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Magnolia
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Bayern

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Insgesamt 622 Bewertungen
Bewertung vom 23.08.2021
Skorpil, Clementine

Wo das Licht herkommt


ausgezeichnet

Philippine ist nur ein Mädchen und das bedeutet im 18. Jahrhundert, dass ihr Weg vorgezeichnet ist: Heiraten, Kinder kriegen und hier möglichst rasch einen Stammhalter gebären, Mädchen sind nicht so gefragt. Sie ist wissbegierig, will auf die Universität um zu lernen, zu studieren und zu forschen. Die Engstirnigkeit der Dörfler mitsamt ihrer Familie lässt dies niemals zu, also macht sich Philippine auf nach Wien, um da als Philipp ihren Traum zu verwirklichen. Sie erreicht viel, über Rom und Coimbra, wo sie sich über Medizin und Kartografie Wissen aneignet, schippert sie nach China. Zwischendurch lernt sie den jungen Adam kennen, der ihr Herz höher schlagen lässt.

Ein Cover zum Dahinschmelzen schön, zudem in edler Aufmachung, sehr ansprechend wie das ganze Buch. Der eindrucksvolle Schreibstil unterstreicht diese Schönheit, so anmutig und doch extravagant. Man merkt dem Roman an, je weiter man vordringt, dass Clementine Skorpil Sinologie und Geschichte studiert hat. Sie weiß genau, wovon sie schreibt und verpackt ihr Wissen geschickt in Philipps und/oder Philippines Werdegang. Sie, unsere Protagonistin, schreibt Briefe, die sie nicht abschickt, aber in dem Moment des Schreibens diese ihr doch ungemein über trübe Zeiten hinweg helfen. Um Identität geht es in diesem Roman, um Selbstfindung und Selbstverwirklichung. Findungsreich und zuweilen abenteuerlich kann dies sogar einer Frau damals gelingen.

Mo Lei von Moosleitner, wie Philippine mit Nachnamen heißt, soll sie sich nennen, sie aber weiß schon lange, dass sie Fei Lipu sein wird. Fei ist sie, die fliegen kann oder Herr Fei, der eine Flugmaschine bauen will. Auch wenn mir diese Welt im fernen China fremd ist, so war dies der krönende Abschluss eines so andersartigen, geheimnisvollen und interessanten Buches. Eine wundersame Reise vor beinahe 250 Jahren ins tiefste Innere. So geheimnisumwittert wie dieses riesige Land, dieses China, das wir Europäer wohl nie so ganz verstehen werden.

Ein konzentriertes Lesen fordert dieses Buch schon, so nebenbei mal schmökern - da bringt man sich um den Genuss und das wäre schade. Eine mutige junge Frau sucht und geht ihren Weg und ich bin gerne mit ihr ein entscheidendes Stück mitgegangen. „Wo das Licht herkommt“ von Clementine Skorpil heißt abtauchen in eine andersartige, fremde Welt und dann lesen, einfach lesen.

Bewertung vom 21.08.2021
Turton, Stuart

Der Tod und das dunkle Meer


sehr gut

Eine historische Fiktion, ein Kriminalroman mit phantastischen Zügen: „Der Tod und das dunkle Meer“ - großartig in Szene gesetzt von Stuart Turton.

Im 17. Jahrhundert ist die Saardam auf dem Weg von Batavia (das heutige Jakarta) zurück nach Amsterdam. Mit an Bord ist der Generalgouverneur Jan Haan und im Begriff, als einer der „Heeren XVII“ der Ostindien-Kompanie nachzurücken.

Von Anfang an steht das Schiff unter keinem guten Stern, es geschieht Unerklärliches. Ist es dem Untergang geweiht? Sollte es lieber gleich umkehren? Der „Alte Tom“ und das immer wiederkehrende, seltsame Symbol treiben ihr Unwesen. Ein Dämon schleicht sich ein – er wird immer größer und mächtiger. Sammy Pipps und Arent Hayes, der Spatz und der Bär, wollen diesen Teufel bezwingen, was gar nicht so einfach ist, fristet Sammy in Ketten sein dunkles Dasein auf diesem Schiff. Da Arent ihn unbedingt für seine Recherchen braucht, finden sie Mittel und Wege, Sammys Gefangenschaft wenigstens nachts zu unterbrechen.

Und dann ist eines schönen Tages eine wertvolle Fracht, von der nur wenige wissen - die Phantasterei - verschwunden. Eigentlich nicht möglich, war sie doch gut gesichert.

Diese dunkle Geschichte ist schon sehr blutrünstig, trotzdem brilliert sie, fesselt. Eine Mischung aus geheimnisvollem Thriller, Aberglaube und Verschwörung, Machtgehabe sehr viel Düsternis. Viele zwielichtige Gestalten und finstere Ecken auf dem Schiff lassen zuweilen eine kohlrabenschwarze Atmosphäre entstehen, die schon auch mittelalterlich anmutet. Was ja auch zeitlich durchaus hinkommt, wir schreiben exakt das Jahr 1634.

Stuart Turtons Schreibstil hat mich sofort gefangen, bis zum sehr überraschenden und ungewöhnlichen, nicht vorhersehbaren Schluss nicht mehr losgelassen. Ein Genre-Mix, der Lust auf mehr macht - sehr unterhaltsam und lesenswert.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.08.2021
Jonuleit, Anja

Das letzte Bild


ausgezeichnet

Gretchen hat Ursels Puppe die Haare abgeschnitten und nun droht Strafe. Da läuft sie lieber zu Geeske, die schimpft sie bestimmt nicht aus. Was das kleine Mädchen nicht weiß ist, dass sie ihre Familie nie mehr sehen wird.

Das Phantombild in der Zeitung, das die Germanistin und Schriftstellerin Eva gebannt anstarrt – ist das ihre Mutter? Gerade hat sie eine Biographie über eine Frau fertiggestellt, deren Leben mit den Schrecken des dritten Reiches verbunden ist. Dieses Zeitungsbild lässt ihr keine Ruhe, von ihrer Mutter erfährt sie dazu nichts, sie schweigt. Also beschließt Eva nach Norwegen reisen, um die Spur dieser Frau zurückverfolgen.

Ganz nah bin ich bei Eva, sie dringt immer tiefer ein in die Vergangenheit, legt Verborgenes offen. Die dramatische Wahrheit dringt an die Oberfläche und trotz mancher Ungereimtheiten gibt sie nicht auf. Die Autorin versteht es, Fiktion und Wahrheit meisterhaft zu verzahnen, so dass ein stimmiges Ganzes entsteht. Ein zweiter Erzählstrang nimmt den Leser mit ins Jahr 1970, auch hier gilt es, die Familie, die in den Kriegswirren auseinandergerissen wurde, wiederzufinden. Je weiter ich lese, desto mehr nähern sich das Gestern und das Heute an.

Anja Jonuleit hat mich mit ihren Büchern jedes Mal aufs Neue berührt, so auch mit diesem. Sie greift immer wieder sehr dunkle, bedrückende Themen auf und bereitet diese mit viel Sachkenntnis gut lesbar auf. Hier geht es um ein Familienschicksal, eingebettet in die weit verzweigten Einrichtungen der Lebensborn-Heime, die auch in Norwegen unheilvoll wirkten. Gekonnt bringt sie die fiktive Geschichte mit dem damaligen wirklichen Fall der Isdal-Frau, deren Identität bis heute ungeklärt ist, zusammen. Über diese Frau lesen wir im Anhang interessante und sehr informative Infos, die nochmal an das zuvor Gelesene erinnern.

„Das letzte Bild“ – Anja Jonuleit hat dieses gewohnt brillant recherchiert, exzellent erzählt, zudem ist es sehr unterhaltsam und spannend. Kurzum: Sehr lesenswert.

Bewertung vom 16.08.2021
Revedin, Jana

Flucht nach Patagonien


ausgezeichnet

Eugenia Errázuriz und Jean-Michel Frank sind die Hauptdarsteller bei dieser „Flucht nach Patagonien“. Eugenia, eine einflussreiche Kunstmäzenin, die bekannte Persönlichkeiten von Coco Chanel bis Pablo Picasso förderte, floh vor den immer stärker werdenden Nationalsozialisten aus Paris nach Chile auf ihren Familienbesitz in Patagonien. Ihr Reisebegleiter war der junge Jean-Michel Frank, dessen Lieblingsnichte Anne Frank war. Er war ein bedeutender Innenarchitekt und Möbeldesigner, dessen Auftraggeber bekannte Modeschöpfer wie etwa Elsa Schiaparelli waren, sie ließen ihre Studios von Frank gestalten. Alberto und Diego Giacometti entwarfen für ihn dekorative Objekte, Frank bevorzugte klare Linien, kombiniert mit luxuriösen und neuartigen Materialien. Sowohl seine Homosexualität als auch seine jüdische Abstammung machten ein Leben im damaligen Paris für ihn unmöglich.

Auf dem Schiff beginnt die Reise zweier interessanter Persönlichkeiten, die rückblickend das unkonventionelle Künstlermilieu in Paris beschreibt. Zwischendurch erhaschen wir einen Blick in die Prinsengracht nach Amsterdam zu Anne Franks Familie, verfolgen Jean-Michels Fluchthilfe für all seine jüdischen Mitbürger.

Im Epilog werden nochmals bekannte Fakten durchleuchtet. Alle Protagonisten und Schauplätze sind authentisch, die zu lesenden Ereignisse und Gespräche natürlich fiktiv, aber wer weiß… Daraus hat Jana Revedin ein rundes Ganzes geschaffen, sehr informativ und ausdrucksstark. Im Rahmen dieser Flucht von Paris über Buenos Aires nach Patagonien begegnen wir so einigen historischen Persönlichkeiten wie etwa dem jungen Walt Disney oder Amelia Earhard, die mit ihrer Lockheed Electra auf Weltumrundung war und seitdem als verschollen galt, auch Eleanor Roosevelt hat ihren Auftritt.

Ein Wort zum gelungenen Cover: Auf dem Schiff treffen wir auf unsere Protagonisten, hier beginnt ihre Reise, ihre Flucht. Die Frau auf der Reling – perfekt in Szene gesetzt.

Dieser biographische Roman hat mich in eine Welt eintauchen lassen, die zum einen faszinierend und zugleich schrecklich war. Zwei Persönlichkeiten, mit denen ich ein unrühmliches Stück Zeitgeschichte hautnah erleben konnte. Eine außergewöhnliche Freundschaft, von Jana Revedin gut lesbar dargeboten.

Bewertung vom 15.08.2021
Rinke, Moritz

Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García


sehr gut

Lanzarote, die Insel der hundert Vulkane, ist die Heimat von Pedro, dem Postboten, der immer weniger zu tun hat seit der Erfindung des Internets. Keiner schreibt mehr Briefe, lediglich Werbung fährt er noch aus. Mit seiner Dienst-Honda muss er so tun, als ob er seine Dienstroute Tag für Tag abfährt, er gönnt sich dreimal wöchentlich einen Cafe con leche bei Alberto in der Hafenbar in Orzola im Norden der Insel.

Seinem Sohn Miguel ist er ein liebevoller Vater, während Carlotta, seine Partnerin, immer weniger zuhause ist. Nach einem Sturz mit der Honda landet Miguel im Krankenhaus. Daraufhin verlässt Carlotta Pedro, was sie eigentlich sowieso schon lange wollte, also zieht mit Miguel nach Barcelona, verweigert Pedro jeglichen Kontakt. Für ihn bricht seine heile Welt in Stücke aber Pedro will nur eines – seinen Sohn glücklich sehen. Alle Briefe, alle Pakete an ihn kommen ungeöffnet zurück.

Moritz Rinke hat mit Pedro einen liebenswerten Akteur geschaffen, den man gleich ins Herz schließt. Einen durchgeknallten Freund hat er auch – Tenaro mit seinen großartigen Ideen, immer dem großen Geld hinterher, immer kurz vor dem Durchbruch. Der dritte im Bunde ist Amado, ein Flüchtling, der sich ihm als Präsident eines Landes auf einem Berg vorstellt.

Ein leises Buch, charmant mit etwas chaotisch verpeilten Charakteren. Pedro kommt mir manchmal vor, als ob er zu gut für die Welt wäre, zu gutgläubig und menschenfreundlich, immer gefällig und für andere da. Wenn er sein Herz verschenkt, will er es nicht mehr zurück haben. Anrührend und herzerwärmend beschreibt der Autor seine Figuren. Sympathisch, ein wenig konfus aber nie böse oder nachtragend sind sie, sie alle wollen immer nur das Beste.

Liebe, Verlust und Hoffnung, Familie und Freundschaft sind gut eingebettet in Pedros Geschichte wie auch die fortscheitende Digitalisierung und ihre Folgen, das immerwährende Flüchtlingsproblem und – natürlich – Fußball mit Miguels absolutem Idol Lionel Messi.

Gerne bin ich diesem „…längsten Tag im Leben des Pedro Fernandez Garcia“ gefolgt, bin der Cafe-con-leche-Route oder der Nobelpreisroute gefolgt, aber auch der Small-Talk-, der Europaroute wie der Nudistenroute. Ja, so haben alle Strecken auf dem Weg des Postboten ihren namengebenden Sinn. Verrückte Dinge tun, Freundschaft spüren und das große Glück, einen Sohn wie Miguel zu haben – Pedros unendliche Liebe zu seinem Sohn ist in jedem Satz spürbar, es trifft einen mitten ins Herz, mit jeder Zeile, jedem Wort.

Moritz Rinke ist eine hinreißende Geschichte gelungen mit viel Liebe zum Detail, witzig, traurig und doch hoffnungsvoll. Gut erzählt, sehr lesenswert.

Bewertung vom 12.08.2021
Druart, Ruth

Ein neuer Morgen für Samuel


ausgezeichnet

Sam (Samuel) ist ein glückliches Kind, lebt mit seinen Eltern Jack (Jean-Luc) und Charlie (Charlotte) in den USA, als eines Morgens sein Vater abgeholt wird. Kindesentführung wird ihm zur Last gelegt. Damals, 1944 in Frankreich was er, Jean-Luc, Gleisarbeiter und musste die Judentransporte mit ansehen. Eine Frau mit Baby kam auf ihn zu, sie hatte nur noch wenig Zeit, wurde weitergepeitscht: „Wer sind Sie? Sie sind kein Gefangener… Bitte nehmen Sie mein Baby mit! Sein Name ist Samuel.“

Um das Schicksal des 9jährigen Samuel rankt sich dieses so emotionale Buch. Wir durchleben seine Geburt, das kurze Babyglück von Sarah und David, Sams leibliche Eltern und die schwerste Entscheidung, die sie zum Wohle ihres Kindes treffen mussten, ihn in die Obhut eines Fremden zu geben und darauf zu vertrauen, das Richtige getan zu haben. Dann die gefährliche Flucht von Jean-Luc und Charlotte mit Samuel, ihr Angekommen-sein in Santa Cruz, bis die Behörden tätig werden, um Jean-Luc anzuklagen. Und Sarah und David in Frankreich, grad mal so dem KZ entkommen, hatten währenddessen nichts unversucht gelassen, ihren Sohn wiederzufinden.

Aus Sicht der Zieheltern, die Sam als seine wirklichen Eltern ansieht, mit ihnen glücklich ist und aus der Perspektive seiner leiblichen Eltern Sarah und David sieht sich der Leser mit der Tatsache konfrontiert, dass nicht immer das Wohl des Kindes berücksichtigt wird. Verständlich sind beide Seiten, nur sollte Sam im Vordergrund stehen, vorher überlegt werden, wie schnell eine Kinderseele kaputt gemacht werden kann.

Mich hat Sams Geschichte sehr mitgenommen, so viel Leid wäre ihm und auch allen Beteiligten erspart geblieben, wenn die Erwachsenen nicht nur sich gesehen hätten, ihren Willen um jeden Preis durchsetzen wollten. In der ersten Hälfte lernen wir Sam und sein Umfeld in Santa Cruz kennen, er ist ein zufriedener Junge, der seine Eltern liebt, Freunde hat, gut zurechtkommt. Später dann sind wir mehr bei Sarah in Paris, deren unstillbare Sehnsucht nach ihrem Kind durchaus nachvollziehbar ist.

Wie hätte ich gehandelt? Wessen Standpunkt ist nachvollziehbar, wie sollte man umgehen mit dieser so schwierigen, schier ausweglosen Situation? Das Wohl des Kindes darf nicht zugunsten eigener Sehnsüchte geopfert werden - was ist richtig, was falsch? Ist das, was rechtens ist, auch moralisch vertretbar? Dazu kommt die Judenfrage, die im Jahre 1944 alles überschattet. Und – kann und darf ein 9jähriger selber entscheiden, wo er leben möchte?

Behutsam und sehr anrührend beschreibt die Autorin Samuels Weg. Bald war ich so tief drin im Geschehen, dem ich mich das ganze Buch über nicht mehr entziehen konnte. War in Paris 1944 bei den Gleisarbeitern, die genau wussten, wohin all diese überfüllten Güterzüge führten, das unendliche Leid der halb verhungerten Juden im Konzentrationslager, die Flucht über die Pyrenäen – all dies war so authentisch geschildert, so überzeugend dargelegt, als ob man als Leser direkt dabei wäre.

Die Charaktere haben mich beeindruckt, andere mich wütend gemacht. Sie waren glaubwürdig, hatten Ecken und Kanten, waren ungerecht und selbstherrlich, aber auch sehr human und selbstlos. Eine schicksalhafte Geschichte, die aufwühlt, die mitreißt. Das Leben ist nicht immer so, wie man es wünscht, es nimmt zuweilen unangenehme Abzweigungen und manches Mal möchte man ob des als ungerecht empfundenen Schicksals verzweifeln.

Ich bin sehr angetan von der Erzählkunst Ruth Durants. „Ein neue Morgen für Samuel“ ist mitreißend erzählt, ein erschütterndes und zugleich anrührendes Stück Zeitgeschichte. Gerne empfehle ich dieses Buch weiter.

3 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.08.2021
Hancock, Anne Mette

Narbenherz / Heloise Kaldan Bd.2


ausgezeichnet

Mit „Narbenherz“ legt Anne Mette Hancock den zweiten Fall um das ungleiche Duo aus Investigativ-Journalistin Heloise Kaldan und Erik Schäfer, ermittelnder Kommissar in diesem spannungsgeladenen Thriller, vor.

Eine schwerwiegende persönliche Entscheidung steht an - Heloise stellt ihr Privatleben gerne hinten an, diesmal jedoch drängt die Zeit, es ist unaufschiebbar. Von ihrer besten Freundin Gerda, einer Militärpsychologin, erfährt sie, dass der zehnjährige Lukas Bjerre aus dem Schulhort verschwunden ist. Heloise wird hellhörig, zumal Schäfer die Ermittlung leiten wird. Dabei verdrängt sie ihr persönliches Problem, die Journalistin in ihr will es wissen.

Bald schon tauchen so einige Figuren auf, denen nicht zu trauen ist. Sei es Finn, ein nicht ganz heller Kopf, der den Kindern Obst schenkt. Der Apfelmann wird er genannt. Da ist ein Erzieher, der sich mehr für Jungs zu interessieren scheint, außerdem ziemlich auffällig gestylt ist. Toke, ein Mitschüler, vor den sich alle fürchten, spielt wohl auch eine Rolle. Lukas Eltern verhalten sich auffällig, scheinen etwas zu verbergen und wer ist Kiki? Lukas auffällige Jacke, sein Schulranzen und noch so einiges mehr werden gefunden aber von dem Jungen – keine Spur.

Erst ganz zum Schluss ist alles geklärt, bis dahin legt die Autorin geschickt falsche Fährten, über die einzelnen Charaktere ist schnell mal ein Urteil gefällt. Von Lukas tröpfelt immer wieder eine Information herein, aus der man nicht so recht schlau wird, ihn jedoch plötzlich ganz anders wahrnimmt. Ein Verwirrspiel, in dem noch so einige Personen auf der Bildfläche erscheinen – deren Leben, ihr Hintergrund sind mysteriös, ein jeder könnte Lukas entführt, ihn vielleicht sogar ermordet haben. Und die Frage, ob Lukas denn rechtzeitig gefunden wird, steht immer im Raum.

Das Verschwinden eines Jungen, undurchsichtig, mit nicht vorhersehbaren Wendungen und ein Kommissar, dessen gute Bekannte Heloise nicht anders kann, als mitzuermitteln, stehen im Mittelpunkt. Einzig das private Prozedere um Heloise und Martin, ihrem Freund, war ein Zuviel des Guten. Ansonsten ein fesselnder Thriller, der seinem Vorgängerband „Leichenblume“ in nichts nachsteht. „Grabesstern“, den dritten Band dieser Reihe, lasse ich mir natürlich nicht entgehen.

Bewertung vom 12.08.2021
Stonex, Emma

Die Leuchtturmwärter


ausgezeichnet

Emma Stonex nimmt ihre Leser mit auf einen Leuchtturm an die Küste Cornwalls. "Ein Fischer hat einmal gesagt, das Meer habe zwei Gesichter. Man müsse sie annehmen... das gute wie das böse, und darf keinem von beiden den Rücken zuwenden."

Jory kennt das Meer wie seine Westentasche – heute ist es spiegelglatt. Heute werden sie hinausfahren, hinaus auf den Maiden Rock, dem Turm im Meer. Das Anlanden dauert, endlich erreichen sie die Tür, die jedoch von innen abgeschlossen ist. Die Stahlplatte muss aufgebrochen werden, drinnen sehen sie, dass der Tisch für zwei gedeckt ist, sie aber waren drei Mann. Warum? Eine der vielen Fragen, die nicht beantwortet werden kann. Das Ölzeug der Männer hängt am Haken, die beiden Wanduhren sind stehengeblieben: Viertel vor neun zeigen sie an – ein Zufall? Ein Mysterium, das auch zwanzig Jahre später nicht geklärt ist. Ein Schriftsteller nimmt sich der Geschichte an, will von den Frauen mehr wissen. Sie jedoch haben zwar ihre Vermutungen, aber sie wissen nichts.

Emma Stonex entführt ihre Leser in eine Zeit, in der die Leuchttürme noch nicht automatisiert waren. Ihre fiktive Geschichte lehnt sich an das spurlose Verschwinden dreier Männer von einem Leuchtturm, deren Verbleib nie aufgeklärt wurde, an. Sie erzählt ihre Geschichte einmal aus Sicht der Wärter. 1972 war ihr letztes Jahr auf dem Leuchtturm, sie mussten klarkommen mit dem mitunter sehr stürmischen Meer, waren auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen, mussten sich über viele Wochen ergänzen, sich aufeinander verlassen können. Es war kein leichtes Leben, auch wenn sie viel Zeit hatten, ein Tag war lang. Trotzdem musste rund um die Uhr einer da sein, das Meer und die Schiffe beobachten und diese leiten. Zwanzig Jahre später sind die Frauen an der Reihe, jede hat ihre eigene Betrachtungsweise auf damals, hat ihre eigenen Erklärungen. Der Leser lernt Helen, Jenny und Michelle immer besser kennen und im Laufe des Buches hat sich meine Einstellung ihnen gegenüber grundlegend geändert. Von den Wärtern Arthur, Bill und Vincent erfährt der Leser viel, ihre Gemütsverfassung, ihre Lieben, ihre Abneigungen sind bald vertraut, man schätzt den einen mehr, verurteilt das Tun des anderen. Ihre Vergangenheit wird nach und nach sichtbarer, keiner kommt ungeschoren davon. Ihre Ängste und Sehnsüchte, ihre Beziehungen, die erlittenen Verluste – all das kommt zur Sprache.

Eine zuweilen mystische Atmosphäre herrscht im Turm, der man sich als Leser nicht entziehen kann. So etliche Szenen sind geheimnisvoll, unerklärbar angelegt, dass man Schein und Sein nur erahnen kann, wenn überhaupt. War das wirklich so oder bildet man sich das nur ein? Diese illusorischen Momente mochte ich sehr, die Perspektiven wechseln vom Gestern zum Heute. Mit viel Gespür führt die Autorin durch ihre Geschichte, lässt viel Spielraum für Vermutungen.

Das Ende kam zu abrupt, einer Auflösung hätte es nicht bedurft. Hier, und nur hier, war ich etwas enttäuscht. Mir hätte es sehr viel besser gefallen, wenn all diese Mystik in der Schwebe geblieben wäre. So wäre der nicht ganz greifbare, ja surreale Charakter erhalten geblieben.

Diese Erzählung ist wie eine gewaltige Woge, unbezwingbar wie das Meer, das so manches mit sich reißt - und mich hat dieser außergewöhnliche Roman mitgerissen. Ein Leseerlebnis, das nachhallt.

Bewertung vom 09.08.2021
Krause, Robert

Dreieinhalb Stunden (MP3-Download)


ausgezeichnet

Der Interzonenzug verlässt am 13. August 1961 München mit Ziel Ostberlin. Unter den Reisenden kursiert das Gerücht, dass die Grenze geschlossen werden sollte, eine schwerwiegende Entscheidung steht an: Lieber hier bleiben, im Westen, dem alten Leben endgültig den Rücken kehren oder doch wieder zurück in die vertraute Umgebung mit ungewisser Zukunft. Was tun?

Diese ungekürzte Hörbuch-Ausgabe von „Dreieinhalb Stunden“ habe ich sehr genossen, bin dank der beiden Erzähler Tanja Fornaro und Robert Frank, die abwechselnd lesen, ganz tief in diese Geschichte abgetaucht, habe mich zurückgelehnt und ihren Stimmen und Stimmungen gelauscht. Sie vermitteln all die Emotionen sehr gut nachvollziehbar. Ihnen gelingt es mühelos, den einzelnen Figuren Charakter und Persönlichkeit zu geben, ihnen Leben einzuhauchen.

Das Gerücht um den unmittelbar bevorstehenden Mauerbau macht im Zug die Runde, die Stimmung kippt, jeder einzelne Reisende muss eine Entscheidung treffen, die sein künftiges Leben nachhaltig prägen wird. Die zunehmende Panik konnte ich gut heraushören. So, als ob ich mittendrin wäre, eine der Mitfahrenden. All die hochkochenden Gefühle, die emotionale Erregtheit waren greifbar, direkt hör- und spürbar.

Robert Krause, der Autor, versteht es aufs Vortrefflichste, diese sehr beklemmende, trübe Stimmung festzuhalten. Die bedrückende Atmosphäre konnte ich beim Hören deutlich spüren, beiden Sprechern ist es gelungen, dieses Zeugnis deutsch-deutscher Geschichte wohltemperiert und authentisch zu präsentieren. Jede einzelne Figur hat ihre Wesensmerkmale und obwohl es doch so einige Reisende sind, sind sie sehr gut zu unterscheiden. Jeder von ihnen muss sich entscheiden, hat seine Argumente und außerdem drängt die Zeit. Es werden etliche Schicksale eingefangen, die Fassade bröckelt zusehends. Marlies etwa wusste schon vorher davon, ihr Vater Paul ist Offizier bei der Berliner Volkspolizei. Aber sagt sie etwas? Gerd, ihren Mann, will sie nicht einweihen, denn sie fürchtet, dass er hier bleiben will, die beiden Kinder dürfen auch nichts mitbekommen. So nimmt das Unvermeidliche seinen Lauf. Nicht nur Marlies, auch Gerd übt sich in Heimlichkeiten, die so harmonische Familie droht zu zerbrechen. Eine Musikband will zurück in den Osten, sie haben ihre ganz eigenen Probleme, die Vergangenheit, die Lebensentwürfe werden ausgebreitet, nichts was zur Sprache kommt ist schön, Vertrauen schwindet. Ein westlicher Kommissar ist in ganz anderer Mission hier und auch seine Ermittlungen fördert Verborgenes zutage.

Die Grenze kommt näher, eine Entscheidung muss getroffen werden. Alle Schicksale werden durchleuchtet, es kommt nie Langeweile auf. Man fiebert mit den einen und kann die anderen so gar nicht verstehen, diese wenigen Stunden haben es in sich. Eine sehr bewegende Zeitreise in die unschöne deutsche Vergangenheit wird sehr lebendig dargestellt, aufs vortrefflichste erzählt.

Der bekannteste Satz von Walter Ulbricht vor dem Mauerbau vor 60 Jahren „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ war eine große Lüge, vergessen wird er wohl noch lange nicht sein. Robert Krause nimmt sich des Themas an und legt mit „Dreieinhalb Stunden“ ein beeindruckendes Zeugnis deutsch-deutscher Geschichte vor.

Wie würde man selber entscheiden, hätte man seine Wurzeln im Osten, müsste vieles und Viele zurücklassen? Eine Entscheidung, die endgültig ist. Ein Stück deutsch-deutscher Geschichte wird hier sehr lebendig erzählt. Ihre Schicksale haben mich berührt, aufgewühlt und traurig gemacht. Gekonnt und sehr lebendig in Szene gesetzt hat Audible Hörbuch mit seinen beiden Sprechern daraus einen absoluten Hörgenuss gezaubert, den ich uneingeschränkt weiterempfehlen kann.

Bewertung vom 08.08.2021
Minck, Lotte

Ein Männlein liegt im Walde


ausgezeichnet

Es klingelt – eine Reifenpanne hat die Unbekannte. Natürlich hilft Dennis, ist gleich zurück. Aber wer nicht wieder heimkommt, ist er. Loretta muss hinaus, ihn suchen und wo findet sie ihn? Im Wald, am Boden liegend, bewusstlos. In der Hand ein blutiges Messer. Nicht weit weg liegt ein Toter, offenbar erstochen. Was ist passiert? „Ich habe keine Ahnung“ meint Dennis später.

Einige Tage vorher steht Miri, der angehende Stern am Influencer-Himmel, vor Dennis Tür und behauptet, seine Tochter zu sein. Vor zwanzig Jahren auf Ibiza war alles so locker, Angie, ihre Mutter, erinnert sich gerade jetzt an Miris Vater und nun ist alles Friede-Freude-Eierkuchen. Wenn da nicht dieser Tote wäre und Dennis verhaftet wird, was Loretta so gar nicht gefällt. Sie ermittelt, die Polizei meint ja, den Schuldigen eh schon eingesperrt zu haben.

Hinreißend, wie Loretta mit ihren Freunden die schon sehr unbedarfte Influencerin Miri vorführt zusammen mit deren Freund TocTocSeven, der vor lauter Kraft kaum gehen kann. Auch er steht kurz vor dem Durchbruch (meint er) mit seiner Band, er rappt, was das Zeug hält. Natürlich über seine Erlebnisse und genau da kann die clevere Loretta ohne Schwierigkeiten andocken.

Eine etwas schräge, aber sehr unterhaltsame Krimikomödie ist ausgelesen. Loretta und ihre Freunde kannte ich bis jetzt noch nicht, werde sie aber im Auge behalten. Herrlich, diese flapsigen Sprüche. Ein unterhaltsamer Krimi mit einem gehörigen Schuss Ironie, exzellent in Szene gesetzt. Mein erster Loretta, aber nicht mein letzter.