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Raumzeitreisender
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 759 Bewertungen
Bewertung vom 08.07.2016
Maron, Monika

Herr Aurich


sehr gut

Wer sich oben glaubt ...

In dieser Novelle wird die Borniertheit eines (Macht-)Menschen beleuchtet, der in einem krankenden System lebt und von diesem bis in Spitzenfunktionen hinauf befördert wurde. Den Beschreibungen und der Herkunft der Autorin nach zu urteilen, handelt es sich um eine Satire auf die Verhältnisse in der ehemaligen DDR. Das Psychogramm des Protagonisten ist, ebenso wie die Verhältnisse im System, übertragbar. Worum geht es?

Herr Aurich, ein hoher Funktionär der Regierung, bekommt eines Nachts einen Herzinfarkt und wird, seiner Position entsprechend, nach Berlin zum Krankenhaus für verdiente Personen transportiert. Er arbeitet diszipliniert an seiner Genesung und hofft auf eine Spezialbehandlung, die nach seiner Meinung bei Spitzenfunktionären üblich ist, um ihre Einsatzfähigkeit für Staat und Gesellschaft möglichst lange erhalten zu können. Der Chefarzt des Krankenhauses empfiehlt Herrn Aurich, beruflich kürzer zu treten und eine weniger verantwortliche Tätigkeit zu übernehmen. Diese Nachricht führt zu Aurichs erneutem Zusammenbruch und zu seinem vorzeitigen Ruhestand. Er muss sein Weltbild überdenken und sein Leben neu ordnen.

Die Atmosphäre ist beklemmend, das Umfeld lieblos, die Akteure wirken stumpf. Der Protagonist ist genauso krank wie das System. Die Autorin verwendet die Reduzierung als Stilmittel. Der Leser muss die Lücken mit seiner Fantasie oder Erfahrung füllen. Eine Bruchstelle in Aurichs Weltbild ist erkennbar. Er wird einer wichtigen Illusion beraubt: Es gibt (für ihn) keine medizinische Spezialbehandlung. Aber Herr Aurich lernt daraus nicht, sondern interpretiert die Welt einfach um. Oben ist da, wo Herr Aurich sich befindet.

„Herr Aurich“ ist ein zeitloses Werk, da der beschriebene Charakter nicht an ein konkretes Regime gebunden ist. Er ist Bestandteil vieler (totalitärer) Hierarchien und möge als Mahnung dienen für menschliche Verirrungen beim Streben nach Macht.

Bewertung vom 08.07.2016
Arsuaga, Juan L.

Der Schmuck des Neandertalers


ausgezeichnet

Eine Reise ins prähistorische Europa

Die Neandertaler, Vertreter einer menschlichen Art, haben sich in Europa über Hunderttausende von Jahren unabhängig und getrennt von unserem Geschlecht entwickelt. Juan Luis Arsuaga, Professor der Paläontologe an der Universität Complutense in Madrid, beschreibt ihre Lebensumstände auf eine faszinierende Weise. Aufgrund der Gegensätze zu unserer eigenen Art sind sie ein erstaunlicher Spiegel, in dem wir unsere eigene Situation betrachten und besser kennen lernen können.

Die Wurzeln der Menschheit liegen in Afrika. Vor 5 oder 6 Millionen Jahren trennten sich die Linien, die den Schimpansen einerseits und unserer Art andererseits ihre Plätze zuwiesen. Der Homo antecessor repräsentiert den letzten gemeinsamen Vorfahren des Neandertalers und des Homo sapiens. Vor ca. einer Million Jahren hat ein Teil dieser Population Afrika verlassen und ist in Europa eingewandert. Dort brachte die Evolution den Neandertaler hervor.

Vor über 50000 Jahren brachen unsere Vorfahren – aus Afrika kommend - nach Europa auf, wo sie im Laufe einiger Tausend Jahre die Vorherrschaft übernahmen. Im Zuge dieser Entwicklung ist der Neandertaler ausgestorben, aus Gründen, über die spekuliert wird, da es noch keine wissenschaftlichen Antworten gibt.

Der Neandertaler hat primitive Werkzeuge verwendet und ihm wird Bewusstsein zugesprochen. Er war im Vergleich zum Homo sapiens ein robuster vom Überlebenskampf gezeichneter Geselle. Ob er so wie dieser, bewusst symbolische Handlungen vorgenommen hat, um Individualität auszudrücken, bleibt vorerst rätselhaft. So ist der „Schmuck des Neandertalers“ einerseits eine reale Einzelerscheinung und andererseits eine Anerkennung für eine einmalige ursprüngliche menschliche Art, der man lange Zeit das Menschsein absprach.

Nicht alle Thesen der Theorie von Arsuaga gelten schon als allgemein anerkannt. Weitere Ausgrabungen sollen Klarheit bringen.

Das Buch ist in einer Sprache geschrieben, die nicht nur verständlich ist, sondern vor allem neugierig macht. Arsuagas Respekt vor der Natur und Liebe zum Beruf werden mehr als deutlich. Er listet nicht einfach Fakten auf, sondern erzählt eine ganzheitliche Entwicklungsgeschichte, in der das soziale und kulturelle Umfeld, die Flora und Fauna sowie die Anfänge der Sprache und des Bewusstseins beleuchtet werden. Wer sich für die Frühgeschichte der Menschheit interessiert, sollte dieses erstklassige Buch lesen.

Bewertung vom 07.07.2016
Dobbs, Michael

House of Cards Bd.1


sehr gut

Politik im Bann von Macht, Gier und Korruption

Michael Dobbs war Berater von Margaret Thatcher, damit hat er eine Politikerin kennen gelernt, die es verstand Forderungen gegen große Widerstände durchzusetzen. Seine Erfahrungen aus seiner Beratertätigkeit, gepaart mit ein wenig Fantasie, führten zu dem vorliegenden Thriller.

Das Buch handelt von Fraktionsführer Francis Urquhart und seinen Intrigen auf dem Weg zur Macht. Autor Dobbs zeichnet einen spannenden Entwicklungsprozess mit Charakteren, wie es sie im realen politischen Alltag gibt. Deutlich wird, wie schnell politische Karrieren ein jähes Ende finden können.

Wer in der Öffentlichkeit steht, ist erpressbar. Der Weg nach oben ist gepaart mit Intrigen, Sex, Verrat und Zweckbündnissen. Nicht jeder Anwärter auf höchste politische Ämter ist diesem zynischen Spiel gewachsen. Die Presse und ihre Hintermänner tragen ihren Teil dazu bei, das Geschehen zu lenken.

Auch wenn die Geschichte im letzten Drittel arg konstruiert wirkt, handelt es sich um einen lesenswerten politischen Thriller, der zahlreiche Elemente enthält, die dem realen politischen Alltag entlehnt wurden. Das Buch ist auch 26 Jahre nach seiner ersten Veröffentlichung sehr zu empfehlen.

Bewertung vom 07.07.2016

Guinness World Records 2016


sehr gut

Rekorde und ihre Geschichten

Wie viele Telefonbücher hat Rekordhalterin Tina Shelton in drei Minuten zerrissen? Wer besitzt die am weitesten vorstehenden Augäpfel? Wie lang ist das längste jemals gebaute Fahrrad? Wer ist der bestverdienende Musiker aller Zeiten? Das sind Beispiele für Weltrekorde, die in dem Buch vorgestellt werden. Leser sollten ein Faible für das Extreme besitzen.

Das Buch ist thematisch strukturiert und enthält zahlreiche Bilder. Zu den Themen zählen die Erde, Tiere, Menschen sowie menschliche Rekorde. Letztere umfassen sportliche Leistungen einschließlich sportlicher Abenteuer, Rekorde aus Wissenschaft und Technik, Kunst und Medien sowie imposante Bauwerke und machen den größten Teil des Buches aus.

Die Seiten sind collagenartig aufgebaut, das heißt sie bestehen aus Fotos, farblich abgetrennten textlichen Beschreibungen und statistischen Angaben. Die Aufmachung ist ansprechend, die Beschreibungen sind pointiert und informativ. Die Erläuterungen sind verständlich. Auf den letzten Seiten sind die Mitwirkenden aufgeführt.

Es handelt sich um ein Buch, welches man nicht von der ersten bis zur letzten Seite lesen muss, sondern in dem man blättern und je nach Neugier an beliebiger Stelle anfangen zu lesen kann. Der Einstieg ist auch abhängig von der Interessenlage gezielt über einen Suchbegriff möglich. Potenziellen Lesern empfehle ich, vorab einen Blick ins Buch zu werfen, bevor man sich dafür entscheidet.

Bewertung vom 07.07.2016
Singer, Wolf

Ein neues Menschenbild?


sehr gut

Hirnforschung und das Selbstverständnis des Menschen

„Wir sind gespalten zwischen dem, was wir aus der Erste-Person-Perspektive über uns wahrnehmen, und dem, was uns wissenschaftliche Analyse aus der Dritte-Person-Perspektive über uns lehrt“. Diese Aussage von Wolf Singer, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main, bringt das Dilemma auf den Punkt. Die Ergebnisse der Hirnforschung harmonieren nicht mit dem Selbstverständnis des Menschen. Brauchen wir ein neues Menschenbild?

Das Buch enthält exemplarische Streitgespräche und Interviews aus den letzten Jahren zur kulturellen Bedeutung der Ergebnisse der Hirnforschung. „Freier Wille“, „Bewusstsein“, „Wahrnehmung“ und „Dualismus“, sind nur einige der Begriffe, die durch die Naturwissenschaften neu interpretiert wurden und daher gesellschaftlich reflektiert werden müssen.

Die Gesprächsform wirkt sich positiv auf das Verständnis der Problematik aus, hat aber auch zur Folge, dass sich Inhalte wiederholen. Die Frageform im Titel ist bezeichnend für den derzeitigen Stand der Diskussion. Die Inhalte sind zwar nicht neu, aber hoch brisant. Das durchweg lesenswerte Buch provoziert zur Gegenthese: Gibt es (naturwissenschaftliche) Erkenntnisse über uns selbst, die wir in unser Selbstmodell nicht integrieren können?

Bewertung vom 06.07.2016
Fischer, Thomas

Im Recht


ausgezeichnet

Reflexionen über Strafrecht und Gesellschaft

Thomas Fischer stellt in seinem Buch Facetten des Strafrechts vor und erläutert, wie der Rechtsstaat im Inneren funktioniert. Dabei steht die „Vermittlung von Sachkenntnis“ (8) im Fokus und nicht die Aufarbeitung von Justizskandalen. Es handelt sich um ein aufklärendes aber auch kritisches Buch.

Im Vorwort setzt er sich ausführlich mit der Frage auseinander, ob er als Bundesrichter ein Buch über die „praktische Verwirklichung des Rechts“ (9) schreiben darf. Genau diese Perspektive macht das Buch interessant.

Fischer relativiert die Gefahren des islamisch geprägten Terrorismus. Damit setzt er einen Kontrapunkt gegenüber der in Deutschland gefühlten Gefahr durch islamistische Terroristen. Zudem sieht er den Auslöser für Konflikte nicht in den unterschiedlichen Religionen, sondern primär in der Verteilungsungerechtigkeit. (41)

Beim Thema Flüchtlingspolitik fordert der Autor die Leser heraus. Der Beitrag ist provozierend und extrem zynisch. Fischer geht mit der Realpolitik hart ins Gericht, mit seiner Zynik spiegelt er diese. Im Mittelmeer ertrinken jedes Jahr tausende von Flüchtlingen und die berechtigte Frage lautet, wer trägt die Verantwortung?

Fischer begründet, auch anhand der historischen Entwicklung, warum Blasphemie im Zeitalter der Aufklärung kein Straftatbestand sein kann. „Im irdischen Strafrecht geht es nicht um Gott, sondern um die Menschen.“ (104)

Auch hinsichtlich der Bewertung von Verletzungen der Ehre gilt heute ein anderer Maßstab. „Lange Zeit galt die Ehre als das neben dem Leben wichtigste Gut, ihre Verletzung infamer als Raub, Betrug, Diebstahl oder Körperverletzung.“ (117) Heute wird der Anzeigeerstatter von genervten Polizeibeamten nach Hause geschickt.

Fischer geht mit seiner eigenen Zunft, im Hinblick auf die NS-Zeit, hart ins Gericht. „Die deutsche Justiz, bis zum Bundesgerichtshof durchseucht von Nazis, hielt das Strafrecht aus der Aufarbeitung heraus, indem sie die überwältigende Anzahl der eigenhändigen Mörder kurzerhand zu Gehilfen der Haupttäter erklärte.“ (136)

Der Autor beschreibt im Zusammenhang mit Diebstahl und Raub einen gesetzlichen Wirrwarr, der zu unauflösbaren Widersprüchen führt und damit eine Entscheidungsfindung erschwert. Aufschlussreich ist, wie die Justiz mit derartigen Fallkonstellationen umgeht. Sie kommen einfach nicht mehr vor. (182)

Wie entsteht der Wirrwarr in den Gesetzen? Fischer erläutert theoretische Grundlagen der Gesetzgebung und der Anwendung von Gesetzen („Keine Strafe ohne Gesetz“ (195)) und erklärt das schwierige Verhältnis von Ministerialbeamten und Politikern.

Am Beispiel des Sexualstrafrechts erläutert Fischer, wie die Anhörung von Sachverständigen praktisch funktioniert. „Eine Sachverständigen-Anhörung in einem Ausschuss des Deutschen Bundestags hat mit kritischem Sachverstand bloß am Rande und mit objektiver Wissenschaft fast nichts zu tun.“ (204)

Wie wird man Jurist? Fischer plaudert aus dem Nähkästchen über das Studium, über „Erste Prüfung“ und „Zweite Staatsprüfung“ und warum Gespräche zwischen Juristen und anderen Berufsgruppen so schwierig sind. Dabei gilt, anders als in Philosophie und Physik, „Jura ist nicht ein Fach der Welt-Erkenntnis, sondern eines der Lebenswelt-Beherrschung.“ (243)

Thomas Fischer klärt nicht nur über juristische Fragestellungen auf, sondern er klärt weise auf. Der Leser muss nicht seine Meinung vertreten, es bedarf aber intensiver Auseinandersetzung mit den behandelten Themen, seinen Stellungnahmen etwas entgegen zu setzen. Es ist kein staubtrockenes dogmatisches Lehrbuch, sondern ein Buch, welches zu differenziertem Denken anregt. Im Fokus steht nicht das Strafrecht im engeren Sinne, sondern eher die Eingliederung des Rechts in Gesellschaft und Politik.

Bewertung vom 06.07.2016
Geier, Manfred

Kants Welt


sehr gut

Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?

Immanuel Kant gilt als einer der am meisten diskutierten Philosophen der Menschheitsgeschichte. Wer als Philosoph ernst genommen werden will, muss seine eigenen Thesen in Beziehung setzen zum systematisch aufgebauten Gedankengebäude von Kant. Das Gesamtwerk von Kant umfasst ca. fünftausend Seiten und ist eine Herausforderung für seine Nachfolger. Nietzsche nannte Kant den „großen Chinesen aus Königsberg“.

Manfred Geier setzt sich in „Kants Welt“ primär mit dessen Lebensgeschichte auseinander. Der Fokus liegt nicht auf dem Inhalt seiner Theorien. Das Buch ist chronologisch aufgebaut. Im Anhang befinden sich ein tabellarischer Lebenslauf, Fußnoten zum Inhalt, Literaturangaben, ein Bildnachweis sowie ein Index über Personen, die mit Kant in Verbindung gebracht werden.

Autor Geier beschreibt Kant als wahren Aufklärer, der sich in jungen Jahren trotz magerer Kenntnisse in Mathematik und Naturwissenschaft nicht scheute, sich mit geistigen Größen wie Newton und Leibniz anzulegen, in späteren Jahren ein neues philosophisches Gedankengebäude errichtete und im fortgeschrittenen Alter mit dem von Friedrich Wilhelm II protegierten Johann Christoph Wöllner, Verwalter der Zensurbehörde, aneinandergeriet.

In der Biographie wird deutlich, dass Kant, der seine Eltern früh verloren hat, in ärmlichen Verhältnissen lebte, ein politisch orientierter Mensch und insbesondere ein kritischer Denker und Aufklärer war. Seine großen Werke entstanden im fortgeschrittenen Alter. Zum Inhalt seiner Werke hätte ich gern mehr gelesen und auf dreihundert Seiten wäre das auch möglich gewesen. Dennoch zeichnet Manfred Geier in seinem durchweg verständlichen Buch ein Bild von Kant, welches der Leser nach der Lektüre plastisch vor Augen hat.