Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Raumzeitreisender
Wohnort: 
Ahaus
Über mich: 
Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 758 Bewertungen
Bewertung vom 15.07.2016
Die Methusalem-Lüge
Kistler, Ernst

Die Methusalem-Lüge


sehr gut

Wie mit demographischen Mythen Politik gemacht wird

Nicht alles, was unter dem Deckmantel der demographischen Entwicklung als zukunftsweisend beschlossen oder veröffentlicht wird, hält einer kritischen Überprüfung stand. Ernst Kistler, hauptberuflich mit dem demographischen Wandel und seinen Folgen beschäftigt, trennt die Spreu vom Weizen.

Der Geburtenrückgang ist ein Phänomen, das nicht nur in Deutschland, sondern europaweit beobachtet werden kann. Kistler thematisiert die Frage, ob Bevölkerungswachstum, insbesondere im Hinblick auf ökologische Folgen, stets positiv zu bewerten ist. Wenngleich in unserer globalen Wirtschaftswelt Wachstum als Wert an sich wahrgenommen wird, dürfen die Zusammenhänge zwischen Umweltbelastung und Bevölkerungsdichte nicht ausgeblendet werden. Begrenzte Ressourcen bedingen ein begrenztes Wachstum.

Im Hauptteil des Buches behandelt Kistler Mythen zum demographischen Wandel, in denen unter anderem zum Ausdruck kommt, dass die Zusammenhänge zwischen Bevölkerungsentwicklung und Arbeitsmarktsituation falsch oder perspektivisch verzerrt dargestellt werden. So ist nicht belegbar, dass der demographische Wandel zu einem spürbaren Arbeitskräftemangel führen wird. Auf Basis des vorliegenden Zahlenmaterials ist es eher wahrscheinlich, dass auch in den nächsten Jahrzehnten ein Überangebot an Arbeitskräften vorhanden sein wird.

Kistlers sozialwissenschaftliche Kompetenz wird beim Thema Altersdiskriminierung deutlich. Der Jugendwahn in unserer Arbeitswelt hält an und ältere Arbeitnehmer haben auch bei hoher Qualifikation kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Wie unter diesen Voraussetzungen die prognostizierte Kaufkraft der älteren Bevölkerung entstehen soll, bleibt das Geheimnis derer, die diese These unreflektiert in den Medien vertreten.

Im letzten Kapitel unterbreitet der Autor Vorschläge, wie die Politik mit dem Thema Demographie umgehen sollte. Er fordert langfristig angelegte Konzepte, die mehr umfassen müssen als Elterngeld und das Erschweren eines vorzeitigen Renteneintritts. Provokant ist sein Vorschlag, analog zum Umweltrecht, ein demographisches Verursacherprinzip zu etablieren, durch welches Unternehmen stärker in die Verantwortung genommen werden sollen.

Beim Blick auf den Buchumschlag entsteht der Eindruck, als ob der demographische Wandel nicht stattfinden würde. Aber dieser erste Eindruck wird beim Lesen revidiert. Autor Kistler beleuchtet alle Facetten dieses vielschichtigen Themas. Dreißig Seiten Anmerkungen und Literaturhinweise unterstreichen seine gründlichen Recherchen. Dass er tendenziell die Interessen der (alternden) Arbeitnehmerschaft im Fokus hat, macht ihn sympathisch.

Bewertung vom 15.07.2016

"Von Inseln weiß ich . . ."


sehr gut

Geschichten von den Färöern

Bei diesem Buch handelt es sich um eine Anthologie, bestehend aus Klassikern der färöischen Literatur bis hin zu Erzählungen der Gegenwart. Zu den 25 Autoren/innen gehören Pioniere wie Sverra Patursson und Andrea Reinert, Klassiker wie Heðin Brú und William Heinesen sowie junge Literaten der Gegenwart wie Elias Askham und Marjun Kjelnæs.

Da das Buch nur aus Kurzgeschichten besteht, sind nicht alle Autoren mit ihren bekanntesten Werken vertreten. Erkennbar in den Geschichten ist, wie Themen und Motive über die Jahrzehnte weitergegeben und aus anderen Perspektiven betrachtet wurden. Für deutschsprachige Leser wird eine bislang kaum übersetzte Literatur in ihrer gesamten Bandbreite zugänglich.

Im Laufe der Jahrhunderte ist auf den Färöern auf Basis mündlicher Überlieferungen von Balladen, Sagen und Märchen eine eigenständige, experimentierfreudige Literatur entstanden, die sich mit den großen Themen der Menschheit beschäftigt. Die Geschichten sind nicht chronologisch angeordnet, jedoch befinden sich die Klassiker in der ersten Hälfte und die jüngeren Werke in der zweiten Hälfte des Buches.

Der bekannteste färöische Autor ist William Heinesen, dessen Werk „Nasse Heimat“ dem Buch als Vorwort vorangestellt ist. Heinesen ist mit der unterhaltsamen Geschichte „Don Juan vom Tranhaus“ vertreten, in der ein Schiffbrüchiger Malteser die Herzen vieler junger Inselfrauen bricht. Südländisches Temperament und färöische Traditionen prallen hier aufeinander und beschwören nach einigen Intrigen eine Tragödie.

Besonders gefallen hat mir die Parabel „Der Schmetterlingsverkäufer“ von Rakel Helmsdal, die von einem alten Mann handelt, der vom Verkauf seiner präparierten Schmetterlinge lebt. Diese bietet er im Winter bei eisigen Temperaturen auf der Straße an. Seine Identifikation mit den Tieren nimmt ungeahnte Ausmaße an.

Verena Stössinger und Ana Katharina Dömling weisen in einem Nachwort darauf hin, dass junge färöische Künstler sich lieber der Musik zuwenden als der Literatur, weil diese keine engen nationalsprachlichen Grenzen kennt. Die Geschichten liefern einen farbenfrohen Querschnitt färöischer Kultur.

Bewertung vom 14.07.2016
Islamismus
Seidensticker, Tilman

Islamismus


sehr gut

Die Wurzeln des islamischen Fundamentalismus

Tilman Seidensticker, Professor für Islamwissenschaft, definiert zu Beginn seiner Ausführungen den Begriff „Islamismus“. (9) Anhand dieser Definition wird deutlich, dass es beim Islamismus um mehr geht, als um die Ausübung von Religion. Ziel ist die Umgestaltung der Gesellschaft anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden. An dieser Stelle werden zwei Probleme erkennbar und zwar ein inneres und ein äußeres. Hinsichtlich der Werte und Normen besteht innerhalb des Islam keine Einigkeit und die Werte und Normen sollen für die gesamte Gesellschaft, also auch für andere religiöse Gruppierungen, gelten. Beide Probleme führten in der Vergangenheit und führen auch heute zu Konflikten.

Der Islam ist nur auf Basis seiner geschichtlichen Entwicklung zu verstehen. Seidensticker erläutert daher den geschichtlichen Hintergrund, erklärt Wahhabismus und Salafismus, beschreibt die Entwicklung des Osmanischen Reiches, thematisiert den Kolonialismus und geht exemplarisch auf die Situation in Ägypten ein. Wer glaubt, dass hier ein einfaches Bild gezeichnet werden kann, wird eines besseren belehrt. Die Entwicklung ist vielschichtig, so wie auch die islamischen Führer, deren Biografien Seidensticker vorstellt, unterschiedlich sind. Einer der bekanntesten Führer ist Khomeini, der Gründer der Islamischen Republik Iran.

In den Medien wird man ständig mit Organisationen, Parteien und Gruppierungen aus der islamischen Welt konfrontiert, deren Entstehung und Ziele nicht allgemein bekannt sind. In den ausführlichen Beschreibungen werden die unterschiedlichen Strömungen deutlich und die Leser erhalten Informationen, ob es sich um radikalislamistische Gruppierungen oder eher um gemäßigte politische Gruppen handelt. Der Autor relativiert den Zusammenhang zwischen Selbstmordattentaten und der islamischen Religion, da solche Attentate der klassischen islamischen Tradition widersprechen. (113)

Das Buch ist sachlich, kompakt, informativ, aber auch ein wenig trocken. Auf nur 128 Seiten wird viel Inhalt geboten, wenngleich im Hinblick auf die Vielschichtigkeit des Themas Schwerpunkte gesetzt werden. So liegt der Fokus auf der arabischen Welt. Vermisst habe ich Ausführungen zu IS und Syrien, Themen, die in einem Buch von 2014 hätten behandelt werden können. So entsteht der Eindruck, dass das Gefahrenpotenzial des Islamismus nicht hinreichend behandelt wird.

Bewertung vom 14.07.2016
Der Nobelpreis
Eschbach, Andreas

Der Nobelpreis


ausgezeichnet

Gekaufter Ruhm

Andreas Eschbach erläutert zu Beginn seines Romans ausführlich die Entstehungsgeschichte und die Modalitäten für das Auswahlverfahren und die Vergabe des Nobelpreises. Das uralte höfische Zeremoniell beeindruckt Preisträger und Weltöffentlichkeit gleichermaßen. Eschbach bereitet die Leser mit diesem Einstieg auf das Unerhörte vor: Ist es möglich, die Preisvergabe zu manipulieren?

Damit ist der Rahmen abgesteckt, in dem sich die Geschehnisse abspielen. Eschbach beschreibt ein Szenario, das die Vergabe der höchsten wissenschaftlichen Auszeichnung in einem anderen Licht erscheinen lässt. Entstanden ist ein lesenswerter spannender Psychothriller.

Professor Andersson, Mitglied der Nobelversammlung, wird Geld angeboten für die Wahl einer bestimmten Kandidatin. Er lehnt entrüstet ab. Daraufhin wird seine Tochter entführt. Bei seinen Nachforschungen wird Andersson schnell klar, dass es um ein viel größeres Komplott geht, in das Mitarbeiter der Polizei und zahlreiche Mitglieder des Nobelkomitees verstrickt sind. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt. Wer könnte Andersson helfen, die Erpresser ausfindig zu machen und seine Tochter zu befreien?

Eschbach schreibt flüssig und verständlich. Es handelt sich um eine durchgängige Erzählung. Im Laufe des Romans wechselt er von einer berichtenden Erzählform zu einer Ich-Form, ein Wechsel, der nur im ersten Moment verwirrt. Eschbach arbeitet zahlreiche Konflikte der Protagonisten einschließlich ihrer Vorgeschichten heraus, was den Roman besonders interessant macht. Die Beschreibungen der Handlungen und Beziehungen stehen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander. Der Roman ist zu empfehlen.

Bewertung vom 14.07.2016
Das Gold von Gotland
List, Berndt

Das Gold von Gotland


sehr gut

Freibeuter und „hanseatische Pfeffersäcke“

Im 14. Jahrhundert machten sich die Vitalienbrüder, Seefahrer der Nord- und Ostsee, als Freibeuter einen Namen. In späteren Zeiten kaperten sie Schiffe der Hansestädte, deren Händlern wegen des Handels mit Gewürzen der Name „Pfeffersäcke“ anhaftete. Sie wurden von ostfriesischen Häuptlingen unterstützt, die für die Schiffe der Freibeuter Ankerplätze zur Verfügung stellten und für die Vermarktung der Beute sorgten.

Einer der bekanntesten Vitalienbrüder war Klaus Störtebeker (1370-1401). Um ihn ranken sich zahlreiche Legenden. Für die Einen ist er ein ehrloser skrupelloser Pirat und für die Anderen ein Freiheitskämpfer, der sich für die Rechte der Armen eingesetzt hat. Auf Basis historischer Werke und verschiedener Legenden erzählt Berndt List eine fiktive Abenteuergeschichte, die den Geist der Vitalienbrüder zu neuem Leben erweckt.

Der Autor hat sich mit dem Leben der Menschen im Mittelalter beschäftigt. Auch wenn die Hintergrundbeschreibungen nicht mit einem Historienroman von Umberto Eco vergleichbar sind, so sind sie dennoch informativ und tragen zum Verständnis des harten Lebens im Mittelalter bei. Es fällt positiv auf, dass der Autor die Welt nicht in Gut und Böse einteilt, sondern eine differenzierte Sicht der gesellschaftlichen Verhältnisse beschreibt. Die Gier nach Geld und Macht zieht sich durch alle gesellschaftlichen Schichten.

Der Roman ist spannend und man legt das Buch nur ungern aus der Hand. Und das Ende: Na ja, den Lesern wird eine große Portion Fantasie abverlangt.

Bewertung vom 13.07.2016
Die Stadt der Blinden
Saramago, José

Die Stadt der Blinden


ausgezeichnet

Wer schauen kann, der sehe

In einer unbekannten Stadt erblinden nach und nach immer mehr Menschen. Auch den freundlichen Helfern, die den Erblindeten zur Seite stehen, ergeht es nicht besser. Sie ereilt das gleiche Schicksal. Es ist keine gewöhnliche Blindheit, sondern die Welt erscheint den Probanden weiß.

Der Staat geht von einer Epidemie aus und reagiert mit Ausgrenzung. Die Blinden werden interniert und sich selbst überlassen. Wer sich den Anordnungen des Militärs widersetzt, wird erschossen.

Die Ordnung bricht allmählich zusammen und aus einer einst kultivierten Gesellschaft entwickelt sich ein Horrorszenario. Das gilt nicht nur für die Gewalt des Machtapparates gegenüber den Bürgern, sondern auch für die Verhältnisse der Blinden untereinander im Internierungslager.

Die Blindheit dient dem Autor als Metapher für eine tiefgehende geistige Blindheit. Die Gesellschaft löst sich auf und die Menschen verlieren ihre Moral. Aber ein Hoffnungsschimmer bleibt: So wie auch Diktaturen eine Gegenkraft erzeugen, gibt es unter den Blinden eine Sehende. Sie wird zur Leitfigur und zum Hoffnungsträger einer Gruppe von Blinden.

José Saramago, portugiesischer Literaturnobelpreisträger, stellt die Frage nach dem Kern des Menschseins, nach Gut und Böse und dem, was sich hinter der kultivierten Fassade verbirgt. Dies ist ihm auf beeindruckende Weise gelungen.

Bewertung vom 13.07.2016
Die Schöpfung
Lauxmann, Frieder

Die Schöpfung


sehr gut

Philosophische Wege zum Erleben der Welt

Frieder Lauxmann erläutert zu Beginn seine Motivation für das Buch. Er bemängelt, dass Naturwissenschaften, Philosophie, Religion und Dichtung keine Gemeinsamkeiten erkennen, sondern zunehmend getrennte Wege gehen. Er resümiert, dass das materialistische Denken Probleme schafft, die mit diesem Denken nicht gelöst werden können. Insofern ist die Frage auf dem Buchrücken „Ist die Welt ein Zufallsprodukt oder ist sie eine sinnerfüllte Schöpfung?“ zumindest für den Autor eine rhetorische Frage. Dieser hat die Frage für sich selbst längst beantwortet, wie auch am Buchtitel deutlich wird.

Der Hauptteil des Buches besteht aus den drei Teilen „Zufall – Der Nichts- und Alleskönner“, „Auf der Suche nach dem schöpferischen Geist“ und „Die Nähe des unfassbaren Schöpfers“, die jeweils in kurze Einzelkapitel gegliedert sind. In jedem dieser Kapitel beleuchtet der Autor Fragen zur Weltentstehung aus unterschiedlichen Perspektiven. Auf diese Weise entsteht ein übersichtlicher Querschnitt an Auffassungen zum Thema. Die Kapitel sind mit Zitaten berühmter Personen der Menschheitsgeschichte überschrieben.

Neben der um objektive Erkenntnis bemühten naturwissenschaftlichen Forschung, gibt es subjektive Erfahrungen (Glaube, Hoffnung, Liebe, Selbsterkenntnis), die außerhalb des Rahmens der Naturwissenschaften liegen, aber den Menschen ebenso bestimmen, wie die die intersubjektive Wirklichkeit beschreibende Physik, Chemie und Biologie.

Der Autor verfügt über ein umfangreiches Querschnittswissen. Es ist ihm in diesem philosophischen Lesebuch gelungen, verschiedene Welterklärungsmodelle für eine breite Leserschaft verständlich aufzubereiten. Im Ergebnis wird der Entwurf einer ganzheitlichen Schöpfungsethik erkennbar.

Bewertung vom 13.07.2016
Digitaler Burnout
Markowetz, Alexander

Digitaler Burnout


sehr gut

Smartphone Zombies - Schattenseiten der digitalen Welt

„Wenn wir durchschnittlich alle 18 Minuten – und manche sogar noch öfter – unser Smartphone benutzen, ist das nicht mehr normal. Unser Nutzerverhalten droht eindeutig aus dem Ruder zu laufen.“ (30) Markowetz bringt das Problem auf den Punkt. Wie kommt es zu diesen Verhaltensweisen? Was können wir dagegen tun?

Markowetz, Professor für Informatik an der Uni Bonn, beschäftigt sich im Rahmen eines Projektes mit diesen Fragen. Die ständigen Unterbrechungen durch digitale Medien führen dazu, dass wir uns nicht mehr auf eine Sache konzentrieren können. Das Smartphone, welches Markowetz in diesem Buch thematisiert, ist in diesem Sinne nur ein Beispiel für moderne Technik, die zur Fragmentierung des Berufslebens und der Freizeit führt.

Im ersten Teil des Buches untersucht der Autor, warum wir es überhaupt zulassen, ständig unterbrochen zu werden und warum Smartphones eine so große Anziehungskraft ausüben. Ein Fragebogen hilft, das eigene Suchtverhalten einzuschätzen. Das Buch wäre unvollständig, wenn Markowetz nicht auch Lösungen anbieten würde, die im zweiten Teil des Buches zu finden sind.

Das eingangs beschriebene Nutzerverhalten, vergleichbar mit einer Daueralarmbereitschaft, ist rational nicht erklärbar. Es kommen irrationale unbewusste Automatismen ins Spiel, die an Spielsucht erinnern. Bereits die Erwartungshaltung führt dazu, dass im Gehirn Dopamin freigesetzt wird und der Mensch einen Glücksrausch erlebt. Dadurch entsteht eine Abhängigkeit, die wiederum Voraussetzung für das Entstehen des Digitalen Burnouts ist.

Die enormen technischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte führen nicht zu einem Produktivitätsschub. Dieses Phänomen ist als „Produktivitätsparadoxon“ bekannt und beschäftigt mittlerweile zahlreiche Wissenschaftler. „Die 53 täglichen Unterbrechungen, die Smartphones verursachen, haben unseren Alltag und unsere Arbeit in unzählige kleine Zeiteinheiten fragmentiert.“ (60) Dadurch erreichen wir nur noch selten den Zustand, den Psychologen „Flow“ nennen. Gemeint ist ein fast schon meditatives Versinken in die Arbeit unter Ausblenden der Umgebung. Dieser Zustand ist wichtig, um komplexe intellektuelle oder kreative Aufgaben lösen zu können.

Multitasking bleibt Computern vorbehalten, das menschliche Gehirn ist überfordert, wenn mehrere Dinge gleichzeitig erledigt werden sollen. Langjährigen Multitaskern droht eine chronische Aufmerksamkeitsstörung. Das steht in Einklang mit Ausführungen des bekannten Hirnforschers Manfred Spitzer, auf den sich Markowetz bezieht. Eine wichtige menschliche Eigenschaft besteht darin, Prioritäten zu setzen und das ist eine erste Möglichkeit, der digitalen Versuchung zu widerstehen.

Einstein spielte Geige und Newton döste am helllichten Tag. Diese Art von Muße fehlt in der heutigen Zeit. Daher wundert es nicht, dass aktuell zahlreiche Bücher über Achtsamkeit, eine Art Konzentration auf das Hier und Jetzt, auf dem Markt zu finden sind. Auf diesem Gebiet besteht in unserer reizüberfluteten multimedialen Welt Handlungsbedarf.

Markowetz beschreibt in seiner „digitalen Diät“ Wege, wie wir unser Verhalten ändern können. Die Abschaltung firmeneigener Mailserver nach Feierabend ist da nur ein Beispiel von vielen. Statt geistiger Überfrachtung proklamiert er Reduktion und bewusstes Leben. Zunächst ist Selbsterkenntnis gefragt. Das eigene Verhalten im Umgang mit Smartphones (und anderen digitalen Medien) muss reflektiert werden.

Das Buch enthält vermeidbare Wiederholungen, ist aber informativ und aktuell. Es handelt sich um ein populärwissenschaftliches Buch, in dem der Autor auf anschauliche Art und Weise die Schattenseiten der digitalen Welt darstellt. Kritisiert wird nicht die Technik an sich, sondern der sorglose unreflektierte Umgang mit dieser Technik.

Bewertung vom 13.07.2016
Die Musik der Primzahlen
Du Sautoy, Marcus

Die Musik der Primzahlen


ausgezeichnet

Die Geschichte der Primzahlforschung

Marcus du Sautoy beschreibt in dem populärwissenschaftlichen Buch „Die Musik der Primzahlen“ die Entwicklung der Primzahlforschung von der Antike bis in die Gegenwart. Sautoy bezeichnet Primzahlen als die „Atome der Arithmetik“. In dieser Metapher kommt ihre Bedeutung als Fundament der Zahlensysteme prägnant zum Ausdruck.

Ist es dem Autor gelungen, dieses eher trockene Thema aus dem Bereich der Zahlentheorie (Arithmetik) so interessant darzustellen, dass eine breite Leserschaft angesprochen wird?

Das Buch enthält Biographien zahlreicher berühmter Mathematiker, Erläuterungen zu mathematischen Zusammenhängen und interdisziplinäre Verbindungen zur Physik, Informatik und Musik. Der Autor verzichtet weitgehend auf Formeln. Die wenigen im Buch beschriebenen Funktionen, Reihen und Grafiken sind für das Verständnis des Themas unverzichtbar.

Bereits die alten Griechen haben die Eigenschaften der Primzahlen analysiert und herausgefunden, dass es unendlich viele davon geben muss. Pythagoras fand bei Klangexperimenten mit unterschiedlich gefüllten Tonkrügen eine Beziehung zwischen einfachen Brüchen und harmonischer Musik. Der Begriff Sphärenmusik hat hier seinen Ursprung.

In späteren Jahrhunderten haben Mathematiker wie Leonhard Euler und Carl Friedrich Gauß die Primzahlforschung weiterentwickelt und neue Erkenntnisse über die Eigenschaften der Primzahlen gewonnen. Einen Höhepunkt erreichte die Primzahlforschung durch die Arbeiten des Mathematikers Bernhard Riemann.

Riemann hat die Eigenschaften der sogenannten Zeta- Funktion, einer durch eine Reihe definierten komplexwertigen Funktion, untersucht und einen Zusammenhang mit den Primzahlen und damit zwischen Analysis und Arithmetik erkannt. Es gibt eine Beziehung zwischen der Anzahl der Primzahlen und den Nullstellen der Zeta- Funktion. Riemann vermutete, dass alle nichttrivialen Nullstellen dieser Funktion auf einer Geraden liegen. Der Beweis dieser „Riemannschen Vermutung“ wird von Kennern als der Heilige Gral der Mathematik bezeichnet. Ein Beweis für die Riemannsche Vermutung steht bis heute aus.

Primzahlen waren über Jahrhunderte Gegenstand theoretischer Betrachtungen ohne praktische Anwendung. Das änderte sich im Zeitalter weltweit vernetzter Computer. Die besonderen Eigenschaften der Primzahlen haben die Methoden der Kryptographie geprägt. Die RSA- Verschlüsselung nutzt für ihr System die Erkenntnis aus, dass große Zahlen nicht auf einfache Weise in Primfaktoren zerlegt werden können. Der Schlüssel zum Verschlüsseln (Primzahlprodukt) kann daher veröffentlicht werden, ohne Gefahr zu laufen, dass der Schlüssel zum Entschlüsseln (Primfaktoren) von irgendeinem Hacker berechnet werden kann.

Im Kapitel „Von geordneten Nullstellen zum Quantenchaos“ werden Verbindungen zur Physik dargestellt. Der Mathematiker Hugh Montgomery und der Physiker Freeman Dyson haben erkannt, dass zwischen der Verteilung der Primzahlen und den Energieniveaus schwerer Atome ein Zusammenhang besteht. Diese Verbindung zur empirischen Wissenschaft lässt die Schlussfolgerung zu, dass Primzahlen mehr sind als nur ein theoretisches Konstrukt der Mathematiker.

Die Ausführungen im Buch sind interessant, weitgehend verständlich und lesenswert. Dem Autor ist es gelungen, die Faszination, die von ungelösten Problemen der Mathematik ausgeht, zu vermitteln. Gibt es etwas zu kritisieren? Vielleicht hätten die Erläuterungen zur „Riemannschen Vermutung“ kürzer gefasst werden können, weil dieses Thema einfach zu komplex für eine populärwissenschaftliche Darstellung ist.