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hasirasi2
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Dresden

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Insgesamt 1267 Bewertungen
Bewertung vom 14.12.2020
Rehn, Heidi

Das doppelte Gesicht / Ein Fall für Emil Graf Bd.1


ausgezeichnet

Der Mittwochsmörder

München, August 1945. Die Stadt versinkt in den Kriegstrümmern und im Dauerregen, überall ist graubrauner Schlamm. Die Menschen sind verzweifelt, entwurzelt, hungrig und hoffnungslos. Immer wieder geschehen Verbrechen aus Hunger oder Habgier, aber warum der Kriegsheimkehrer Viktor von Dietlitz an diesem Mittwoch in seiner Wohnung erschossen wurde, erschließt sich den Ermittlern nicht. Das Opfer hat den Täter anscheinend gekannt, selber eingelassen und sich nicht gewehrt. Danach ist der Täter verschwunden ohne etwas zu stehlen – obwohl das Opfer wohlhabend war. Es ist der erste Fall, den der junge Ermittler Emil Graf allein lösen soll. Am Tatort lernt er Billa (Sybilla Löwenfeld) kennen, eine amerikanische Fotoreporterin. Diese war mit Viktor von Dietlitz zu einem Interview verabredet und hat den Toten gefunden. Als zwei weitere Morde nach dem gleichen Muster passieren, deuten einige Hinweise auf Billa, doch Emil glaubt an ihre Unschuld, denn „Traue nie dem Offensichtlichen.“ (S. 120)

Ich habe schon einige historische Romane von Heidi Rehn gelesen, aber mit „Das doppelte Gesicht“ hat sich mich echt geflasht. Es ist der Auftakt einer neuen Reihe um den Ermittler Emil Graf und spielt im München der Nachkriegszeit. Sie hat hier sehr spannende und dramatische Themen wie die „Ehrenjuden“, die Euthanasie im Nationalsozialismus und Displaces Persons eingearbeitet. Das Buch ist wieder hervorragend recherchiert.

Emil ist sehr jung, sehr unerfahren, aber auch sehr engagiert. Er will alles richtig machen und verbeißt sich schnell in den Fall. Sein Ausbilder und Vorgesetzter, der amerikanische Capitain Joe Simon hat ihn in einem französischen Kriegsgefangenenlager aufgegabelt und sich seiner angenommen – jetzt ist er eine Art Ersatzvater.
Billa ist gebürtigen Münchnerin, Jüdin und 1938 nach New York emigriert. Jetzt, nach Kriegsende, wollte sie sehen, ob sie „ihr“ München wiedererkennt „… die törichte Jüdin, die meint, sie könnte noch einmal in ihre frühere Heimat zurück. Dabei gibt es die schon lange nicht mehr.“ (S. 54) Außerdem sucht sie jemanden …
Auf den ersten Blick ist Billa sehr taff, aber die Angst vor den Nazis blitzt immer wieder durch. Dann ist sie plötzlich aufbrausend und verprellt ihr Gegenüber – wie z.B. Emil.
Besonders angerührt hat mich das Schicksal des ehemaligen Zwangsarbeiters Piotrs. Er gilt jetzt als Displaced Person und will nicht nach Russland zurück, weil er einer Minderheit angehört und dort getötet oder nach Sibirien verbannt werden würde. „Seinesgleichen gehörten nirgendwo mehr hin, selbst in Friedenszeiten nicht.“ (S. 80) Billa will ihm helfen, aber ihr war nicht ganz klar, auf was sie sich da einlässt.

Der Fall hat es wirklich in sich. Je mehr die Ermittler über die Toten herausfinden, desto mehr Motive und Verdächtige ergeben sich. „Wir taugen alle zum Mörder.“ (S. 154) Das Ende ist dann ein Paukenschlag und das Tatmotiv erschütternd.

Heidi Rehn schreibt sehr spannend und gleichzeitig dynamisch. Sie erzählt die Geschichte abwechselnd aus Emils und Billas Sicht. Ich fand die Perspektivwechsel sehr interessant – so hält man die Leser bei der Stange.
Mich hat beeindruckt, wie bildlich sie das zerstörte München (und die Umgebung) schildert. Die Protagonisten sind oft mit dem Jeep unterwegs und ich konnte das Rütteln auf den holprigen Straßen förmlich spüren, habe die Ruinen und Schuttberge vor mir gesehen.
Aber nicht nur die Stadt, auch ihre Protagonisten sind zerrissen, müssen sich an die neue Situation und ihre neue Stellung erst gewöhnen. Sie sind sehr menschlich und glaubhaft. „Nach allem, was passiert ist, ist ja keiner von uns mehr der, der er vorher gewesen ist.“ (S. 45)

Das Buch ist so spannend, dass ich es an nur zwei Abenden gelesen habe und jetzt warte sehnsüchtig auf den nächsten Band!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.12.2020
Neiss, Eva

Lotte Lenya und das Lied des Lebens


gut

Porträt einer Getriebenen

Lotte Lenya ist 26, als sie Kurt Weill kennenlernt. Da hat sie bereits ein bewegtes Leben hinter sich, hat es von der Wiener Vorstadt und einem prügelnden Stiefvater weg bis nach Berlin geschafft. Nur ihr erhoffter Durchbruch als Tänzerin, Sängerin oder Schauspielerin steht noch aus. Sie hält sich mit gelegentlichen Auftritten und als Geliebte reicher Männer über Wasser – nirgendwo kann man schneller und leichter Geld verdienen. Auch Kurt Weill ist sofort von ihr fasziniert, von allem von ihrer Stimme und Wandelbarkeit. „Die Welt ist reif für eine Stimme wie Ihre. Sie klingt so echt, als sei sie für meine Ideen geschaffen.“ (S. 64) Obwohl er (noch) nicht in die Kategorie ihrer reichen Gönner passt und sie extrem verschieden sind, werden die ein Paar, heiraten später sogar. Doch ihre Beziehung gleicht einer Achterbahn. Kurt geht ganz in der Musik auf, lebt nur für sie und zieht sich dann komplett zurück. Lotte hingegen ist ein extrem unruhiger Geist, erfindet sich immer wieder neu, spielt Rollen und braucht Dramen. Sie verdrängt schlechte Erinnerungen, entflieht ihrer Vergangenheit, kann nicht alleine sein, braucht Ablenkung – Affären, Spielsucht, Alkohol. Kurt weiß und toleriert das, liebt sie trotzdem. „Ich glaube, ich bin nur für dich auf der Welt, Seelchen.“ (S. 71)
Nach der Bekanntschaft mit Brecht und ihrem Durchbruch als Seeräuber Jenny werden die Unterschiede noch deutlicher, die Ehe kriselt. Lotte genießt ihr Leben als Star, die Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit, doch Kurt will aussteigen und aufs Land ziehen. Dorthin, wo es noch sicher und ruhig ist. Er ist Jude und die Nazis werden immer aggressiver und einflussreicher. „Seit Kurt mit gesenktem Blick durch die Welt zieht und Lotte stolz nach vorne schaut, sehen sie einander kaum noch.“ (S. 182)

Eva Neiss zeichnet in „Lotte Lenya und das Lied des Lebens“ das Portrait einer schillernden Persönlichkeit, kratzt aber leider nur an der Oberfläche, wenn es um Lottes künstlerisches Schaffen geht. Dafür wird um so ausführlicher von ihren zahllosen Affären mit Männern und Frauen und den Streitigkeiten zwischen Brecht und Weill berichtet, die Lotte immer wieder schlichten musste. Brecht kommt in dem Buch nicht besonders gut weg, hatte noch mehr Affären als Lotte und war ein unglaublicher Egomane, der niemanden neben sich duldet – schon gar keinen kleinen Komponisten wie Weill (der damals bereits berühmter ist als Brecht!).

Die Liebesgeschichte zwischen Lotte und Kurt war sehr berührend. Er verehrt sie als Frau und Künstlerin, kann als einziger hinter ihre Fassade schauen und lässt ihr darum ihre Freiheit. Doch ihr fällt es schwer, sich nur auf einen Mann zu konzentrieren, hinter seiner Arbeit zurückzustehen und das Heimchen am Herd zu geben.

Auch die Künstlerszene der 20er und 30 er Jahre wird sehr anschaulich beschrieben. Man kennt sich, verbringt fast seine gesamte Zeit zusammen und ist ein eingeschworener Kreis. Selbst während und nach der Emigration treffen sie alle wieder aufeinander.

Lottes Geschichte ist zwar interessant, aber mir fehlt Spannung und Tempo. Oft las sich die Handlung wie eine Aneinanderreihung von Episoden aus ihrem und Kurts bzw. Brechts Leben. Man kommt der Frau nahe, aber leider nicht der Künstlerin.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.12.2020
Rudberg, Denise

Der Stockholm-Code - Die erste Begegnung / Stockholmer Geheimnisse Bd.1


ausgezeichnet

Sehr kurzweilig und unterhaltsam, aber eher Roman als Spionagekrimi

Stockholm 1940: Elisabeth, Signe und Iris arbeiten als Hilfskräfte für die schwedischen Streitkräfte, als ihre jeweils überdurchschnittliche mathematische Begabung erkannt wird. Bei einem Test treffen sie aufeinander und werden für ein geheimes Projekt ausgewählt – sie sollen die deutschen Funksprüche dechiffrieren.

Die drei Frauen sind sehr unterschiedliche Charaktere und haben auch verschiedene Begabungen, aber gerade darum ergänzen sich perfekt.
Elisabeth stammt aus einer guten Familie und hätte es nicht nötig, zu arbeiten. Aber mit 21 ist sie endlich volljährig, will unabhängig sein, leben und genießen. Das zeigt sich auch in ihrem Charakter, sie ist sehr selbstständig und selbstbewusst – und nicht auf den Mund gefallen. Sie flirtet gern, sucht aber nicht den Mann fürs Leben. „Jemanden lieben möchte ich schon, aber ich glaube nicht, dass ich jemandes Frau werden will.“ (S. 26)
Signe ist schon 27 und hat nur eine rudimentäre Schulbildung. Sie musste den elterlichen Hof verlassen, weil sie ihren verwitweten Schwager nicht heiraten wollte. Dabei hat sie die letzten Jahre dessen gemeinsamen Sohn mit ihrer verstorbenen Schwester aufgezogen und liebt ihn wie ein eigenes Kind. Sie ist sehr schüchtern und versteht nicht, was die anderen in ihr sehen, fühlt sich zum Teil sogar minderwertig.
Iris ist wegen des Krieges mit ihren kleinen Söhnen und gefälschten Papieren aus Lettland nach Schweden geflüchtet. Eigentlich sollte ihr Mann mit- oder wenigstens nachkommen, aber sie hat nach ihrem überstürzten Aufbruch nie wieder von ihm gehört. Sie steht mit beiden Beinen im Leben, versagt sich ihre Trauer und Angst oft, will für ihre Söhne stark sein. Die vermissen ihren Vater sehr, aber Signe kümmert sich rührend um sie. „Vielleicht war Signes eigentliche Lebensaufgabe, sich um verlassene kleine Jungs zu kümmern.“ (S. 313)

In „Der Stockholm-Code - Die erste Begegnung“ ist drin, was draufsteht. Das Buch ist der erste von zwei Bänden, sehr kurzweilig und unterhaltsam, aber (noch?) kein richtiger Spionagekrimi. Man lernt die drei Hauptpersonen kennen, erfährt mehr über ihr Leben, ihrer Herkunft und Familien. Ihre eigentliche Arbeit, die Entschlüsselung der Botschaften beginnt gerade erst, es gibt aber schon kleinere, eher zufällige Erfolge. Ich hoffe, dass man im zweiten Band mehr davon lesen wird.
Einen Punkt Abzug gibt es für die zum Teil recht einfache Sprache und weil ein bisschen viele Zufälle eingebaut waren, damit alles funktioniert. Auch die Geheimnisse der drei Frauen, die im Klappentext erwähnt werden, sind für mich nicht wirklich welche. Aber vielleicht kommt da ja auch noch mehr?! Ich bin gespannt.

Bewertung vom 04.12.2020
Jacobs, Anne

Rückkehr in die Tuchvilla / Tuchvilla Bd.4


ausgezeichnet

Vor 4 Jahren ist mit „Das Erbe der Tuchvilla“ der letzte Band der Saga um die Tuchfabrikantenfamilie Melzer von Anne Jacobs erschienen. Doch schon damals hatte ich das Gefühl, dass sich die Autorin ein Türchen für eine evtl. Fortsetzung lassen will ...

Wie schon in den ersten 3 Bänden, geht es auch hier wieder um die einzelnen Familienangehörigen und Angestellten und deren jeweiligen Probleme. Die Weltwirtschaftskrise macht sich langsam bemerkbar und auch Familie Melzer muss sehen, wie sie die Zeit übersteht.
Paul leitet die Firma, musste für die Anschaffung neuer Maschinen und die Erweiterung der Villa Kredite aufnehmen. Diese sind jetzt fällig, aber es kommt kaum noch Geld rein. Er möchte ein gutes Familienoberhaupt sein und reibt sich auf, um die (Geld-) Probleme so lange wie möglich zu verheimlichen. Seine Frau Marie führt ihr Modeatelier, aber die Kundinnen können sich Maßkonfektion nicht mehr leisten oder bezahlen einfach nicht. Die Zwillinge Leo und Dodo sind in der Pubertät und haben ihre eigenen Vorstellungen von der Zukunft. Leo soll eigentlich seinem Vater in der Fabrik nachfolgen, ist aber ein begabter Pianist und Komponist ohne Sinn für Zahlen. Auch seine Schwester Dodo macht es ihren Eltern nicht leicht – an ihr ist ein echter Junge verloren gegangen. Sie hat ein unglaubliches technisches Verständnis und träumt davon, Pilotin zu werden. Sie war für mich der heimliche Star des Buches und meine Lieblingsprotagonistin.
Sebastian stammt aus einfachen Verhältnissen, ist in der KPD aktiv, hält Vorträge und versucht, in der Firma einen Betriebsrat zu etablieren. Er steht immer auf der Seite der Arbeiter und sorgt so mehrfach für hitzige Diskussionen und gefährliche Situationen. Seine Frau Elisabeth unterstützt ihn bei seinen Plänen – auch wenn sie sich damit gegen die Familie stellt.
Tilly von Klippstein, die Frau von Pauls ehemaligem Partner Ernst hat ebenfalls ein schweres Los. Sie und Ernst führen eine reine Vernunftehe. Er kann keine Kinder zeugen, dafür lässt er sie als Ärztin arbeiten. Doch ihre männlichen Kollegen akzeptieren sie nicht und Ernst entfernt sich politisch immer mehr von ihr. Er ist ein glühender Anhänger von Hitler und der NSDAP. So kommt es, dass auch Tilly wieder bei den Melzers unterkriecht und ihr Leben überdenkt.
Unter den Angestellten ist es vor allem das Küchenmädchen Liesl, die Tochter der Gärtnerin, die ihr Glück und ihre Wurzeln plötzlich außerhalb der Villa sucht.

Geschickt verknüpft Anne Jacobs auch im 4. Band das damalige aktuelle Welt- und politische Geschehen mit den unterschiedlichen Schicksalen der Familienmitglieder und ihrer Angestellten. Sie zeigt, wie sich die Weltwirtschaftskrise und das Erstarken der NSDAP auf die einzelnen Gesellschaftsschichten auswirken.
Besonders irritierend aus heutiger Sicht fand ich, dass verheiratet Frauen damals (wieder) die Zustimmung ihres Mannes brauchten, wenn sie einen Beruf ausüben wollten – im 1. Weltkrieg hatte schließlich auch niemand danach gefragt, ohne die Frauen wäre die Wirtschaft zusammengebrochen und das Wahlrecht hatten sie schließlich auch schon seit 1917.

Sehr amüsant fand ich auch das Wiederlesen mit der überkandidelten Kitty, die nie ein Blatt vor den Mund nimmt oder ihre Meinung zurückhält. Dabei schießt sie zwar auch manchmal über das Ziel hinaus, aber sie erreicht das Gewünschte damit oft. Sie und Tilly sind zwei starke, moderne Frauen und damit Dodos Vorbilder.
Auch Serafina, die ehemalige (immer noch intrigante) Gouvernante, taucht wieder auf und versucht, Unfrieden zu Stiften.

Spannungsgeladen, fesselnd und unterhaltsam (ich habe die reichlich 600 Seiten in nur 4 Tagen verschlungen) – hier vergebe ich sehr gern 5 Sterne und hoffe auf eine weitere Fortsetzung – schließlich steht mit Dodo und Leo schon die nächste Generation in den Startlöchern …

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.12.2020
Kürthy, Ildikó von

Es wird Zeit - Das Tagebuch zum Klagen, Lachen, Klügerwerden


ausgezeichnet

Nimm Dir die Zeit!

Vor einem reichlichen Jahr ist „Es wird Zeit“ von Ildikó von Kürthy erschienen, ein Buch voller Abschiede – von Menschen, unrealistischen Erwartungen und Träumen. Aber auch ein Buch, das Mut macht, sein Leben zu überdenken, im Moment glücklich zu sein und sich vielleicht doch noch mal zu verändern. Damit hat sie sehr viele Leser(innen) erreicht und auch sie selbst hat das Buch nie ganz losgelassen. Ihr Motto „Hier brennt noch Licht“ soll uns zeigen, dass wir alle in einem Boot sitzen und nicht allein sind mit unseren Ängsten und Sorgen, wenn wir uns nur mitteilen – egal ob einer Freundin oder eben dem jetzt erscheinenden Tagebuch.
Dieses ist kein normales Tagebuch, dessen Aufmachung sich nur am Buch orientiert, sondern ein interaktives mit QR-Codes z.B. für eine Meditationsübung, zu ihrer Website, zur Playlist mit wichtigen Liedern („Es gibt Lieder, die sind wie Lesezeichen in einem Buch. Sie markieren die wichtigsten Stellen, die unvergesslichsten Momente, prägende Phasen, Hoch- und Tiefpunkte.“ (S. 114)) und natürlich zu ihrem 14 tägigen Podcast „Frauenstimmen“, den ich sehr empfehlen kann. Besonders ist auch, dass es neben den üblichen leeren Seiten für die Tageseinträge eine Sonntagsseite mit der Einladung zum Gedankenausflug zu einem bestimmten Thema gibt. Dazwischen sind kurze Kapitel eingestreut, in denen sie z.B. Einblicke in ihre alten Tagebücher gewährt und dadurch auch sehr viel von sich preisgibt, von ihrer Vergangenheit, ihren Gefühlen. Sie erzählt von ihrer Ausbildung zur Journalistin und der dabei gewonnenen Erkenntnis, über was sie eigentlich schreiben will – normale Frauen mit Ängsten, Sehnsüchten und Hoffnungen wie sie selbst. Ildikó weist liebevoll darauf hin, dass wir nicht nach unseren Fehlern suchen sollen, sondern nach unseren Stärken. Und dass es nicht um äußere Schönheit geht, sondern um innere. „Ich fürchte mich nicht davor, übersehen zu werden. Was mich sehr stören würde, wäre, überhört zu werden.“ (S. 144) Sie will Mut machen, die Gedanken schweifen zu lassen und schriftlich festzuhalten. „Es geht darum, das Schreiben zu nutzen, um unbetretene Wege zu entdecken, sich wie mit einer Machete mit Worten durch das Unterholz des eigenen Unterbewusstseins zu kämpfen.“ (S. 10) Zwischendurch finden sich immer wieder Zitate aus ihren Büchern und Kolumnen, wundervoll illustriert von Peter Pichler.
Am Ende stellt sie 40 sehr tiefgehende Fragen, die den Antwortenden dazu bringen sollen, sich besser kennen zu lernen – jetzt im besten Alter, es wird Zeit dafür. „Man kann sich selbst nicht hinter sich lassen.“ (S. 172)

Bald beginnt das neue Jahr und wann, wenn nicht dann wäre es die Zeit für einen Neubeginn? Ein neues Tagebuch? Nehmt Euch die Zeit …

Bewertung vom 28.11.2020
Rückert, Sabine

ZEIT Verbrechen


ausgezeichnet

Täter – Opfer – Polizei

Das Hörbuch „ZEIT Verbrechen“ beschäftigt sich mit meist älteren Kriminalfällen, über die bereits in der gleichnamigen Zeitschrift und dem Podcast berichtet wurde und welche die Herausgeberin Sabine Rückert jetzt zusammen mit dem Redakteur Andreas Senker nochmal tiefergehend beleuchtet und z.B. über die Beweggründe der Täter recherchiert hat.
Da ich bisher weder die Zeitschrift noch den Podcast kannte, waren einige Fälle für mich neu, andere kannte ich bereits aus den Medien.
So ist es auch der Fall mit dem im Sebnitzer Freibad ertrunkenen Kind, an den ich mich noch gut erinnern kann und der mich besonders beschäftigt hat. Der 6jährige könnte von Neonazis ermordet worden sein – aber hätten die anderen Badegäste wirklich einfach zugesehen? Zumal der Fall erst 3 Jahre später zur Anzeige gebracht wurde. Die beiden Journalisten beleuchten dieses angebliche Verbrechen von mehreren Seiten. Zum einen beschäftigen sie sich mit den Polizeiakten und decken dabei Versäumnisse der ermittelnden Behörden auf, zum anderen gehen sie auf Rummel ein, den die Medien damals veranstaltet haben – und wie die Familie damit umgegangen ist, dass sie eine Industrie aus ihrem Schmerz gemacht, keine wichtige Zeitung oder Fernsehsendung ausgelassen hat, die ihnen Publicity brachte. Da fragt man sich schon, ob es Familie und Presse wirklich um Verbrechensaufklärung oder einfach nur um Auflagenstärke bzw. Reichweite ging. Ähnlich ist das auch beim Fall der angeblichen Doppelmörderin Vera Brühne, die schon vor dem Prozess von der Presse als Schuldige bezeichnet wurde, und am Ende nur aufgrund von Indizien verurteilt wurde.

In den 12 im Hörbuch behandelten Fälle geht es neben Mord auch um Fahrerflucht, Vergewaltigung, Kindesmisshandlung und -vernachlässigung, Verleumdung oder Falschaussage.
Die beiden Journalisten beschäftigen sich mit der Frage, wie Opfer und Täter Profit aus ihrem Leid schlagen, zeigen Fälle auf, wo der Staat und die Behörden versagt haben und Jugendliche und Kinder zu Tätern oder Opfern wurden, oder wie alte Fälle zum Teil nach Jahrzehnten dank neuer Ermittlungsmethoden wie z.B. der Gentechnik doch noch aufgeklärt wurden. Beleuchtet werden die Fälle jeweils aus Sicht des Gesetzes, der Staatsanwaltschaft oder der Polizei.

Einige der Schilderungen waren zwar etwas weitschweifig oder langatmig, aber im Großen und Ganzen trotzdem sehr interessant und so spannend, dass ich den dazugehörigen Podcast jetzt abonniert habe. Auch die 12 Sprecher haben ihre Sache sehr gut gemacht.

Bewertung vom 26.11.2020
Whitmore, Felicity

Der Faden der Vergangenheit / Die Frauen von Hampton Hall Bd.1


ausgezeichnet

Abigail´s Hall ist ihr Schicksal

„“Wir leben heute und sind nicht verantwortlich für das, was unsere Vorfahren getan haben.“ „Und doch profitieren wir heute noch davon.““ (S. 107)
Melody Stewart zieht als neue Oberstaatsanwältin von London nach Stockmill in den alten Familiensitz Abigail´s Place. Sie will sich nebenbei endlich auch um den Verkauf des alten Anwesens kümmern, das seit einem tragischen Vorfall vor 180 Jahren leer steht. Ihr Mann, der wie sie der englischen Oberschicht angehört, und ihre pubertierenden Zwillingstöchter sind London geblieben, da es in Abigail´s Hall noch nicht einmal Strom gibt. Sie macht sich Vorwürfe, ihre Ehe läuft nicht mehr gut und ihr Mann und ihre Schwiegermutter geben ihr das Gefühl, eine schlechte Mutter zu sein und sie für ihre Karriere zu verlassen. Um sich abzulenken und aus Interesse stürzt sie sich auf Lady Abigails Tagebücher, die sie verstreut und zum Teil gut versteckt in dem alten Haus findet. Beim Lesen taucht sie immer tiefer in Abigails Erlebnisse und die Geheimnisse des Hauses ein. Aber hat Abigail´s Geliebter damals wirklich jemanden umgebracht und sie sich nach seinem Tod aus dem Fenster gestürzt? Melody kann dank Detectiv Daniel Rashleigh sogar die alten Polizeiakten einsehen – und auch er kann einiges zur Aufklärung beitragen, denn er ist der Nachfahre von Abigail´s Geliebtem Oliver Rashleigh …

„Der Faden der Vergangenheit“ ist der Auftakt der Trilogie über die Frauen von Hampton Hall und macht auf jeden Fall Lust auf die Folgebände. Geschickt verknüpft Felicity Whitemore die beiden Zeitstränge der 1840er Jahre und heute und auch die Familienbande zwischen Lady Abigail Hampton, Melodys Vorfahrin, und den Rashleighs.

Abigail und Melody sehen sich nicht nur ähnlich, auch ihre Leben weisen Parallelen auf. Sie sind in ihren Ehen nicht glücklich und haben ein großes Unrechtsbewusstsein. Während Melody als Oberstaatsanwältin über Recht und Unrecht entscheidet, hat Abigail eine Art Offenbarung, als sie bei der Rückkehr von einer Reise zu ersten Mal bewusst eine halbverhungerte Bettlerin mit ihrem Kind wahr- und sich ihrer annimmt. Bis dahin hatte sie sich nie dafür interessiert, woher ihr Reichtum kam, schließlich betrieb ihr Mann die größte Baumwollfabrik der Stadt. Erst durch die Bettlerin erfährt sie von den unwürdigen Bedingungen, unter den die Menschen arbeiten und leben, dass durch die beginnende Industrialisierung immer weniger Arbeitskräfte gebraucht werden und man dann die billigsten einstellt – Frauen und (Klein-)Kinder. „Ich schäme mich entsetzlich. Ich habe eine Wohltätigkeitsveranstaltung nach der anderen besucht und auch organisiert. Ich habe immer geglaubt, meinen Teil beizutragen, aber in Wahrheit hatte ich keine Ahnung. Wir klopfen uns gegenseitig auf die Schultern und unseren Fenstern Menschen.“ (S. 63) Sie will die Situation ändern und beginnt hinter dem Rücken ihres Mannes und ihres Schwagers, kleine Veränderungen einzuführen, doch nicht einmal die Arbeiter glauben an sie. „Sie sind eine Frau. … Sie sind vielleicht adelig und haben mehr Geld als wir. Aber ihr Geschlecht macht sie machtlos.“ (S. 124) Unterstützt wird sie dabei vom Verwalter der Fabrik, Oliver Rashleigh, der ihr die Arbeitsabläufe und Geschäftsgebaren näherbringt und ihr hilft, ihr größtes Geheimnis zu wahren …

Das Buch hat mich von Anfang bis Ende sehr gut unterhalten. Felicity Whitmore weiß, wie man die Leser fesselt, beschreibt die damaligen Zustände und das Anwesen sehr bildlich und auch die Romantik kommt nicht zu kurz. Ich habe die Emanzipation beider Frauen verfolgt. Besonders beeindruckt hat mich Abigail mit ihrem Kampf für die Arbeiter und gegen ihre eigene Klasse, dass sie als Frau versucht hat, bessere Arbeits- und Lebensverhältnisse für ihrer Angestellten zu schaffen und auch ihre Söhne in diesem Sinn erzogen. Aber auch Melodys Weg zur Erkenntnis, dass sie als Mutter auch Karriere machen darf und sich von ihrem Mann nicht kleinmachen lassen muss, hat mir gut gefallen.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.11.2020
Ebert, Sabine

Preis der Macht / Schwert und Krone Bd.5


ausgezeichnet

Der Zorn der Verschwörer

Mit „Preis der Macht“ geht eine Ära zu Ende. Auf über 3000 Seiten hat Sabine Ebert ihren Lesern das Mittelalter zu Zeiten Barbarossas nähergebracht, die Machtkämpfe und Kreuzzüge, Schlachten, Verschwörungen und Ränkespiele, aber auch Einzelschicksale wichtiger Persönlichkeiten.

Das Buch beginnt mit einer von Kaiser Friedrichs größten Niederlagen. 1167 will er für den von ihm bevorzugten Gegenpapst Paschalis III. den Papstthron erringen, dafür müsste er Papst Alexander III. aus Rom vertreiben. Doch die Natur zwingt ihn in die Knie, eine Seuche rafft den Großteil seines Heeres dahin, ganze Häuser erlöschen. Friedrich kann sich zwar zurück in sein Reich retten, doch die Pechsträhne reißt nicht ab. Sein engster Vertrauter, Heinrich der Löwe, hat inzwischen fast alle anderen Fürsten gegen sich aufgebracht, er kann ihn kaum noch kontrollieren. Denn durch die Hochzeit mit der englischen Königstochter Mathilde ist Heinrich einer der reichsten und einflussreichsten Männer seiner Zeit.

Zur gleichen Zeit werden in der Mark Meißen in Christiansdorf erste Silberfunde gemacht. Um diese abbauen zu dürfen, braucht Markgraf Otto das Schürfrecht vom Kaiser. Doch da er zu den Verschwörern gegen den Löwen gehört, will Barbarossa ihm dieses natürlich nicht gewähren. Mit einigen Tricks und Kniffen beginnt der Meißner dennoch mit dem Abbau. Außerdem wirbt er weitere Siedler an – und Silberbergleute aus Heinrichs Mine in Goslar ab.
Dieser Strang mit den Querverweisen zu Sabine Eberts Hebammen-Saga hat mich als Fan der ersten Stunde besonders begeistert. Er erzählt die Entstehung und Entwicklung des späteren Freibergs aus Sicht der Meißner Markgrafen und geht näher auf dessen Kampf um das Schürfrecht ein, und welche politischen Allianzen er deswegen schließen musste.

Barbarossas Kämpfe an allen Fronten (zu Hause gegen die herrschenden Fürsten, die ihre Gebiete und Machtbereiche ausweiten wollen, und auf diversen Kreuzzügen gegen Feinde von außen) schildert Sabine Ebert gewohnt spannend. Trotz der umfangreichen historischen Fakten wird die Lektüre nie langweilig und auch die vielen Protagonisten konnte ich bis zuletzt auseinanderhalten.
Ihr besonderes Augenmerk gilt auch hier wieder der Machtlosigkeit der Frauen zur damaligen Zeit. Doch zumindest die Höhergestellten konnten manchmal Einfluss auf ihre Männer und damit die Politik nehmen. Dies wird sowohl bei Kaisern Beatrix und Ottos Gemahlin Hedwig deutlich, aber auch Mathilde, die mit 11 Jahren an den 30 Jahre älteren Heinrich verheiratet wird, weiß sich von Beginn an durchzusetzen. Dafür wurden sie erzogen, waren oft gebildeter als ihre Gatten und mussten trotzdem ein Leben lang hinter ihnen zurückstehen. Die drei Frauen haben mir echten Respekt abgerungen.
Ergänzt wird auch der letzte Band durch umfassende Stammtafeln, ein Glossar, Zeittafeln und Karten.

Bewertung vom 18.11.2020
Durand, Jacky

Die Rezepte meines Vaters


ausgezeichnet

Kochen heißt großzügig sein

„Ohne dich hätte meine Kochkunst keine Richtung, keinen Geschmack. Ohne Worte hast Du mir Dinge beigebracht. Jetzt kannst Du gehen, Papa. Wir hatten ein gutes Leben zusammen …“ (S. 21)
Juliens Vater Henri hat Lungenkrebs im Endstadium und liegt auf einer Palliativstation im Koma. Er ist nicht mehr da, und trotzdem bewegen sich seine Hände unaufhörlich als würde er Brotteig kneten – Henri war immer ein Koch aus Leidenschaft, kann selbst im Angesicht des Todes nicht loslassen. Während Julien an seinem Bett sitzt, denkt er an ihr gemeinsames Leben, seine Kindheit und Jugend zurück.

Diese ist geprägt von Henris kleinem, aber weithin berühmten Bistro. Das Familienleben spielt sich hauptsächlich in dessen Küche ab. Henri steht werktags von 7 Uhr bis Mitternacht am Herd, auch wer kein Geld hat, wird von ihm nicht abgewiesen. Unterstützt wird er von Lucien. Die beiden kennen sich aus dem Algerienkrieg, wo sie Schlimmes erlebt haben, über das sie nur in Andeutungen reden. Sie scheinen selber Nachfahren von Einwanderern zu sein, variieren die traditionellen französischen Rezepte aber nur leicht. Ihnen ist wichtig, dass die Gerichte frisch, regional, jahreszeitgemäß und nachhaltig sind, viele Zutaten finden sie in der Natur. Julien ist so oft wie mögliche dabei, erlernt erste Rezepte und sieht zu seinem Vater auf, auch wenn dieser kein guter Lehrer ist, sondern oft harsch und aufbrausend. Kochen hat man im Gefühl meint er, dafür braucht es keine Rezepte. Trotzdem legt Henris Frau irgendwann ein Rezeptbuch an.
So ist es nur natürlich, dass Julien von klein auf in Henris Fußstapfen treten und selbst Koch werden will, aber Henri ist dagegen. Sein Sohn soll es einmal besser haben und nicht von früh bis spät in der Küche schuften. Doch Julien ist genauso stur wie sein Vater und lässt sich von seinem Ziel nicht abbringen. Nur Henris Kochbuch fehlt ihm noch zum Glück, auch wenn er die meisten Rezepte längst auswendig kennt …

Obwohl das Buch nur 200 Seiten hat, liest man es nicht mal so nebenbei. Ich habe es mehrfach aus der Hand gelegt, weil sich das Gelesene setzen musste. Es ist eine relativ traurige Geschichte. Julien erzählt sehr ruhig und eindringlich aus seinem Leben. Oft spürt man seine Verlorenheit und die Sehnsucht nach einer heilen Familie, nach seiner Mutter, welche die Familie in seiner Kindheit verlassen hat. „… wir klammern uns an Rituale. Wir sind wie Seiltänzer auf dem Seil des Lebens ohne Mama. Unser Gleichgewicht ist nicht stabil …“ (S. 66)
Ich fand es sehr berührend wie Julien darum kämpft, von seinem Vater als Koch akzeptiert und anerkannt zu werden und das Bistro übernehmen zu dürfen.
Aber es ist auch ein Roman mit einem Paukenschlag, er spitzt sich immer mehr zu, bis das im Klappentext erwähnte Geheimnis gelüftet wird und Julien in eine Krise stürzt. „Am liebsten würde ich der ganzen Welt meine Einsamkeit ins Gesicht schreien, die ich niemals loswerde.“ (S. 119)
Mir hat besonders gut gefallen, wie der Autor es geschafft hat, fast jede Erinnerung Juliens mit einem Gericht zu verbinden (einige finden sich am Ende des Buches wieder) und damit den Appetit des Lesers auf gute französische Hausmannskost zu wecken.

„Die Rezepte meines Vaters“ von Jacky Durand ist eine sehr berührende Vater-Sohn-Geschichte, garniert mit französischen Köstlichkeiten, die einem das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.11.2020
Schuster, Stephanie

Milena und die Briefe der Liebe / Außergewöhnliche Frauen zwischen Aufbruch und Liebe Bd.3


ausgezeichnet

Prag 1916: Milena ist 20, als sie den Literaturkritiker Ernst Pollak kennenlernt. Ihr Vater ist ein angesehener Kieferchirurg, an Geld und Ansehen mangelt es ihr nicht, aber an Liebe. Sie darf als eine der wenigen Frauen studieren, weiß aber noch nicht, was sie später machen will. Pollak scheint sich wirklich für sie zu interessieren, führt sie in den Prager Literaturzirkel ein, nimmt sie in die angesagten Caféhäuser mit – und lässt sich von ihr verführen. Doch er ist ein deutscher Jude und als solcher in den Augen ihres Vaters völlig untragbar – schon gar nicht als Ehemann! Doch „Er verkörperte für sie Freiheit und Selbstbestimmung, ein Leben jenseits der bürgerlichen Moral.“ (S. 25). Als Milena volljährig ist, heiraten sie und gehen zusammen nach Wien. Dort folgt die Ernüchterung, Pollak hat das mit der „Freiheit“ wörtlich gemeint. Er besteht auf getrennten Bereichen in der Wohnung, damit seine wechselnden Partnerinnen sie nicht stören. Auch für ihren Unterhalt muss sie selbst sorgen. Da erinnert sie sich an Franz Kafka, den Pollak ihr in Prag kurz vorgestellt hatte und dessen Werke sie sehr beeindruckt haben. Sie schreibt ihn an und schlägt vor, seine Texte ins Tschechische zu übersetzen, es entwickelt sich eine Brieffreundschaft. Milena fühlt sich endlich verstanden und fiebert seinen Briefen entgegen, verliebt sich in ihn und ihm scheint es genauso zu gehen – aber kann diese Liebe auch in der Wirklichkeit bestehen?

Ich hatte bis zu diesem Buch von Stephanie Schuster noch nie von Milena gehört, dabei war sie eine sehr interessante Persönlichkeit. Als sie Pollak kennenlernt, sieht sie sich als moderne und unabhängige junge Frau, lebt allerdings vom Geld ihres Vaters. Sie ist recht naiv, mit einer überbordenden Fantasie gesegnet, und steigert sich schnell in etwas hinein. Milena glaubt, hofft, Pollack eine ebenbürtige Partnerin zu sein, überwirft sich mit ihrem Vater und verzichtet auf ihre Mitgift. Da sie schon immer gern geschrieben hat denkt sie, dass sie davon leben kann. Doch in Wien ist sie auf sich allein gestellt, kommt mit der Sprache und Lebensart nicht klar, hat keine Freunde. Der erste Weltkrieg ist gerade vorbei, die Lage immer noch schlecht. Sie arbeitet als Kofferträgerin am Bahnhof und erteilt privaten Tschechisch-Unterricht. Nebenbei schreibt sie erste Artikel über das, was sie erlebt.
Ihr Briefwechsel mit Kafka wird schnell privat, ihre Flucht aus dem Alltag. Sie scheinen ähnlich zu empfinden, schreiben sich unermüdlich. Und wie schon bei Pollak, steigert sich Milena auch in diese „Beziehung“ bald hinein, denn Kafka macht Andeutungen, die man durchaus als Eheversprechen interpretieren könnte. Aber er zieht er sich auch immer wieder zurück. Sie ist die treibende Kraft, er die verzagte Künstlerseele, auf die Rücksicht genommen werden muss. Es wird ein ewiges Hin und Her, eine Liebe, die anscheinend nur in ihren Briefen Erfüllung findet. Doch Milena gibt nicht auf.

Milena hat im Laufe des Romans eine großartige Entwicklung durchmacht, von der jungen Naiven zur gefragten, eigenständigen Journalistin, einer Persönlichkeit, die den Ungerechtigkeiten der Welt auf den Grund geht und ihr einen Spiegel vorhält, sich von Männern nichts sagen lässt, schon gar nicht wie und mit wem sie lebt oder über was sie schreibt.

Stephanie Schuster schreibt über zwei starke, leidenschaftliche Persönlichkeiten, die unterschiedlicher kaum sein könnten, sich anziehen und abstoßen, aneinander reiben und daran wachsen. „Kafka hatte sie sehen gelehrt … Mithilfe seiner Geschichten, durch seine Augen hatte sie ihre Wahrnehmung geschärft.“ (S. 324) Sie erzählt von einer überschwänglichen Liebe, die man heute noch in Kafkas Briefen nachlesen kann – Milenas sind leider nicht erhalten. Dabei schildert sie Prag und Wien und die Künstlerszene der damaligen Zeit sehr lebendig und anschaulich, fesselt den Leser und zieht ihn in Milenas Welt. Ich habe bis zuletzt mitgefiebert, ob sie sich nun bekommen oder nicht.