden Dorf Montauk an der Ostspitze von Long Island, mit dem eine Lesereise des Autors durch die USA endet. Der kurz vor seinem 63ten Geburtstag stehenden Frisch wurde durch eine 30jährige Angestellte des Verlages betreut und hatte mit Alice Locke-Carey, die im Buch Lynn heißt, eine Affäre. Beiden ist klar, dass ihr kurzes Techtelmechtel mit diesem gemeinsamen Ausflug enden wird. Geradezu dokumentarisch berichtet der Autor nun von den zwei zusammen verbrachten Tagen mit der jungen Amerikanerin, die keine Zeile von ihm gelesen hat. Mit scharfem Blick erfasst er die wenig spektakuläre Landschaft und die eher trostlose dörfliche Atmosphäre auf ihrem Kurztrip, der wegen Unpässlichkeit und temporärer Impotenz auch in sexueller Hinsicht nicht gerade ein Highlight ist. In vielen eingeschobenen Rückblicken erzählt Frisch von seinen Frauen, von den beiden gescheiterten Ehen ebenso wie von diversen Liebschaften. Wesentlich jedoch ist die Rückschau auf sein Leben, die Fragen des Alters und den Tod ebenso einschließt wie seinen berufliche Werdegang vom Architekten zum freien Schriftsteller oder seine anfangs prekäre finanzielle Situation. Eine lange Episode widmet er der besonderen Beziehung zu seinem langjährigen, als dominant empfundenen Mäzen und Jugendfreund, außerdem thematisiert er wiederholt auch seine literarische Arbeit als Dramatiker und Epiker. Dabei treibt ihn permanent die Sorge um, dass er mit seinen Texten dem realen Leben nicht wirklich gerecht wird, keine zureichend erscheinende Erzählform dafür gefunden hat.

Eine solch rigorose Selbstentblößung kann natürlich auch peinlich wirken auf die Leserschaft oder die realen Personen ziemlich verärgern; Abtreibungen zum Beispiel sind vermutlich eher ein allseits beachtetes Tabu als ein gern goutiertes literarisches Thema. Aber auch wenn sie die «Schicklichkeit» verletzen in Montaignes Sinne, sind die ungeschönten Geständnisse, bedrängenden Selbstzweifel und grenzenlosen Reflexionen von Max Frisch ein ebenso neuartiger wie bereichernder Erzählansatz abseits üblicher, aber unverbindlicher Fiktionalität.

Mit einer Fülle von trefflich beschriebenen Figuren gliedert sich diese collageartige Erzählung in fast zweihundert assoziationsreiche Einzelszenen unterschiedlichen Umfangs, die ohne kausalen Zusammenhang abrupt vom Gegenwärtigen zum Erinnerten springen. Das erfordert vom Leser viel Aufmerksamkeit, zum vollen Verständnis aber auch Kenntnisse der Vita des Autors. Die Erzählperspektive wechselt mit dem Erzählgegenstand, in den direkt erzählten Szenen wird in der dritten Person erzählt, in der Rückschau berichtet ein Ich-Erzähler. Was allerdings die apostrophierte Wahrhaftigkeit dieser Erzählung anbelangt, so wird man enttäuscht, es stimmt so gut wie nichts! «Mein Name sei Frisch» hat er selbst in Anspielung auf den vorhergehenden Roman geschrieben, seine Bewältigungsarbeit erweist sich also als gescheiterter Versuch zur Authentizität. Die literarische Bedeutung all dessen aber ist unbestritten, man sollte dieses Buch lesen, meine ich, es ist heute schon ein Klassiker!

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Bewertung vom 04.03.2016
Das Muschelessen
Vanderbeke, Birgit

Das Muschelessen


sehr gut

Demontage einer verlogenen Idylle

Gleich ihr Erstling «Das Muschelessen» hat Birgit Vanderbeke 1990 den Ingeborg-Bachmann-Preis eingebracht. Diese Erzählung ist bis heute ihr bekanntestes Werk geblieben und wird inzwischen auch als Schullektüre benutzt, nicht immer zur Freude der Schüler, wie man dem Internet entnehmen kann. In ihrer Geschichte finden sich einige Parallelen zur Vita der Autorin, obwohl sie jedwede biografische Ähnlichkeit natürlich verneint. Wer das Buch gelesen hat, weiß warum!

Ich-Erzählerin ist die gerade volljährig gewordene Tochter eines Ehepaares, das aus der DDR nach Westdeutschland übergesiedelt war und sich dort zur Zeit des Wirtschaftswunders, verbissen und zielstrebig, ein neues Leben aufgebaut hat. Der Vater ist als Mathematiker in hervorgehobener Position tätig, die Mutter arbeitet als Lehrerin, der Bruder ist wie die Erzählerin noch Schüler. Die Handlung erstreckt sich zeitlich über knapp vier Stunden eines Abends, an dem es Muscheln geben soll, das Lieblingsessen des Vaters. Als der sonst überpünktliche Vater um 18 Uhr noch nicht eingetroffen ist, beginnen die Drei sich zögernd über die ekligen Miesmuscheln zu unterhalten, die außer dem Vater eigentlich niemand richtig mag in der Familie. Je später es wird, desto anklagender werden die Gespräche über den abwesenden Vater und dessen despotisches Gehabe, dem alle devot folgen müssen ohne aufzumucken, der penible Ordnung verlangt und immer das letzte Wort haben muss als Oberhaupt einer richtigen Familie, wie er es immer nennt. Eine inzwischen geöffnete Spätlese löst Allen die Zunge, die Anklagen gegen den Vater werden immer drastischer, auch die anfänglich noch zurückhaltende Mutter begehrt zunehmend auf gegen ihren Mann, ob es nun um die Finanzen geht oder das Konzertabonnement, das Urlaubsziel oder das strenge Reglement im Tagesablauf, vor allem aber seine Brutalität bei dem, was er die Erziehung seiner Kinder nennt, die in Wahrheit eher einer Dressur gleichkommt. Am Ende erwähnt die Mutter zum Schrecken der Kinder sogar die mythische Königstochter Medea, «Alle vergiften, und dann ist Ruhe» sagt sie. Als um Viertel vor zehn schließlich das Telefon klingelt, geht die Mutter nicht ran, schüttet die inzwischen schlecht gewordenen Muscheln in den Mülleimer und sagt zum Sohn: «Würdest du bitte den Müll runter tragen». Mit diesem symbolträchtigen Satz endet die Erzählung.

In weiten Teilen wird die Geschichte in Form des Bewusstseinsstroms erzählt, ohne Absatz und ohne direkte Rede geschrieben, in langen, hypotaktischen Satzkonstruktionen mit einer sehr naiv wirkenden Sprache. Gleichwohl werden damit unterschwellig viele Assoziationen ausgelöst, werden immer wieder wie unbeabsichtigt versuchsballonartig Stichwörter eingeschoben, die im Folgenden dann doch noch ausführlich thematisiert werden. Verdi, um ein Beispiel zu nennen, von dem der Vater jeden Sonntagvormittag eine Platte anhört, wobei er die Kinder zwingt, dabei zu sitzen. Und «wenn dieser Verdi im Wohnzimmer alle war», ist die Mutter aus der Küche gekommen und hat «gleich gelüftet, um den Troubadour rauszulassen», jene, wie sie - schon leicht beschwipst - an diesem Abend erstmals mutig sagt, «akustische Wohnzimmerpest».

Man hat also reichlich Grund zum Schmunzeln, es gibt aber auch genügend Möglichkeiten zu ernsthaften Interpretationen dieser gnadenlos demaskierten Familienidylle, die vor allem das damals gängige, patriarchalische Rollenklischee auf beschämende Weise als Terror und Unterdrückung bloßstellt. Soziologisch gesehen ein Abgesang auf eine gottlob überholte familiäre Rollenverteilung, der mir literarisch als sehr gelungen erscheint, weil hier in einer angenehm leichtfüßigen Form erzählt wird, die ganz ohne Pathos und erhobenen Zeigefinger auskommt. Durch diesen Mix ist die Erzählung sogar für Leute wie mich erfreulich zu lesen, die Miesmuscheln ebenso eklig finden wie diese bedauernswerte Familie, mit der sie zwei bis drei vergnügliche Lesestunden verbringen durften.

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