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Raumzeitreisender
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Ahaus
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 758 Bewertungen
Bewertung vom 17.07.2016
Kabarett der Täuschungen
Gardner, Martin

Kabarett der Täuschungen


ausgezeichnet

Ein Aufklärungsbuch

Das Buch ist mittlerweile über 30 Jahre alt und wird von vielen Lesern nicht mehr entdeckt oder beachtet. Dabei ist die behandelte Thematik aktuell, zumal der Büchermarkt mit Literatur über Esoterik überschwemmt wird. Dagegen gibt es nur wenige Bücher, die aufklären, die die Spreu vom Weizen trennen und Pseudowissenschaften als solche entlarven. Martin Gardner hat ein solches Buch geschrieben.

Auch wenn heute niemand mehr von Velikovskys Buch „Welten im Zusammenbruch“ spricht, in dem eine hanebüchene kosmische Theorie die orthodoxe jüdische Interpretation der Geschichten des alten Testaments verteidigen soll, so ist Kreationismus, also die Lehre von einer 6000 Jahre alten Erde, heute (vor allem in den USA) ein aktuelles Thema.

Gleiches gilt für den Löffelbieger Uri Geller. Bereits vor über 30 Jahren wurden seine Tricks entlarvt; keine Spur von Psi-Kräften. Trotzdem tritt er heute wieder mit dem gleichen Programm im Fernsehen auf. Wenn er als Zauberer auftreten würde, gäb es kein Problem mit seinen Shows, dann würde es sich um reine Unterhaltung handeln. Aber so zu tun, als ob hier Psi-Kräfte wirken würden, ist Scharlatanerie.

Weil Einstein einst das Vorwort zu der deutschen Ausgabe des Werks „Mental Radio“ von Upton Sinclair (ein Freund von Einstein) geschrieben hat (ein Buch über Telepathie), wurde ihm von manchen Zeitgenossen unterstellt, er glaube an Parapsychologie. In dem Buch sind mehrere Briefe von Einstein abgedruckt, die diese Auffassung revidieren.

Andere Themen, die Gardner aufarbeitet, sind Hautsehen, Begegnungen der dritten Art, sprechende Affen und diverse Katastrophentheorien. Auch der Interpretation der Quantentheorie ist ein Kapitel gewidmet.

Nach eigenem Bekunden im Vorwort glaubt Gardner nicht, dass wertlose Hypothesen der Gesellschaft großen Schaden zufügen. Für die Gebiete Medizin, Gesundheit und Anthropologie gelte dies allerdings nicht. Bevor man Geistheilern auf den Philippinen vertraut (deren Methoden hat schon Hoimar von Ditfurth in der legendären Sendereihe Querschnitte analysiert), sollte man lieber den Hausarzt aufsuchen.

Vielleicht trägt diese kleine Rezension dazu bei, dass Martin Gardners Buch „Kabarett der Täuschungen“ nicht in Vergessenheit gerät.

Bewertung vom 17.07.2016
Rattenjagd
Terechow, Alexander

Rattenjagd


weniger gut

Groteske Satire auf die russische Gesellschaft

In einem russischen Provinznest herrscht eine Rattenplage. Der Bürgermeister beauftragt zwei Moskauer Rattenfänger, den Saal des örtlichen Hotels von diesen lästigen Nagern zu befreien, denn hoher Besuch kündigt sich an. Der russische Präsident und wichtige ausländische Repräsentanten wollen den Ort besuchen und damit besteht die Aussicht auf staatliche Fördermittel. Das Dorf soll sich von seiner besten Seite zeigen und um dieses Ziel zu erreichen, wird in potemkinscher Manier ein riesiges Kartenhaus errichtet.

In dem Roman werden die letzten siebzehn Tage vor dem Besuch des Präsidenten in chronologischer Reihenfolge beschrieben. Die Ausführungen nehmen manchmal groteske Züge an. Nonsensverhöre finden statt und das allgemeine Durcheinander wächst. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Das Volk wird teilweise durch Militär ersetzt, um Störenfriede loszuwerden. Gegen Ende des Romans werden die Handlungen zunehmend surrealistisch.

Der Roman liest sich nicht leicht. Er besteht aus einer Vielzahl aneinander gereihter Fragmente, deren Verbindungen fehlen. Erschwerend kommt hinzu, dass der Autor auf Charakterstudien verzichtet hat. Trotz einfach strukturierter Sprache, erfordert das Lesen ein hohes Maß an Konzentration. Einzelne bildhafte Beschreibungen lockern die Erzählung zwar auf, jedoch fehlt der rote Faden. Es handelt sich um einen nur mäßig geglückten Versuch einer Satire auf die russische Zeitgeschichte.

Bewertung vom 16.07.2016
Die Datenfresser
Kurz, Constanze;Rieger, Frank

Die Datenfresser


sehr gut

Balanceakt zwischen Transparenz und Privatsphäre

Die Autoren Constanze Kurz und Frank Rieger, beides IT-Sicherheitsexperten, erläutern, was kostenlos im Internet bedeutet. Bezahlt wird nicht mit Euro, sondern mit Daten. Im Informationszeitalter haben Daten einen Wert, der in die Milliarden geht, wie an Verkäufen von IT-Unternehmen deutlich wird.

Mit dem Thema des Buches haben sich in den vergangenen Jahren zahlreiche Autoren beschäftigt. Gerald Reischl [1], Stephen Baker [2] und Dave Eggers [3] seien als Beispiele genannt. Im Kern geht es um den leichtfertigen Umgang mit persönlichen Daten und den Nutzungsmöglichkeiten dieser Daten auch gegen die Interessen der betroffenen Personen.

Das Buch gliedert sich in neun Kapitel, in denen die Autoren die Motivation der Datensammler beschreiben, Algorithmen und Auswertemöglichkeiten erläutern, das „digitale Gedächtnis“ thematisieren und Überwachungsmethoden auf Basis biometrischer Daten vorstellen.

Smartphones i.V.m. WLAN-Netzen und GPS ermöglichen es, Bewegungsprofile von Personen zu erstellen. Mehrwerte entstehen durch die parallele Auswertung vieler Datenquellen. Bewegungsprofile i.V.m. Kontakten aus E-Mail-Diensten, sozialen Netzwerken, Blogs und Foren lassen den Bürger transparent werden.

Die Mechanismen beim Umgang mit Daten erläutern die Autoren anhand eines jungen Internetunternehmens. Selbst wenn der Datenschutz (zunächst) garantiert wird, ist diese Garantie nach einem Konkurs nichts mehr wert. Die Daten werden mit anderen Beständen verknüpft bzw. in einen größeren Datenbestand eingegliedert und vermarktet.

Die Abschaffung der Privatsphäre wird von denen gefordert, die einen Nutzen davon haben. Auffallend ist die Asymmetrie bei der Transparenz. Es sind nicht die IT-Firmen oder die Chefs der großen sozialen Netzwerke, die auf Geheimniskrämerei verzichten. Digitale Transparenz gilt nur für den Bürger.

Im letzten Kapitel zeigen die Autoren Wege auf, wie Bürger sich besser schützen können. Dieser wichtige Teil des Buches kommt zu kurz. Im heutigen digitalen Zeitalter sind Bücher erforderlich, die ihren Schwerpunkt beim praktischen Datenschutz setzen. Davon abgesehen sind die Ausführungen verständlich und hinsichtlich des von vielen unterschätzten Themas auch wichtig.

[1] Gerald Reischl: Die Google Falle, 2008
[2] Stephen Baker: Die Numerati, 2008
[3] Dave Eggers: Der Circle, 2014

Bewertung vom 16.07.2016
Broken Music
Sting

Broken Music


ausgezeichnet

Every Breath You Take

Selbstfindung ist ein großes Thema für Sting. Gleich im ersten Kapitel seiner Autobiographie berichtet er über ein Experiment mit bewusstseinsverändernden Drogen in einer religiösen Gemeinschaft. Ist eine transzendente Wirkung erreichbar? Seine Visionen beziehen sich auf die Kraft der Liebe, die – analog der Energieerhaltung in der Physik – ständig transformiert wird, aber niemals verloren geht.

Die Zeit bei „Police“, die Sting zu einem Weltstar katapultiert hat, spielt in diesem Buch nur eine untergeordnete Rolle. Spannend wie ein Roman ist die Entwicklung des jungen Musikers Sting bis zur Etablierung von „Police“. Wer in gesicherten Verhältnissen lebt, bekommt Respekt vor einem Menschen wie Sting, der für eine Idee einen sicheren Beruf aufgibt, um in der unsteten Musikerszene seinen Weg zu gehen.

Sting beleuchtet ausführlich seine Kindheit und Jugend. Sein Verhältnis zu seinen Eltern war angespannt, fast zerbrochen und die Aufarbeitung dieser Beziehung macht einen wesentlichen Teil des Buches aus. Auf manche Menschen wirkt Sting arrogant. In der Autobiographie wird deutlich, dass sich hinter einer Fassade vordergründiger Arroganz, ein selbstkritischer Mensch verbirgt.

Wer dieses Buch liest, wird Sting mit anderen Augen sehen. Er ist nicht als Musiker geboren, sondern hat sich allmählich zu dem entwickelt, was er heute ist. Sein Wandel von einem durchschnittlichen Provinzmusiker zu einer Musikerpersönlichkeit vollzog sich langsam. Er ist ein Kind seiner Zeit, beeinflusst von den Beatles, die aus einem ähnlichen Milieu stammten wie er selbst und der Gruppe Cream, die als Trio Musikgeschichte geschrieben hat.

Seine Maxime lautet: „Weniger ist mehr“. Er hat frühzeitig angefangen, seine Qualitäten als Sänger zu verbessern und selbst Musikstücke zu schreiben. Diese kreative Arbeit und der Entschluss, nach Jahren in verschiedenen Bands, mit den Musikern Copeland und Summers eine Band zu gründen, führten zum Erfolg.

Wer Stings Musik kennt und seine Ambitionen für humanitäre Organisationen, erwartet einen tiefsinnigen Autor. Dieser Eindruck wird bestätigt. Sting besitzt zudem schriftstellerische Qualitäten und seine offenherzige Art überrascht.

Bewertung vom 16.07.2016
Virtualisierung für Einsteiger
Portnoy, Matthew

Virtualisierung für Einsteiger


gut

Grundkonzepte der Virtualisierung verstehen

In der Informatik bedeutet Virtualisierung die Abstraktion einer physischen Komponente in ein logisches Software-Objekt. Für das Rechenzentrum bieten sich Einsparungen bei den Hardwarekosten, bei der Energie und bei der Administration der Systeme. Für den Anwender, dem eine virtuelle Maschine bereitgestellt wird, ist kein Unterschied erkennbar.

Autor Matthew Portnoy ist als IT-Experte bei VMware beschäftigt, insofern wundert es nicht, das sein Fokus auf Lösungen von VMware liegt. Neben VMware ESX erläutert Portnoy auch die Konzepte und die Entstehung der alternativen Lösungen Citrix Xen und MS Hyper-V.

Das Buch besteht aus 14 Kapiteln, in denen der Autor die Grundlagen der Virtualisierung auf verständliche Weise erläutert. Dabei lernen die Leser nicht nur, was Hypervisoren und virtuelle Maschinen sind, sondern auch wie diese eingerichtet, verwaltet und verfügbar gemacht werden.

Der Autor stellt zwar drei Lösungen für Virtualisierungen vor, beschreibt aber die Unterschiede nicht systematisch. Eine Systemauswahl ist auf dieser Basis nicht möglich. Hilfreich wäre zum Beispiel eine tabellarische Gegenüberstellung der Merkmale gewesen. Bei den beschriebenen Funktionen bzw. Methoden ist nicht immer klar, auf welche Systemlösung sie sich beziehen.

Für ein Buch, das einen generellen Überblick über das Thema geben will, sind zu viele spezielle Masken und Arbeitsanleitungen enthalten, für ein Buch, das einen speziellen Überblick geben will, sind die Beschreibungen zu allgemein gehalten. Insofern stellt sich die Frage nach der Zielgruppe.

Die Fragen am Ende der jeweiligen Kapitel sind hilfreich, da sie dazu führen inne zuhalten und den Stoff zu reflektieren. Dabei zielen sie nicht darauf ab, Wissen abzufragen, sondern darauf, das Verständnis zu fördern. Auch das Glossar ist übersichtlich und prägnant.

Das Buch werden eher diejenigen lesen, die einen Überblick über das Thema erhalten möchten und weniger diejenigen, die sich mit einer speziellen Virtualisierungslösung auseinandersetzen müssen. Erstere können auf die vielen Masken und Konfigurationsbeschreibungen verzichten, Zweitere werden auf ein spezielles Fachbuch zurückgreifen, welches genau ihre Lösung beschreibt.

Bewertung vom 16.07.2016
Theorie der Unbildung (eBook, ePUB)
Liessmann, Konrad Paul

Theorie der Unbildung (eBook, ePUB)


sehr gut

Eine Streitschrift wider den Zeitgeist

Konrad Paul Liessmann setzt sich kritisch mit der Wissensgesellschaft und dem Reformeifer im Bildungsbereich auseinander. Er provoziert mit der Aussage, dass Unbildung die notwendige Konsequenz der Kapitalisierung des Geistes sei. Wie ist es heute um die Bildung bestellt? Findet der Wechsel von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft statt?

Im ersten Kapitel verdeutlicht der Autor den Unterschied zwischen lexikalischem Wissen und einem tiefgehenden Wissen um Zusammenhänge. Wenn es um Sinn, Bedeutung oder Zusammenhänge geht, so seine Erkenntnis, wird lexikalisches Wissen nicht weiterhelfen. Ist im Zeitalter einfacher Internetabfragen tiefgehendes Wissen noch erforderlich, um gesellschaftliche Anerkennung und wirtschaftlichen Erfolg verbuchen zu können?

Was hartnäckig Bildung genannt wird, orientiert sich an knallharten Wirtschaftsfaktoren, die jene Standards definieren, die der „Gebildete“ erreichen soll. Unter dieser Prämisse erscheinen Allgemein- und Persönlichkeitsbildung verzichtbar. In einer sich rasch wandelnden Welt scheint der Verzicht auf verbindliche geistige Traditionen zu einer Tugend geworden zu sein.

Die Konkurrenz zwischen Bildungseinrichtungen spielte sich bislang zwischen unterschiedlichen Weltdeutungen, Methoden und Modellen ab und zwar als Konkurrenz um Zugänge zur Wahrheit. Im Gegensatz dazu führt das betriebswirtschaftliche Ranglistendenken zu einer Gleichschaltung der Strukturen und letztlich der Kulturen.

Das Wissensmanagement agiert wie ein Betrieb und der Wissensmanager versucht, unabhängig von Wahrheits- und Geltungsfragen, herauszufinden, welche Art von Wissen sein Unternehmen zur Lösung seiner Probleme benötigt. Dass Universitäten, die über eine tausendjährige Erfahrung im Umgang mit Wissen verfügen, sich in ihrer Umstrukturierung an solchen Unternehmensideologien orientieren, hält der Autor für Dummheit.

Es ist Liessmann gelungen, gezielt zu provozieren. Das Buch enthält zahlreiche Thesen gegen den allgemeinen Trend, es liefert aber keine Antworten. Ich vermisse konstruktive Antworten auf die Zukunftsfragen der Bildungssysteme.

Bewertung vom 16.07.2016
Die Jenseitsmythen der Menschheit
Steinwede, Dietrich / Först, Dietmar (Hgg.)

Die Jenseitsmythen der Menschheit


gut

An was glauben Menschen?

Vor 100 000 Jahren begannen Menschen ihre Toten zu bestatten und die Gräber kunstvoll auszuschmücken. In fast allen Kulturen der Welt war der Glaube verbreitet, dass der Tod kein Ende sei, sondern ein Durchgang. Es entstanden Jenseitsbilder, die das Verhalten der Menschen geprägt haben. Dies geschah nicht immer zum Wohl der Menschen, sondern oftmals wurde ein Geschäft mit der Angst betrieben.

Es gibt grundsätzliche Unterschiede zwischen dem linearen Weltbild der Juden, Christen und Muslime und dem zyklischen Weltbild der Hindus und Buddhisten. Dem Glauben an „ein“ irdisches Leben und dem ewigen Leben als Erlösung steht ein irdischer Kreislauf von Wiedergeburten gegenüber, dem es gilt, durch „Befreiung“ oder „Verlöschen“ zu entkommen.

Was glauben die Menschen in anderen Kulturen? Dietrich Steinwede und Dietmar Först beschreiben nicht nur Glaubensvorstellungen der bekannten Weltreligionen, sondern beziehen ethnische Religionen ein. So erfahren die Leser etwas über sibirische Schamanen, über das Totenlied der Pygmäen und über das dreigestufte Weltbild der Eweer in Südtogo.

Die Jenseitsmythen werden in übersichtlichen kleinen Kapiteln beschrieben. Komprimiert auf 160 Seiten, erhalten die Leser einen leicht verständlichen Einstieg in eine vielfältige Thematik – nicht mehr und nicht weniger. Es handelt sich nicht um eine kritische Reflexion über das Verhältnis von Glaube und Wissenschaft oder über die Ursachen des Glaubens aus dem Blickwinkel der Evolution.

Bewertung vom 15.07.2016
Der Krankheitsermittler
Schäfer, Jürgen

Der Krankheitsermittler


ausgezeichnet

Ein Ärzteteam für schwierige Fälle

„Eine falsche Diagnose ist wie eine falsche Verdächtigung: Sie kann ratlos machen oder verzweifelt, wütend, hilflos, einsam.“ (17/18)

Jürgen Schäfer gibt Einblick in etwa ein Dutzend mysteriöse Krankheitsgeschichten. Diese erinnern teilweise an Fälle des ruppigen Fernseharztes Dr. House. Sie machen deutlich, wie schwierig die Diagnose bei seltenen Krankheiten sein kann. Autor Schäfer beschreibt die Fälle so, dass sie für Laien verständlich sind. Er lässt Perspektiven der Betroffenen, ihre Vorgeschichten und die Perspektiven der behandelnden Ärzte einfließen. Die Geschichten sind spannend aufbereitet. Es handelt sich nicht um Arztbriefe, sondern um mit wörtlicher Rede angereicherte Kurzgeschichten.

Der Autor trägt mit diesem Buch dazu bei, dass der Fokus auf seltene Krankheiten gerichtet wird. Er relativiert den Begriff „selten“ und erläutert, dass allein in Deutschland rund 5 % der Bevölkerung mehr oder weniger stark an einer seltenen Krankheit leiden. Dieser Bereich wird in der Forschung unterschätzt und in der Abrechnung vernachlässigt, wie der Autor deutlich macht.

Professor Schäfer ist Leiter eines speziellen Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen an der Universitätsklinik Marburg. Er möchte durch dieses Buch „auf unterhaltsame Art und Weise für ungewöhnliche Krankheiten sensibilisieren“. (10) Das ist ihm gelungen. Nicht nur aus der Danksagung am Ende des Buches geht hervor, dass der Autor ein humorvoller Mensch sein muss.

Bewertung vom 15.07.2016
Denkanstöße 2016

Denkanstöße 2016


sehr gut

Hintergründe – Perspektiven - Einsichten

Von den acht Aufsätzen der „Denkanstöße 2016“ habe ich vier ausgewählt, auf die ich kurz eingehe.

Ein Lichtblick sind die Erinnerungen von Frau Tietjen über die Demenz ihres Vaters. Wer die Krankheit aus seinem Umfeld kennt, weiß, dass Betroffene und Angehörige eine schwere Zeit durchmachen. Ihr gelingt es auf unnachahmliche Weise, die Erlebnisse humorvoll darzustellen und macht damit anderen Menschen in ähnlichen Situationen Mut.

Mutig sind auch die Ausführungen von Cornelia Stolze, die sich mit den Nebenwirkungen von Medikamenten beschäftigt. In der Pharmaindustrie geht es um sehr viel Geld und da werden negative Studien zu Lasten der Patienten schon mal unterschlagen. Auch sind viele Testverfahren insbesondere im Hinblick auf Dauerbehandlungen unzureichend. Die Autorin beschreibt systematische Mängel bei der Freigabe von Medikamenten und erläutert ein paar Fälle, die in der Vergangenheit in der Presse zu finden waren.

Jeanne Rubner macht deutlich, dass wir nur wenig über das menschliche Gehirn wissen und bei Erkrankungen des Gehirns im Nebel stochern. „Nach welchen Regeln das Gehirn arbeitet, wie es die Welt in seinem Inneren so abbildet, dass neue Erfahrungen und gespeichertes Wissen eine Einheit werden, wie wir zukünftige Handlungen planen – all das verstehen wir noch nicht einmal in Ansätzen.“ (148) Die Autorin macht an Hand von Beispielen deutlich, wie wir aus Erkrankungen lernen und dass psychische Krankheiten letztlich körperliche Leiden sind. Diese Erkenntnis hat sich auch heute noch nicht allgemein durchgesetzt.

„Dostojewskis Gelächter. Die Entdeckung eines Großhumoristen“ von Eckard Henscheid wirkt auf mich ein wenig abgehoben. In den Büchern, die ich von Dostojewski kenne (z.B. „Schuld und Sühne“), geht es primär um die tiefen Abgründe der menschlichen Seele und nicht um Humor. Das ist jedenfalls meine Wahrnehmung. Es mag sein, dass Dostojewski ein humorvoller Mensch war und der Autor als Dostojewski-Kenner diese Facette seiner Persönlichkeit im Fokus hat. Dennoch ist sein Beitrag mühsam zu lesen, selbst nicht humorvoll und spricht mich nicht an.

Meine Favoriten sind die Beiträge von Bettina Tietjen (über Demenz) und Cornelia Stolze (über die Nebenwirkungen von Medikamenten). Frau Tietjen überzeugt durch Offenheit und Frau Stolze durch ihren Mut, ein heikles Thema aufzugreifen. Letztlich gehören dazu auch eine Herausgeberin und ein Verlag, die das mittragen.

Bewertung vom 15.07.2016
In der Nähe des Meeres
Rasker, Maya

In der Nähe des Meeres


sehr gut

Zweifel an der Liebe

Die Zwillingsbrüder Job und Jona wohnen zusammen mit ihrer Mutter in einem Haus am Meer. Sie wachsen ohne Vater auf. Ihre Mutter ist eine gefeierte Schauspielerin. Die beiden Jungen sehen sich sehr ähnlich, unterscheiden sich aber in ihrem Verhalten und ihren Hobbys voneinander. Job ist interessiert und aufgeschlossen. Jona verbringt seine Zeit in der freien Natur und hat seltsame Sammelgewohnheiten. Die beiden Jungen sind aufeinander fixiert. Es gelingt ihrer Mutter nicht, in diese fast symbiotische Beziehung einzudringen. Eines Tages gibt sie Jona zu Pflegeeltern, mit der Begründung, er müsse zur Ruhe kommen und sie brauche mehr Zeit für Job. Mit dieser Entscheidung setzt sie eine dramatische Entwicklung in Gang, die niemand gewollt haben kann.

Der Roman gliedert sich in die zwei Hauptteile „Requisiten“ und „Monologe“. Der Begriff „Requisiten“ deutet darauf hin, dass die Autorin die Protagonisten des Romans als Figuren einer Inszenierung betrachtet, einer Inszenierung, deren Regisseur unbekannt ist. Die Erzählperspektive ist die des Zwillings Job. Der lineare Handlungsablauf wird durch Retrospektiven am Anfang und am Ende der Erzählung ergänzt. Ein Wechsel der Perspektive erfolgt in „Monologe“. Hier bezieht die Mutter in einer Art Gerichtsverhandlung zu ihrem Lebenslauf Stellung.

Die Beziehungen sind vielschichtig und die Charaktere widersprüchlich und tiefgründig. Jeder Versuch einer einfachen Deutung schlägt fehl. Die Autorin schreibt eindringlich, ohne endgültige Antworten zu geben. Sie umkreist die Themen „Liebe“ und „Leben“ und es wird deutlich, dass die Psyche des Menschen nicht ergründbar ist. Maya Rasker schreibt flüssig und verständlich. Trotzdem handelt es sich bei diesem Roman um schwere Kost.