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Raumzeitreisender
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Ahaus
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 757 Bewertungen
Bewertung vom 29.06.2016
Der Mann ohne Eigenschaften
Musil, Robert

Der Mann ohne Eigenschaften


sehr gut

Ein Klassiker der Literatur – nicht spannend aber geistreich

Bei diesem Roman handelt es sich um eine Parodie auf die feine Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Handlungsort ist Wien, die Reichshauptstadt von Kakanien (gemeint ist die Österreichisch - Ungarische Monarchie). Hauptdarsteller Ulrich, von Haus aus begütert, wird Mitglied einer Arbeitsgruppe, die sich mit der Planung der sogenannten Parallelaktion (eine patriotische Handlung zum 70. Regierungsjubiläum des österreichischen Kaisers) beschäftigt. Eine der Initiatoren dieser Aktion ist Diotima, einer Dame der besseren Gesellschaft.

Das Buch lebt nicht von den Handlungen (es passiert nämlich nicht viel), sondern von Dialogen und Gedankengängen. Der Roman setzt sich aus vielen kleinen Kapiteln zusammen, in denen das Beziehungsgeflecht der Hauptakteure mit akribischer Genauigkeit beleuchtet wird. Die vielen Perspektiven auf das Geschehen, gespickt mit feiner Ironie, sind der Kern des Buches. In diesen Beschreibungen beweist Robert Musil Genialität.

Während viele berechenbare Personen am Geschehen teilnehmen (z.B. General Stumm von Bordwehr oder Diotima), bleibt der Protagonist Ulrich eine diffuse Gestalt, ein „Mann ohne Eigenschaften“. Er ist in ein Außenseiter auf hohem intellektuellem Niveau und gleichzeitig ein Anziehungspunkt für die unterschiedlichsten Charaktere der feinen Gesellschaft.

„Der Mann ohne Eigenschaften“ ist ein anspruchsvoller aber auch anstrengender Romangigant. Bandwurmsätze mit mehr als 80 Wörtern erschweren das Verständnis und sind nicht mehr zeitgemäß. Es ist unverkennbar, welche Arbeit in diesem Buch steckt, das man als Kunstwerk der Literaturgeschichte bezeichnen kann. Empfehlen würde ich es nur Viellesern, die sich von 1000 Seiten sprachgewaltiger Lektüre nicht abschrecken lassen.

Bewertung vom 28.06.2016
Der lange Weg zur Freiheit
Mandela, Nelson

Der lange Weg zur Freiheit


ausgezeichnet

Ein Mann verändert die Welt

Das Grundgerüst für diese Autobiographie bildet ein Manuskript, welches Nelson Mandela Mitte der 1970er Jahre während seiner Gefangenschaft auf Robben Island verfasst hat. (644) „Der lange Weg zur Freiheit“ beinhaltet ein Stück Zeitgeschichte, die in keinem Bücherregal fehlen sollte. Mandela erzählt wichtige Stationen seines Lebens von seiner Kindheit in der Transkei bis zu seiner Präsidentschaft 1994. Im Fokus seiner Erinnerungen steht der Kampf gegen die Apartheid in Südafrika.

Als Leser dieser außergewöhnlichen Biographie fragt man sich, was das Geheimnis des Menschen Nelson Mandela ist und findet bereits in seiner Jugend Ansätze, die zu seinem Erfolg beigetragen haben. Aussagen wie „Schon als Junge lernte ich es, meine Gegner zu bezwingen, ohne sie zu entehren“ (20) und „Selbst als Student begegnete ich vielen jungen Männern mit großen natürlichen Gaben, die nicht die Selbstdisziplin und die Geduld aufbrachten, ihre Begabung zu entfalten“ (70) machen deutlich, aus welchem Holz Mandela geschnitzt ist.

Mut, Beharrlichkeit, Stolz, Verantwortungsbewusstsein, Verhandlungsgeschick, Einfühlungsvermögen und Weisheit zählen zu seinen ausgeprägten Eigenschaften. In jungen Jahren leitete er zusammen mit Oliver Tambo das einzige afrikanische Anwaltsbüro. Sein Einsatz für die Rechte der schwarzen Bevölkerung brachte ihn immer wieder in Schwierigkeiten und führte letztlich zu seinem jahrzehntelangen Gefängnisaufenthalt.

Er hat auch in extremen Zeiten stets an das Gute im Menschen geglaubt, wie an verschiedenen Stellen im Buch deutlich wird. „Badenhorst war vielleicht der härteste und brutalste Kommandant, den wir auf Robben Island hatten. Und doch zeigte er …, dass es in ihm auch eine andere Seite gab … Badenhorst war letztlich kein böser Mensch; die Unmenschlichkeit war ihm von einem unmenschlichen System aufgezwungen worden.“ (620)

Mandela hatte viele Freunde und bekam Unterstützung auch aus Kreisen der weißen Bevölkerung. Im Hinblick auf seinen kämpferischen aber auch aufopfernden Lebensweg muss man immer wieder reflektieren, dass er die harte Realität beschreibt und nicht eine Fiktion. Im Rivonia-Prozess drohte ihm die Todesstrafe. Während dieser Zeit sagte er einmal zu einem Angehörigen der Sicherheitspolizei, dass die Regierung Reformen einleiten müsse, „sonst würden die Freiheitskämpfer, die an unsere Stelle traten, dafür sorgen, dass die Behörden sich noch nach uns zurücksehnten“. (648)

Das Buch ist chronologisch aufgebaut und leicht verständlich. Es tauchen zahlreiche Namen von Freunden, Gegnern und Unterstützern auf. Die Verbindungen ziehen sich durch das gesamte Buch. Nebenbei erhält der Leser Einblick in die Kultur Südafrikas. Eine Rezension dieses Buches lässt sich nicht trennen von der charismatischen Persönlichkeit, um die es geht und so beende ich meinen Text mit Worten von Mandela:„Das erinnerte mich wieder einmal daran, dass man ein Volk nur dann wirklich führen kann, wenn man es genau kennt.“ (659)

Bewertung vom 28.06.2016
Das Ende eines ganz normalen Tages
Hohler, Franz

Das Ende eines ganz normalen Tages


gut

Geschichten aus dem Alltag

Franz Hohler erzählt in seinem Buch Kurzgeschichten über Ereignisse des Alltags. Die Betonung liegt auf „Alltag“ und nicht auf „Ereignis“, da es oft die kleinen Dinge des Lebens sind, auf denen der Fokus liegt. Er schreckt auch vor politisch brisanten Themen nicht zurück. So berichtet er in „Im gelobten Land“ über eine Reise nach Nahost und äußert sich zur Situation der Palästinenser. Kritisch ist auch sein Resümee aus „Sonntagsspaziergang“, wo er dem eigenen Volk mangelnde Hilfsbereitschaft unterstellt. Ganz anders dagegen sind seine Reiseberichte „Mit Katharina in Indien“ und „Eine mongolische Hochzeit“. Hier werden den Lesern fremde Kulturen auf humorvolle Weise nahe gebracht. Der Mensch hat, evolutionär bedingt, nur eine emotionale Bindung zu Menschen aus seinem näheren Umfeld bzw. zu Geschehnissen, die ihn unmittelbar betreffen. Das ist die Quintessenz aus „12.30 Uhr“, in der eine Alltagssituation in Beziehung gesetzt wird zu Katastrophenmeldungen aus der weiten Welt. Vielleicht sind die Menschen überfüttert mit negativen Schlagzeilen und es sollte auch einmal über Positives aus dem lokalen Umfeld berichtet werden, wie er in „Die Nachricht vom Kellner“ reklamiert. Hohler ist ein vielseitiger Autor. Angereichert wird die Themenvielfalt durch Poesie und naturverbundene Geschichten. Seine Erzählungen sind nicht grotesk, wie die Kurzgeschichten von Etgar Keret, sondern eher humorvoll und besinnlich. Er bewegt sich in der Wirklichkeit. Das Buch lebt nicht von der einzelnen Geschichte, sondern von der Vielfalt der Themen.

Bewertung vom 28.06.2016
Denkanstöße 2011

Denkanstöße 2011


sehr gut

Ein Lesebuch für zwischendurch

Das Buch enthält Texte zu den Themen Politik, Philosophie, Naturwissenschaften und Musik. Zu den bekannteren Autoren zählen der Theologe Hans Küng („Was ich glaube“) und der Pianist und Dirigent Justus Frantz („Was Sie über Musik wissen sollten“).

Der Beitrag von Margaret Heckel über Angela Merkel und die Bankenkrise ist recht informativ. Die Leser bekommen ein Gespür dafür, wie hektisch die Zeit war und wie groß der Druck auf die Regierung in der Krise gewesen ist.

Ulrike Herrmann untersucht das Selbstbild der Mittelschicht und fördert zutage, dass es sich dabei, um ein verzerrtes realitätsfernes Bild handelt. Die Mittelschicht hat einen schlechten Stand, weil sie immer wieder gegen eigene Interessen handelt. Autorin Herrmann erläutert, warum das so ist.

Die Abhandlung „Die verrückte Welt der Paralleluniversen“ wird angekündigt, als ob es sich dabei um neue Erkenntnisse der Physik handeln würde. Die zugrunde liegende Vielwelten-Interpretation der Quantentheorie geht – in ausgereifter Form – auf Hugh Everett zurück, der diese 1957 entwickelt hat. Die Theorie löst die Paradoxien der Quantentheorie auf. Ob diese Theorie jedoch die Wirklichkeit beschreibt, kann niemand wissen. Die Existenz von Paralleluniversen ist nicht überprüfbar, die Theorie nicht falsifizierbar.

In „Die Steinzeit steckt uns in den Knochen“ geht es um die Evolutionstheorie. Detlev Ganten, Thilo Spahl und Thomas Deichmann erläutern, warum unser Körper ein Produkt seiner evolutiven Entstehungsgeschichte ist und welche Auswirkungen das z.B. in medizinischer Hinsicht hat. Das Erbe unser Vorfahren steckt in unseren Erbanlagen. Der Beitrag ist sehr aufschlussreich und daher empfehlenswert.

Bei „Denkanstöße 2011“ handelt sich um ein Lesebuch für zwischendurch. In überschaubaren Essays werden aktuelle und auch zeitlose Themen erörtert. Der Reiz liegt in der Vielfalt der Themen.

Bewertung vom 27.06.2016
Der entgrenzte Mensch
Funk, Rainer

Der entgrenzte Mensch


ausgezeichnet

Entgrenzung und ihre psychologischen Folgen

Menschen loten ihre Grenzen aus, manche überschreiten sie. In diesem Buch geht es um ein ähnlich klingendes aber andersartiges Phänomen. Psychoanalytiker Rainer Funk rückt die Beseitigung und Auflösung von Grenzen in den Fokus. Er verwendet hierfür den Begriff Entgrenzung. Dieser unterscheidet sich vom Begriff der Grenzüberschreitung oder Transzendenz. Bei der Grenzüberschreitung hat die Grenze noch Bestand, bei der Entgrenzung löst sie sich auf.

Als Beispiel für ein personifiziertes Entgrenzungsstreben dient ihm das Leben von Michael Jackson, welches er im ersten Kapitel analysiert. Entgrenzung führt u.a. zu einer Verleugnung der Realität; Jacksons lange Zeit bestrittene Medikamentenabhängigkeit ist ein Beispiel dafür. Freiheit erwirbt man nicht durch Entgrenzung.

Entgrenzung ist auch ein Thema in der Wirtschaft, Arbeitswelt und Gesellschaft, wie der Autor deutlich macht. Entgrenzung wird deutlich, wenn die Finanzmärkte von der Realwirtschaft abgekoppelt werden. Die Investitionen auf den internationalen Devisenmärkten sind heute zehnmal so hoch wie die täglichen Umsätze des weltweiten Warenhandels. „Investitionen in die Realwirtschaft“, so der Autor, „erweisen sich zunehmend als weniger profitabel.“

Digitale Technik, Vernetzung und elektronische Medien tragen dazu bei, dass virtuelle Realitäten entstehen, in denen sich Menschen verlieren können, mit der Folge, dass die Fähigkeit des Menschen zur Realitätsprüfung beeinträchtigt wird. Die Realitätsprüfung ist aber eine zentrale Funktion des Ichs, die maßgeblich zur Lebenstüchtigkeit beiträgt. „Da die Realitätsprüfung zwischen subjektiv erlebter und äußerer Realität bei Aktivitäten in virtuellen Welten nur hinderlich ist, führt eine zunehmende Betätigung in virtuellen Welten zur Verkümmerung dieser wichtigen psychischen Fähigkeit, zum Abbau entsprechender neuronaler Verknüpfungen und damit zu einer Schwächung des Ichs.“

In „Der entgrenzte Mensch“ und „Doping der Seele“ beschreibt Funk die Folgen der Entgrenzung für die Persönlichkeit des Menschen. „Die virtuelle Realität wird als „hyperrealer“ erlebt als jede nicht-entgrenzte Realität. Am Ende werden das Selbsterleben und das Zusammenleben von virtuellen Persönlichkeiten dominiert, wie dies in zahlreichen neueren Filmen eindrücklich vor Augen gebracht wird.“

Dass Entgrenzung zur Sucht führt, zeigt Funk in den beiden letzten Kapiteln seines Buches auf. Er thematisiert, wie man sich aus diesen Abhängigkeitserkrankungen befreien kann. Wer frei sein will für ein aktives, selbstbestimmtes Leben, der braucht Grenzen. Ein grenzenloses Leben führt in die Abhängigkeit.

Autor Funk behandelt in diesem Buch ein aktuelles Thema unserer modernen Informationsgesellschaft. Die Globalisierung der Märkte, der Strukturwandel der Arbeit sowie ein unkontrollierter Medienkonsum verändern die gesamte Gesellschaft. Rainer Funk gibt Antworten in der Tradition des 1980 verstorbenen Psychoanalytikers, Philosophen und Sozialpsychologen Erich Fromm, dessen Nachlassverwalter er ist.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.06.2016
So geht's dir gut
Matthews, Andrew

So geht's dir gut


ausgezeichnet

You can't always get what you want … but if you try … you get what you need

Andrew Matthews klärt in diesem zeitlosen Werk (1. Auflage in Deutschland 1992) darüber auf, wie menschliche Verhaltensprogramme entstehen, wie man sie erkennt und wie man sie verändern kann. Er ermuntert die Leser, gewohnte Verhaltens- und Denkmuster kritisch zu hinterfragen und neue Wege einzuschlagen.

Das Buch ist lustig und lehrreich. Der Autor ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Cartoonist und Porträtist. Zahlreiche Illustrationen dienen der visuellen Unterstützung seiner Thesen, die er auf 6 Kapitel verteilt in leicht lesbarer Form präsentiert. Der Autor spricht die Leser direkt an und erzeugt damit eine intime Atmosphäre. Kleine Geschichten, die in die Texte integriert sind, untermauern seine Aussagen. Am Ende der Abschnitte befinden sich unter der Überschrift „Des Pudels Kern“ kurze Zusammenfassungen.

Der Autor fordert die Leser dazu auf, für ihr Leben selbst in die Verantwortung zu gehen. Die Hintergründe seiner Thesen werden nicht wissenschaftlich aufgearbeitet, sondern aufgrund von Erfahrungen plausibel begründet. Matthews geht die Themen pragmatisch an. Seine Erkenntnisse sind nicht neu. Es ist so, als ob Matthews einen Stapel psychologischer Ratgeber analysiert hätte und er die Quintessenz daraus seinen Lesern in komprimierter Form, aber witzig aufbereitet, präsentiert.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.06.2016
Obsession
Beckett, Simon

Obsession


gut

Ein Psychoroman über Besessenheit

Wer „Die Chemie des Todes“ oder „Kalte Asche“ von Simon Beckett kennt, kann von diesem Roman, der nicht wirklich ein Thriller ist, enttäuscht sein. Der Klappentext verrät viel, es ist eher eine Familiengeschichte mit verschiedenen Verstrickungen und es wird kein durchgängiger Spannungsbogen aufgebaut. Die Spannung befindet sich auf einem niedrigen Level und erreicht zum Ende hin ihren Höhepunkt. Zwischendurch wirkt der Roman langatmig.

Positiv fällt die psychologische Seite des Romans auf. Dazu gehört u.a., dass der Leser sich zwischendurch fragt, wer denn nun besessen ist, denn Zwangshandlungen gibt es auf beiden Seiten. In der Mitte des Romans ist diese Frage noch offen. Im letzten Drittel ahnt der Leser, in welche Richtung die Entwicklung geht. Positiv finde ich auch, dass das Thema Kindeswohl in diesem Buch ausführlich behandelt wird einschließlich der glücklosen Rolle des Jugendamtes beim Umgang mit Kindern.

Die Eigenarten des autistischen Kindes, welches sich ständig mit Geduldsspielen und Puzzlen beschäftigt, besitzt bezogen auf die Geschichte Symbolkraft. Aber das Thema wird zu oberflächlich behandelt. Der Kampf um das Kind besitzt, erkennbar an den Handlungen, eine psychologische Tiefe, die nicht hinreichend gewürdigt wird. Dennoch wird der Roman durch die Symbolik und die sozialkritische Seite aufgewertet. Die Bezeichnung „Thriller“ ist irreführend, jedoch ist der Titel „Obsession“ zutreffend.

Bewertung vom 27.06.2016
Das Spinnennetz
Roth, Joseph

Das Spinnennetz


ausgezeichnet

Wege zum Faschismus

In seinem Roman beschreibt Joseph Roth anhand der Figur des Theodor Lohse, eines desillusionierten Heimkehrers aus dem Ersten Weltkrieg, den Nährboden des Faschismus. Aus seiner Analyse der Nachkriegssituation entwickelt er eine bestechende Vision auf den Nationalsozialismus in Deutschland.

Theodor Lohse fällt der Wiedereinstieg ins zivile Leben schwer. Seine Familie hätte ihn lieber als toten Kriegshelden gesehen, statt als abgehalfterten Leutnant. Er ist unzufrieden, weil er die strenge Ordnung der Armee vermisst, in der Intelligenz und Vermögen keine Rolle spielen. Als nur mäßig Begabter, aber von Ehrgeiz Getriebener, sucht er Orientierung in einer zweifelhaften nationalistischen Geheimorganisation. In dieser Gruppe steigt sein Selbstwertgefühl und er entwickelt sich vom potenziellen zum realen Täter.

Als Folge seiner Taten leidet er unter Verfolgungswahn. Mit Schuldzuweisungen gegenüber Juden und Kommunisten will er diesen kompensieren. Er wird Mitglied der nationalsozialistischen Partei, die ihn umgarnt. In einer konspirativen Aktion gegen kommunistische Arbeiter siegen die Nationalsozialisten. Lohse gewinnt an gesellschaftlichem Ansehen. Seinem Aufstieg steht nichts mehr im Wege.

Nahm Joseph Roth die Wirklichkeit vorweg? Der Roman enthält eine profunde Charakterstudie der Täter und Mitläufer des Nationalsozialismus. Die Analyse ist bemerkenswert und sehr zu empfehlen. Der Name Hitler taucht auf und Autor Roth ahnt Anfang der 1920er Jahre, dass von ihm eine große Gefahr ausgeht. Roth war ein ausgezeichneter Beobachter. Seine düstere Vision wird aber vom realen Nationalsozialismus späterer Jahre weit übertroffen.

Bewertung vom 26.06.2016
Das Leben ist kurz
Gaarder, Jostein

Das Leben ist kurz


sehr gut

„Wir sind Menschen, Aurel. Zuerst müssen wir leben, und dann – ja dann können wir philosophieren!“ (44)

Das Buch handelt von einem Brief, den Floria Aemilia an den großen Kirchenlehrer Augustinus geschrieben hat. Mit ihr hatte Augustinus, bevor er Bischof wurde, über mehr als 10 Jahre eine uneheliche Verbindung, aus der ein gemeinsamer Sohn hervorgegangen ist. Augustinus hat Floria aufgrund seiner religiösen Überzeugungen verlassen. Der Sohn blieb bei ihm.

Die Schreiberin ist zweifelsohne eine sehr gebildete Frau. Ihr Brief ist ein intellektueller Hochgenuss. Sie klagt an, dass Augustinus die Welt der Sinnlichkeit verlassen hat zugunsten einer gegenstandslosen Ideologie. „Du erinnerst dich nur an Gedanken, aber kannst du nicht versuchen, dir auch eine wirklich sinnliche Erfahrung ins Gedächtnis zu rufen?“ (61)

Die Trennung wurde maßgeblich von Augustinus' Mutter Monika bewirkt, die ihren Sohn entsprechend beeinflusst hat. „Aber die Einzige, die zwischen uns stand, war Monika.“ (54) Ihrem mächtigen Einfluss konnte sich Augustinus nicht entziehen. Und nach ihrem Tod übernahm Gott ihre Funktion. „Aber es dauerte nicht lange, da hattest du Gott an die Stelle deiner Mutter [Monika] gesetzt.“ (51)

„Das ist die Welt, Aurel, und sie ist hier und jetzt“ (116), ist eine der prägnanten Aussagen aus dem Brief mit der Intention, sich für das Diesseits zu entscheiden. Der Glaube führt zu Widersprüchen. „Ihr verleugnet die Liebe zwischen Mann und Frau. … Aber ihr verleugnet sie im Namen Gottes.“ (119)

Jostein Gaarder greift mit diesem Buch ein aktuelles Thema auf. Florias Argumentation ist modern und spiegelt die Situation der Kirche und insbesondere die Rolle der Frau in der Kirche wieder. Sie nimmt Dinge vorweg, die nach Augustinus Realität waren. „Ich fürchte mich davor, was die Kirchenmänner eines Tages vielleicht mit Frauen wie mir machen werden.“ (118)

Es ist hinsichtlich der Lehren, die aus diesem Buch gezogen werden können nicht entscheidend, wie hoch der reale Anteil ist. Der moralische Konflikt, der beschrieben wird, ist real. Auch wenn manche Stellen bezogen auf den historischen Kontext zu modern wirken, stellt sich die Frage: Sind Religionen es wert, auf menschliche Liebe zu verzichten?

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.06.2016
Das dritte Zimmer
Wolff, Gabriele

Das dritte Zimmer


ausgezeichnet

Psychothriller aus der Welt der Bürokratie

Gabriele Wolff ist eine Krimiautorin mit Insiderkenntnissen. Sie beschreibt die hierarchischen Strukturen, Intrigen und Beziehungen innerhalb eines Ministeriums und die Verflechtungen mit der Wirtschaft auf glaubhafte Art und Weise. Um psychische Veränderungen, wie sie im Sog der Macht entstehen können, realistisch darzustellen, sind Erfahrungen und Einfühlungsvermögen erforderlich.

Die Autorin schreibt verständlich und die Handlungsstränge sind voll innerer Logik. Sie kennt die Psychologie der Täter und Opfer. Die Vielschichtigkeit des Romans und die markanten Personenbeschreibungen tragen ihren Teil dazu bei, dass der Roman vom Anfang bis zum Ende spannend ist. Besonders gefallen hat mir die forsche und fröhliche Kriminalbeamtin Friederike Weber - ein Modell für weitere Krimis.