Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Raumzeitreisender
Wohnort: 
Ahaus
Über mich: 
Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 758 Bewertungen
Bewertung vom 10.07.2016
Der Tod Gottes und die Krise der Kultur
Eagleton, Terry

Der Tod Gottes und die Krise der Kultur


sehr gut

Eine anspruchsvolle Streitschrift

In dem Buch geht es „weniger um Gott als vielmehr um die Krise, die sein scheinbares Verschwinden ausgelöst hat.“ (9) Daher beginnt Eagleton seine Betrachtungen in der Zeit der Aufklärung und zeigt deren Grenzen auf. Der Autor macht deutlich, dass Kultur im weitesten Sinne die Lücke füllt, die Gott hinterlassen hat. Er resümiert, dass diese Lücke nicht überzeugend geschlossen wird.

„Die Aufgabe bestand nicht so sehr darin, das Höchste Wesen vom Thron zu stoßen, als vielmehr darin, eine geistig umnachtete Version des religiösen Glaubens durch eine neue Form zu ersetzen, … .“ (19) Es ging eher um die Machenschaften der Priester und weniger um das Christentum an sich. Die Kirche hat an Macht verloren. Dennoch hat die Aufklärung Grenzen aufgezeigt: „Ein rein technischer Rationalismus ist zu einer Aussage über Werte nicht in der Lage.“ (61)

Eagleton schlägt den Bogen von der Zeit der Aufklärung über den Idealismus, die Romantik, bis hin in die Neuzeit. Die Idealisten und Romantiker finden ihre Antwort in Form eines natürlichen Supernaturalismus: Der Geist ist die Grundlage der Welt, dieser hat die Realität erschaffen. Auf diese Weise gelingt es, „den Geist als einen recht exakten Ersatz für Gott zu sehen“. (66) Einige Romantiker kritisierten den Idealismus als reine Kopfgeburt, der es schwer fiel, „seine Wahrheiten in Alltagssprache zu übersetzen“. (77)

Letztlich scheitert jedes Modell am Selbstbezug. „Keine Form des Wissens kann zu sich selbst zurückkehren und die Bedingungen begreifen, die sie hervorgebracht haben.“ (81) Dennoch entwickelte sich die Kultur zu einer Ersatzform der Religion. Sie „half bei der Legitimation von Herrschaft, wurde aber auch zur Quelle des Protests gegen die Herrschenden“. (104)

„Nicht an Gott zu glauben ist wesentlich mühsamer, als man im Allgemeinen vermutet.“ (150) Eagleton ironisiert und provoziert. „Die Menschheit erträgt nicht besonders viel Realität, und das gilt nicht zuletzt für ihre untergeordneten Mitglieder.“ (152) „Man darf die Illusionen der Menschen über die Religion nicht immer angreifen.“ (167) Die Freiheit hat ihre Grenzen. „Man darf nicht so entsetzlich offen denken, dass man die politische Ordnung in Frage stellt.“ (164)

Ist Gott tot? Eagleton setzt sich mit Marx, Nietzsche, Freud und Schopenhauer auseinander, um nur Beispiele zu benennen. Ist Schopenhauers Wille („Die Welt als Wille und Vorstellung“) eine grausige Parodie des Allmächtigen? Nietzsche erkennt, dass man Gott nur dann eliminiert, wenn man den angeborenen Sinn aufgibt. Die Abschaffung von Bedeutung zerstört auch die Vorstellung von Tiefe. Letztlich sind alle Versuche gescheitert, Gott zu beseitigen.

Der Kapitalismus in seiner heutigen Form ist eine Gesellschaftsordnung ohne Glauben. Dennoch suchen sich manche Menschen im Westen Ersatzreligionen in Esoterik, Okkultismus, Scientology und Transzendentaler Meditation. Ja, ganz ohne Transzendenz geht es nicht. Und so, wie in der Physik eine Kraft eine Gegenkraft erzeugt, entwickelt sich diametral zum atheistischen ausbeuterischen Kapitalismus ein radikales islamisches System. „Der Triumphalismus dieser Lehre spiegelte die immer rücksichtslosere weltweite Politik des Westens nach dem Ende des Kalten Krieges, die letzten Endes auch die radikale islamische Gegenreaktion auslöste.“ (241) Die Ironie in dieser Betrachtung ist unverkennbar.

„Der Tod Gottes und die Krise der Kultur“ ist kein Einsteigerbuch. Eagleton referiert im Stil einer Vorlesung, streut zahlreiche Namen ein, bildet laufend Bezüge zur Literatur und Philosophie und glänzt mit Wissen, welches er nur grob in eine ansprechende Form transformiert. Neben den Hauptabschnitten fehlen gliedernde Unterabschnitte. Seine Ausführungen sind subjektiv, provozierend, ironisch und teilweise schwer nachvollziehbar. Es handelt sich eher um eine anspruchsvolle Streitschrift als um ein Fachbuch.

Bewertung vom 10.07.2016
Spiegelbilder
Machfus, Nagib

Spiegelbilder


ausgezeichnet

Menschen, Menschen, Menschen

In „Spiegelbilder“ porträtiert Nagib Machfus verschiedene Zeitgenossen aus seinem privaten und beruflichen Umfeld. Er entwickelt ihre Charakterzüge aus Momentaufnahmen heraus und präsentiert sich dabei als exzellenter Beobachter. Jedes Kapitel handelt von einer Person, deren Lebenslauf im Vordergrund steht. Im Zeitraffer stellt Machfus die Protagonisten zu unterschiedlichen politischen und sozialen Verhältnissen in Beziehung. Dabei werden nicht selten Brüche in der Entwicklung und im Charakter erkennbar.

Das Buch besteht zwar aus einzelnen abgeschlossenen Episoden, jedoch ist der Protagonist aus der einen Geschichte gleichzeitig Nebendarsteller in einer anderen Geschichte. Was wird deutlich? Vorschnelle Beurteilungen der Charaktere und Lebenswege sind fehl am Platz. Abgerundete Menschenbilder erschließen sich erst bei Betrachtung des umfassenden Beziehungsgeflechts.

Das Buch ist leicht verständlich und lesenswert. Die Übersetzung durch Doris Kilias ist gelungen. Die Begegnungen sind mal heiter unterhaltsam, mal politisch geprägt und mal eher melancholisch. Der Mensch steckt überall auf der Welt voller Ideale, Hoffnungen und auch voller Widersprüche. Mit diesem Werk trägt Nagib Machfus wesentlich zu einem besseren Verständnis der arabischen Kultur bei. Seine eigene Distanz aus der Beobachterrolle kann interpretiert werden als eine Aufforderung zu mehr Toleranz.

Bewertung vom 10.07.2016
Die Frau mit dem roten Tuch
Gaarder, Jostein

Die Frau mit dem roten Tuch


sehr gut

Glaube - Wissen – Zufall – Schicksal

Jostein Gaarder versteht es, wie nur wenige Autoren, wissenschaftliche Themen in seine Romane zu integrieren. In „Die Frau mit dem roten Tuch“ ist es das Verhältnis von Naturwissenschaft und Glaube, welches in den Fokus rückt, wobei Glaube, wie er hier beschrieben wird, umfassend zu verstehen ist und Esoterik mit einschließt.

Die Protagonisten sind die Lehrerin Solrun, die das Thema Glaube vertritt und der Naturwissenschaftler Steinn, ihr Gegenpart. Sie waren in jungen Jahren ein Paar, haben sich aber wegen einem rätselhaften Unfall getrennt. Dreißig Jahre später begegnen sie sich wieder und beginnen eine Korrespondenz per E-Mail. Von diesem Gedankenaustausch handelt das Buch.

Schon ihre Begegnung nach dreißig Jahren wirft die Frage nach Zufall oder schicksalhafter Fügung auf. Diese Fragestellung zieht sich durch den gesamten Roman. Die Unterhaltung zwischen Solrun und Steinn dreht sich nicht nur um frühere Ereignisse, die beide bis heute nicht verarbeitet haben, sondern insbesondere um existenzielle Fragen, die den Menschen und die Welt, in der er lebt, betreffen.

Der Frau mit dem roten Tuch kommt eine besondere Bedeutung zu. Sie bewegt sich im Grenzbereich zwischen Wirklichkeit und Glaube. Gaarder hat auf diese Weise ein Element in seinen Roman eingebaut, welches die Diskussion zwischen Solrun und Steinn spiegelt und deutlich macht, dass letzte Fragen weder durch Wissenschaft noch durch Glaube beantwortet werden können.

Bewertung vom 09.07.2016
Das anständige Unternehmen
Sprenger, Reinhard K.

Das anständige Unternehmen


ausgezeichnet

Bereits im Vorwort fordert Managementberater Reinhard K. Sprenger, dass Anstand wirtschaftlich erfolgreich sein muss, denn die „ethische Forderung nach Anstand ist richtungsgleich mit der ökonomischen nach Innovation und Reduktion der Komplexität“. (19)

Aus dem Gebot des Anstands leitet Sprenger fünf Prinzipien ab, die er im zweiten Teil des Buches ausführlich untersucht. Diese sind negativ formuliert und entspringen einer negativen Ethik. „Die Aufforderung, etwas nicht zu tun, umgeht die Versuchung, etwas „einzig Richtiges“ absolut zu setzen. Sie behauptet keine allein denkbare Wahrheit. Sie bekennt sich zur Mehrdeutigkeit.“ (368, 369)

Sind Mitarbeiter Mittel zum Zweck der Führung in Unternehmen oder dient das Unternehmen der Selbstverwirklichung der Mitarbeiter? Um mit diesem Spagat umgehen zu können, ist Balance gefordert. Unter der Prämisse von Anstand ist ein Ausgleich von Geben und Nehmen erforderlich.

Sprenger betont, dass sich der Mensch durch Freiheit und Selbstbestimmung auszeichnet und das jeder Mensch gute Arbeit leisten will. (116) Letztere These ist nur teilweise durch Erfahrungen des Autors belegt und beruht auf einer bewussten Entscheidung. Dieses Menschenbild impliziert, dass Mitarbeiter als Erwachsene behandelt werden und nicht als Kinder.

Sprenger stellt das Verhältnis von Organisation und Mitarbeiter auf den Kopf. „Die Menschen sind die harten Faktoren, die Strukturen die weichen.“ (161) Menschen verändern zu wollen ist ein Kampf gegen Windmühlen. Veränderung funktioniert nur als Selbstentwicklung. Daher ist Personalauswahl wichtiger als Personalentwicklung.

„Männer sind anders – Frauen auch.“ (210) Diese durch Wissenschaft und Alltagserfahrung belegte These widerstrebt dem Feminismus. Kann es im Sinne einer pluralistischen Gesellschaft sein, dass Männer weiblicher und Frauen männlicher werden sollen?

Führungskräfte müssen zwischen Alternativen wählen, wobei jede Entscheidung Widerstand erzeugt. Dieses Dilemma kann Führung nicht abgenommen werden. Entscheidungen zu Gunsten von Innovation sind Entscheidungen gegen Althergebrachtes. Beide Seiten haben Befürworter und Gegner.

Fazit:

In „Mythos Motivation“ demaskiert Sprenger Beeinflussungstechniken und verändert damit die Sicht auf die Arbeitswelt. In „Das Prinzip Selbstverantwortung“ beschreibt er die Grundlagen dieser Sicht und setzt auf Eigeninitiative und Selbstverantwortung. In „Aufstand des Unternehmens“ erläutert er Voraussetzungen für den Wandel vom egalisierenden Unternehmen konventioneller Art zum individualisierenden Unternehmen zukünftiger Art.

Der Kitt, der alles zusammenhält, ist das Vertrauen. Warum Vertrauen so wichtig ist und wie man es erreichen kann, macht Sprenger in „Vertrauen führt“ deutlich. Vertrauen ist eine wichtige Grundlage von Führung, aber die Zielsetzung ist eine andere. Daher destilliert Sprenger in „Radikal führen“ aus dem Führungsverhalten der Manager zeitlose Kernaufgaben heraus. Der Zweck der Führung besteht darin, das Überleben des Unternehmens zu sichern.

Dieser Positivliste aus „Radikal führen“ stellt Sprenger in „Das anständige Unternehmen“ eine Negativliste gegenüber, in der er aufzeigt, was zu lassen ist. (26) Sprenger macht das auf gewohnt strukturierte Art und Weise. Hilfreich wäre eine Evaluation seiner Thesen. Sprachlich ist er mit seinen Wortschöpfungen sehr kreativ, seine Bücher klären nicht nur auf, sondern unterhalten. In diesem Sinne ist auch „Das anständige Unternehmen“ wie eine Brise frischer Wind.

Bewertung vom 09.07.2016
Die Brüder Karamasow
Dostojewskij, Fjodor M.

Die Brüder Karamasow


ausgezeichnet

Ein Klassiker der Weltliteratur - spannend und faszinierend

Wir leben in einer Welt, in der es den Wissenschaften schwer fällt, Wahrheiten zu finden, die die Zeit überdauern. Althergebrachte Erkenntnisse werden in immer kürzeren Zeitabständen in Frage gestellt. Gibt es Wissen ohne Verfallsdatum? Dostojewski entwickelt in seinem im 19. Jahrhundert entstandenen Roman eine zeitlose Perspektive auf die Psyche des Menschen. Seine Beschreibungen haben auch im 21. Jahrhundert ihre Bedeutung nicht verloren.

Der Roman handelt von den drei unterschiedlichen Söhnen des alten Karamasow, ihren glaubens- und charakterbedingten Auseinandersetzungen und gipfelt in einem perfektes Verbrechen, dem Mord am Vater. Die polizeilichen Untersuchungen führen zur Festnahme eines der drei Söhne. Die anschließende Gerichtsverhandlung ist, wegen ihrer Mehrdeutigkeit, einer der Höhepunkte des Romans. Die Erzählungen sind phasenweise recht spannend, selbst wenn man vorher weiß, wer der Mörder ist. Warum ist das so? Weil es neben der realen äußeren Handlungsbeschreibung um die innere Auseinandersetzung geht, um die Schuldfrage, die nicht so eindeutig ist. Ist der Verurteilte auch der Mörder? Ist der Mörder der eigentlich Schuldige?

Das Thema „Gut und Böse“ wird an unterschiedlichen Stellen des Romans beleuchtet. Mutig und lehrreich ist die kurze Abhandlung „Der Großinquisitor“, in der zentrale menschliche Fragen behandelt werden. Ist die Freiheit des Menschen ein Fluch? Ist der Mensch mit dieser Freiheit überfordert? Hätte „Er“ (gemeint ist der Gottessohn), der in dieser Geschichte auf die Erde zurückkehrt und vom Großinquisitor verhaftet wird, das nicht wissen müssen?

Der Roman ist auf der Handlungsebene leicht verständlich geschrieben. Man erhält einen Einblick in die russische Kultur und Mentalität der Menschen. Auf der sinnbildlichen Ebene handelt es sich um ein äußerst anspruchsvolles Werk. Dies dürfte der Grund dafür sein, dass der Roman seine Faszination bis heute nicht verloren hat.

Bewertung vom 09.07.2016
Geschöpfe aus Sternenstaub
Gribbin, John

Geschöpfe aus Sternenstaub


sehr gut

Wir sind nicht allein im Kosmos

Im Jahre 2001 haben amerikanische Wissenschaftler Experimente durchgeführt, in denen das Umfeld interstellarer Gas- und Staubwolken simuliert wurde. Ultraviolette Bestrahlung, wie sie typischerweise auch von jungen Sternen ausgehend auf kosmische Gas- und Staubwolken einwirkt, führt zur Bildung komplexer organischer Moleküle. Die Forschungsergebnisse stützen die Hypothese, dass Leben (zumindest in einfacher Form) kein zufälliges Ereignis ist, sondern an vielen Orten im Weltraum vorkommen kann.

John Gribbin, Physiker und Wissenschaftspublizist, schlussfolgert, dass der Ursprung des Lebens viel älter als die Erde und in den Weiten des Weltalls zu suchen ist. Die erdbezogene Evolutionsforschung wäre damit auf einen Teilbereich der Gesamtentwicklung beschränkt. Positiv ausgedrückt: Der Entstehung von Leben haben kosmische Zeiträume zur Verfügung gestanden und nicht nur die relativ kurze Zeit der bisherigen Erdgeschichte. Evolutionskritikern, denen insbesondere die geringe Zeitspanne der Entwicklung auf der Erde für die Entfaltung von Leben zu kurz erscheint, könnte damit der Wind aus den Segeln genommen werden.

Gribbin beschreibt eine plausible Variante der von verschiedenen Autoren in der Vergangenheit ins Gespräch gebrachten Panspermien-Hypothesen. Nach seiner Auffassung reicht die komplexe Chemie interstellarer Wolken aus, um die Entwicklung einfacher Biomoleküle zu erklären. Kritisiert wird an dieser Lehre, dass nicht die Entstehung von Leben erklärt, sondern lediglich der Ort der Entstehung verlagert wird.

Lesenswert sind Gribbins Einführung in die Astrophysik, die Beschreibung der Lebensgeschichte der Sterne und damit eng verknüpft die Herkunft und Entwicklung der chemischen Elemente. Von der (keinesfalls neuen) Erkenntnis, dass der menschliche Körper aus den Überresten ausgebrannter Sterne besteht, geht eine gewisse Faszination aus.

Fazit: John Gribbin präsentiert moderne Erkenntnisse der Wissenschaft auf gewohnt unterhaltsame Weise.

Bewertung vom 08.07.2016
Philosophie in 30 Sekunden
Law, Stephen;Baggini, Julian

Philosophie in 30 Sekunden


sehr gut

"Ich lese, also bin ich"

"Wenn Sie sich bereits fragen, warum dieses Buch existiert, dann sind Sie auf dem besten Weg, ein Philosoph zu werden." (10)

Das Buch ist homogen strukturiert und nicht chronologisch aufgebaut. Es besteht aus sieben Themenbereichen, deren Thesen anhand ihrer wichtigsten Vertreter kurz vorgestellt werden. Vorangestellt ist jeweils ein Glossar mit zentralen Begriffen. Es handelt sich um ein Einstiegswerk.

Zu den Themenbereichen gehören "Sprache & Logik", "Wissenschaft & Erkenntnistheorie", "Geist & Metaphysik", "Ethik & Politische Philosophie", "Religion", "Große philosophische Momente" und "Europäische Philosophie".

Die Leser können nicht erwarten, dass sie auf Basis dieses Buches Gödels Theoreme, die Grundlagen der Wissenschaftstheorie oder Heideggers "Nichts" umfassend verstehen. Dafür gibt es umfangreiche Spezialliteratur. Dennoch ist ein Enblick möglich, der neugierig macht.

Die Aufmachung ist ansprechend und die Texte sind verständlich. Es gibt Querverweise zu anderen Kapiteln, sodass es für das Verständnis nicht erforderlich ist, das Buch vom Anfang bis zum Ende zu lesen. Ein Einstieg ist in jedem Kapitel möglich.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.07.2016
Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry / Harold Fry Bd.1
Joyce, Rachel

Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry / Harold Fry Bd.1


weniger gut

Ein Selbstfindungsprozess

„Niemand kannte den wahren Grund, warum er zu Queenie ging. Sie stellten ihre Vermutungen an. … Seine wirklichen Beweggründe standen in erschreckendem Widerspruch zu allem, was die anderen glaubten.“ (286)

Harold Fry verlässt sein Haus in Südengland und will nur einen Brief einwerfen an seine frühere Arbeitskollegin Queenie Hennessy, die sich in einem Hospiz in Berwick befindet und im Sterben liegt. Das ist der Beginn einer dreimonatigen Pilgerreise von Südengland nach Berwick an der Grenze zu Schottland.

Im Laufe der strapaziösen Reise wird Harolds Familiengeschichte und Ehekrise dargelegt. Verschiedene Ereignisse und Sichtweisen fügen sich wie Teile eines Puzzles zu einem Gesamtbild zusammen. Harold lernt auf der Tour viele Menschen kennen und verändert sich.

Seine hauchdünnen Segelschuhe sind Synonym für die Verletzlichkeit der menschlichen Psyche. Parallel zur Aufarbeitung der Vergangenheit müssen die Schuhe mehrmals neu besohlt und geflickt werden. Behandelt werden müssen auch Harolds Beziehungen zu seinen Eltern, zu seiner Frau Maureen, zu seinem Sohn David und zu Queenie.

Bei diesem Buch handelt es sich um die Beschreibung eines Selbstfindungsprozesses. Jedoch wirkt die Darstellung der Charaktere und der Veränderungen konstruiert, unnatürlich und naiv. Es ist, wie schon der Titel andeutet, eine „unwahrscheinliche Pilgereise“.

Wer Bücher von Coelho mag, wird auch an diesem Buch Gefallen finden. Mir persönlich hat Hape Kerkelings Pilgereise besser gefallen, vielleicht, weil sie nicht nur besinnlich war, sondern auch real und humorvoll. Auch wenn die Beweggründe für die Reise im Laufe des Buches geklärt werden, fehlt mir der Tiefgang.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.07.2016
Herr Aurich
Maron, Monika

Herr Aurich


sehr gut

Wer sich oben glaubt ...

In dieser Novelle wird die Borniertheit eines (Macht-)Menschen beleuchtet, der in einem krankenden System lebt und von diesem bis in Spitzenfunktionen hinauf befördert wurde. Den Beschreibungen und der Herkunft der Autorin nach zu urteilen, handelt es sich um eine Satire auf die Verhältnisse in der ehemaligen DDR. Das Psychogramm des Protagonisten ist, ebenso wie die Verhältnisse im System, übertragbar. Worum geht es?

Herr Aurich, ein hoher Funktionär der Regierung, bekommt eines Nachts einen Herzinfarkt und wird, seiner Position entsprechend, nach Berlin zum Krankenhaus für verdiente Personen transportiert. Er arbeitet diszipliniert an seiner Genesung und hofft auf eine Spezialbehandlung, die nach seiner Meinung bei Spitzenfunktionären üblich ist, um ihre Einsatzfähigkeit für Staat und Gesellschaft möglichst lange erhalten zu können. Der Chefarzt des Krankenhauses empfiehlt Herrn Aurich, beruflich kürzer zu treten und eine weniger verantwortliche Tätigkeit zu übernehmen. Diese Nachricht führt zu Aurichs erneutem Zusammenbruch und zu seinem vorzeitigen Ruhestand. Er muss sein Weltbild überdenken und sein Leben neu ordnen.

Die Atmosphäre ist beklemmend, das Umfeld lieblos, die Akteure wirken stumpf. Der Protagonist ist genauso krank wie das System. Die Autorin verwendet die Reduzierung als Stilmittel. Der Leser muss die Lücken mit seiner Fantasie oder Erfahrung füllen. Eine Bruchstelle in Aurichs Weltbild ist erkennbar. Er wird einer wichtigen Illusion beraubt: Es gibt (für ihn) keine medizinische Spezialbehandlung. Aber Herr Aurich lernt daraus nicht, sondern interpretiert die Welt einfach um. Oben ist da, wo Herr Aurich sich befindet.

„Herr Aurich“ ist ein zeitloses Werk, da der beschriebene Charakter nicht an ein konkretes Regime gebunden ist. Er ist Bestandteil vieler (totalitärer) Hierarchien und möge als Mahnung dienen für menschliche Verirrungen beim Streben nach Macht.