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Juti
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Insgesamt 737 Bewertungen
Bewertung vom 14.04.2018
Kehlmann, Daniel

Tyll


gut

Licht und Schatten im Mittelalterschinken des berühmten Autors

Die Kritiker sind sich nicht einig über dieses Buch, das durchaus souveräne Stellen hat, etwa die Beschreibung der Henkersmahlzeit für Tylls Vater. Ebenso gefällt mir die Geschichte des Winterkönigs, wobei Heidelberger Lokalkolorit mitspielt, und auch die Gespräche seiner Frau Liz bei den Friedensverhandlungen in Osnabrück.
Der Westfälische Friede ist ein Durchbruch zur modernen Diplomatie: „Man muss immer erst aushandeln, worüber man eigentlich verhandeln wird, bevor man verhandelt.“ (S.455)
Ich befürworte ebenfalls das umstrittene erste Kapitel (Diskussion im Schweizer Literaturclub) mit dem schönen ersten Satz: „Der Krieg war bisher nicht zu uns gekommen.“ Es gibt Einblicke in die Denkweise dieser Zeit.

Mir missfällt aber die ausführliche und langweilige Darstellung des Prozesses gegen Tylls Vater, drei Beschreibungen von magischen Quadraten sind zwei zu viel. Auch wenn Tyll ein Schalk war, die Drachengeschichten mussten nun wirklich nicht sein. Wenn das Kapitel „Im Schacht“ uns den Krieg näher bringen sollte, so hätte ich mir lieber eine Schlachtbeschreibung, etwa vom Tode Gustav Adolfs, gewünscht.

Kehlmann beleuchtet verschiedene Schlaglichter des Dreißigjährigen Krieges, die durch Tyll Ulenspiegel verbunden werden. Das kann man wohl so machen. Dennoch habe ich gerne den Wikipedia-Artikel zum „Winterkönig“ gelesen, um zu wissen, was wirklich passiert ist. Auch habe ich bei Hermann Bote nachgelesen, was wirklich von Tyll stammt.

Lobend und als Kritik meiner Überschrift sei erwähnt, dass das Buch mit 473 Seiten kein echter „Schinken“ ist. Licht und Schatten ist übrigens auch ein Buchkapitel, in dem steht was unsterblich macht (nämlich bei Kirchner veröffentlicht zu werden. Heute liest ihn keiner mehr. Ist die Person real oder erfunden?) Ich kann gut verstehen, dass auch Tyll nicht sterben will. Kehlmann schreibt schön und gut lesbar, 2,5 Tage habe ich nur für dieses Buch benötigt. 3 Sterne.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.04.2018
Bovenschen, Silvia

Die imaginierte Weiblichkeit


gut

Das Buch untersucht die Literatur von Autorinnen, die wie die mir vorher unbekannte Anna Maria Schürmann Einfluss auf die Bildung Europas genommen haben, während im 18. Jahrhundert das Frauenbild sich änderte und Frauen als empfindsamer angesehen wurde, was sich dann auch in deren Werken zeigte.

Ein netter, gut zu lesender Überblick, 3 Sterne.

Bewertung vom 09.04.2018
Jakob, Christian;Schlindwein, Simone

Diktatoren als Türsteher Europas


ausgezeichnet

neue Gedanken zur Flüchtlingspolitik

„Von geschützten Grenzen und der Öffnung der Märkte träumt die EU. Von geschützten Märkten und offenen Grenzen träumt Afrika.“ so beginnt der allerletzte Abschnitt des Buches.
In der Tat macht die EU alles, damit weniger Flüchtlinge in die EU kommen. Angefangen nach der Jahrtausendwende mit Spanien, das still und leise bilateral mit afrikanischen Staaten verhandelte, um den Zustrom auf die Kanarischen Inseln zu verhindern. Gaddafi wurde als Türsteher von Italien unterstützt.

Heute, da es in Libyen keine Regierung gibt, die Kontrolle über das Land hat, werden Türsteher schon in der Sahara gesucht. Im Sudan wird mit einem Diktator verhandelt, der Menschenrechte nicht kennt. Niger mit der Sahara-Stadt Agadez, wo sich viele Flüchtlingsrouten treffen, bekommt biometrische Pässe und modernste Grenzschutzanlagen, obwohl die Kultur des Landes Migration als Wirtschaftsfaktor vorsieht. In vielen afrikanischen Ländern überweisen Arbeiter aus dem Ausland mehr Geld als das Land durch Entwicklungshilfe bekommt.

Ein Sachbuch muss danach beurteilt werden, ob es neue Informationen enthält. Klares Ja.
Ferner fehlt mir auch nichts. Merkels neue Afrika-Politik, der Deal mit der Türkei, die Arbeit von Frontex und den NGOs im Mittelmeer, Abschiebungen in Länder, die nicht die Heimatländer der Flüchtlinge sind, die Rolle Israels, die den Weg über den Sinai versperren und letztlich, wie oben erwähnt, der europäische Wunsch nach Freihandel, anstatt für Arbeitsplätze in Afrika zu sorgen.
Und wie wäre es mit einem legalen Weg nach Europa? Das Sterben im Mittelmeer muss aufhören.
5 Sterne

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.04.2018
Lessing, Hans-Erhard

Das Fahrrad


sehr gut

Wissenserweiterung dank nicht gekannter Zusammenhänge

Physiker und Technikhistoriker nennt sich der Autor. Den Schwerpunkt möchte ich auf Historiker liegen, denn dieses Buch geht überwiegend chronologisch vor.

Karl Drais hat 1817 das Laufrad erfunden, als Pferde wegen einer durch einen Vulkanausbruchs in Indonesien im Jahr vorher entstandenen Hungersnot notgeschlachtet werden mussten und in Holland (und anderswo) Schlittschuhlaufen sehr beliebt war.
Aber Karl Drais war als Badischer Demokrat von 1848 lange unbeliebt und wurde zu unrecht nicht als Erfinder des Fahrrads angesehen. (Eigentlich wäre eine Biographie über ihn sehr interessant.)
Das Buch hat in der Tat seinen Schwerpunkt im 19. Jahrhundert. Mir gefiel weniger, dass unendlich viele Firmennamen genannt wurden, während die Entwicklung der Fahrradkette quasi nur im Nebensatz erwähnt wird.

Aber allein schon Stellungnahmen der Religion zum Fahrrad, die Veränderung der Frauenmode und die Entwicklung von Coca-Cola machen das Buch lesenswert. 4 Sterne

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.04.2018
Gstrein, Norbert

Die kommenden Jahre (eBook, ePUB)


sehr gut

politisch brisante Geschichte über Klimawandel und Flüchtlinge

Ich-Erzähler Richard ist Glaziologe und auf einem Kongress in New York. Von seinem Freund Tim wird er eingeladen nach St.John`s in Neufundland zu kommen. Dies ist auch das Ziel vieler Amerikaner, wenn im kommenden Wahlkampf der falsche Präsident wird (gemeint ist Trump, wird aber nicht genannt). Viele, die angekündigt haben, auszuwandern, bleiben am Ende doch in den USA

Er wohnt aber in Hamburg, wo er mit seiner Frau Natascha entschieden hat, ihr Ferienhaus am See an eine undurchsichtige, syrische Flüchtlingsfamilie zu vermieten, was zu Spannungen führt. Auf dem See treffen sich Jugendliche, die die Syrer bedrohen. Auch die Söhne der Familie werden entführt. Aber Natascha nutzt als Schriftstellerin die Geschichte der Flüchtlinge, während Richard nach Kanada auswandern will. Obwohl er zwei Tickets gekauft hat, fliegt er am Ende allein.

Und wir hören drei Fassungen, wie die Geschichte enden könnte. Es ist nicht zu viel verraten, wenn ich schreibe, dass er in keinem Fall in St. John´s ankommt.

Gut gefallen hat mir die Erzählung von den Flüchtlingen, bei der mitunter auch Spannung aufkommt, die Erzählung in Kanada ist nur während seines Fahrradunfalls spannend, ansonsten bleiben die Arbeitskollegen blass. Daher 4 Sterne.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.03.2018
Garcia, Tristan

Das intensive Leben


weniger gut

Eher philosophischer Aufsatz über die Intensität

Mag ja sein, dass unser Leben seit der Moderne, deren Beginn der Autor mit dem Einsatz der Elektrizität definiert, intensiver geworden ist. Richtig ist auch das Dilemma, dass Intensität eine Steigerung bedarf, damit sie nicht zur Gewohnheit wird.
Aber ist Intensität wirklich erstrebenswert? Auf S.204 beantwortet er denn auch die Frage wie wie leben sollten mit: „So das wir nicht das Gefühl verlieren ein lebendiger Organismus zu sein.“

Und genau das ist das Problem: Das Buch schafft es nicht zu erklären, warum es wichtig ist es zu lesen. Glücksratgeber machen im Idealfall glücklicher. Vielleicht bin ich als Konsumgegner auch nicht der richtiger Leser. Ich hatte mehr Soziologisches erwartet.

Das Buch beginnt durch den „Kuss von Leipzig“ mit einem Ausflug in die Physik. Als die Elektrizität messbar wurde, verlor sie ihren Mythos. Ebenso erklärt das nächste Kapitel, dass die Kraft von Newton nur durch Kraft selbst beschrieben werden kann. Dann geht es um die Wandlung vom Libertin im 18. über den Romantiker im 19.Jh bis hin zum jugendlichen Rocker unsere Zeit um Menschen, die andere Werte teilen, wie ebenso die an Bedeutung verlierende Religion.

Alles nur mäßig interessant, daher nur 2 Sterne.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.03.2018
Aramburu, Fernando

Patria


ausgezeichnet

Packender Roman über das Leid der ETA

Mit der RAF habe ich mich schon beschäftigt, mit der ETA bisher noch nicht. Es gibt aber einen Unterschied: Die ETA hat Unterstützung aus dem ganzen baskischen Dorf. Der Unternehmer Txato beschreibt auf S.65, die er hat: „zahlen, verschwinden oder sein Leben riskieren.“ Da es ein Roman ist wird er natürlich umgebracht.

Spannung geht aber nicht verloren, denn in diesem Roman erleben wir Leser zwei Familien, eine Opfer- und eine Täterfamilie, die vor der Ermordung Txatos befreundet waren. Zur „Opferfamilie“ gehört Txatos Frau Bittori, die dem Mörder gerne vergeben möchte und schon ins Dorf zurückkehrt, als die ETA noch existierte. Sie haben zwei Kinder Xabier, ein Arzt, und Nerea, Juristin, die versucht eine Familie zu gründen. Beeindruckend ist wie sehr jeder auf unterschiedliche Weise unter dem Tod des Vaters leidet, obwohl die Kinder beim Anschlag schon selbständig waren.

Täterfamilie ist mein Wort und eigentlich ist es ein unfaires Wort, denn Täter ist nur der älteste Sohn Joxe Mari und lange bleibt spannend, ob er Txato ermordet hat. Wir erfahren viel über das Leben als Terrorist, vom Verstecken und von der Angst vor der Polizei und wie er letztlich gefasst wird und alle froh sind, dass er wenigstens noch lebt. Seine Mutter Miren unterstützt Mittel und Politik der ETA. Sein Vater Joxian dagegen kann im Grunde „keiner Fliege was zu Leide tun“ und sitzt zwischen allen Stühlen.
In dieser Familie gibt es zwei weitere Kinder: Arantxa, die nach einem Schlaganfall im Rollstuhl wieder bei den Eltern lebt, obwohl sie selbst Kinder hat, und die sich immer für Versöhnung einsetzt. Außerdem gibt es noch den Sohn Gorka, eine Leseratte mit guten baskischen Sprachkenntnissen. Er verliebt sich später in einem Mann und so wird „Ehe für alle“ zum Thema.

Wirklich beeindruckend ist das der Autor kein Thema ausgelassen hat, auch nicht die Folterung der ETA-Gefangenen durch die spanische Polizei, die selbst Xabier pflichtschuldig anerkennen muss.
Alle Protagonisten wirken in ihrem Handeln plausibel (nicht so wie bei Maja Lunde), einzig die massive Behinderung Arantxa fühlt sich etwas konstruiert an. Es gibt auch weitere Nebendarsteller, etwa ein Dorfpfarrer als ETA-Sympatisant. Aber sie kommen nur vor, wenn sie in Kontakt mit einem Mitglied der beiden Familien kommunizieren. Die Komposition dieser nicht chronologisch erzählten Geschichte ist wirklich weltklasse.

Nach dem Roman bin ich froh, dass Terror in Deutschland kein Dorf mehr spaltet und dass auch die Basken jetzt in Frieden leben können. Auch das fehlt nicht im Roman und gut ist auch, dass am Ende nicht alles Friede ist, denn die Toten kann keiner aufwecken.
Kurz vor Ostern vergebe ich sehr gerne 5 Sterne.

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.03.2018
Leky, Mariana

Was man von hier aus sehen kann


ausgezeichnet

fängt an wie ein Krimi, wird dann immer witziger und philosophischer

Es ist schon seltsam. Wahrscheinlich bin ich der einzige, der die Obstdiebin von Handke und dieses Buch teilweise nebeneinander, aber zumindest hintereinander gelesen hat. Und obwohl Autor, Thema und Genre vollkommen unterschiedlich sind, so gab es Überlagerungen, die ich nicht erwartet habe.
Beide Bücher behandeln das Nachbild, das entsteht, wenn man die Augen schließt und die Erinnerungen an eine vergangene Situation oder Person hochkommen. Ebenso kommt eine Reise nach Sibirien in beiden Büchern vor. Das wars aber auch an Gemeinsamkeiten.

Leky schreibt den Roman in drei Teilen mit Kapitelüberschriften. Der erste Teil liest sich wie ein Krimi, da man immer damit rechnen muss, dass ein Protagonist stirbt. Das führt natürlich zu einer Komik, etwa wenn der Briefträger angehalten wird, dass er die vermeintlichen Abschiedsbriefe rausrücken soll. Und schon tragisch ist das, was passiert, hier aber nicht verraten wird.
Ab dem zweiten Teil wird dann das Dorfleben aus der Sicht der älter werdenden Ich-Erzählerin geschildert. Dabei lebt die Handlung von schrägen Personen, die jeweils auf ihre Weise komisch sind. Was mir besonders gefällt, ist der Sprachwitz, der das ganze Buch durchzieht. So findet sich auf S.272: „Danke, dass du mir am Ende so viele Anfänge bringst.“ und weiter „auch der Optiker hatte Fieber, aber eines, das sich nicht messen ließ.“ Aus dem Krimi wird mehr und mehr eine Liebesgeschichte. Nicht eine – mehrere.
Vollkommen verdiente 5 Sterne.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.03.2018
Handke, Peter

Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere


sehr gut

Modernes meditatives Buch, das durch außergewöhliche Naturbeschreibungen besticht

Es ist das erste Buch, dass ich von Peter Handke gelesen habe. Und ich kann verstehen, dass dieser Autor seine Leserschaft spaltet. Mich hat er überwiegend begeistert.
Bei Handke ist der Inhalt schnell erzählt. Zunächst reist der Ich-Erzähler aus der Niemandsbucht, gemeint ist Paris, in die Picardie, dann wechselt die Perspektive und wir begleiten die Obstdiebin auf eine Wanderung von den Paris Vorstädten in die Picardie, wo sie zu guter Letzt einen Familien­feier besucht.
Doch viel wichtiger als die Handlung ist die Beschreibung der Natur dessen, was dem jeweiligen Hauptdarsteller so alles begegnet und was er denkt. Ich habe dieses Buch als eine Sammlung lauter Kurzgeschichten, mitunter einfach kurz und wunderbar. So als die Obstdiebin einer Freiluftmesse begegnet. Wie die Überalterung der Teilnehmer beschrieben wird, das habe ich so nie zuvor gelesen.
Thomas Gottschalk konnte im Literarischen Quartett aufzählen, wieviel Obst die Obstdiebin tatsächlich geklaut hat. Alle Achtung!
Ein Wermutstropfen muss dennoch loswerden. Ich habe das Ende, insbesondere den Sinn der Rede des Vaters nicht verstanden. Will er die Heilige Ehe retten? Ich weiß es einfach nicht.
Auch ist mir nicht klar geworden, warum die Erzählperspektive auf S.137 vom Ich-Erzähler zur Obstdiebin wechselt. Ist vielleicht der Ich-Erzähler der Vater der Obstdiebin?
Dennoch 4 Sterne. Mindestens.

Bewertung vom 10.03.2018
Grünbein, Durs

Zündkerzen


weniger gut

Nach wie vor fällt es mir schwer Lyrik zu bewerten.
Bilder sollen entstehen. Das gelingt Grünbein nur selten, überzeugend ist kein Gedicht.
Immerhin gibt es mitunter nette Reisebeschreibungen. Und manchmal etwas kritisches. Alles in allem aber hat mir Jan Wagner besser gefallen, daher nur 2 Sterne.