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Igelmanu
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Mülheim

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Insgesamt 1033 Bewertungen
Bewertung vom 23.07.2017
Hanewald, Roland

Reise Know-How Nordseeinseln Deutschland


ausgezeichnet

Es gibt bekanntlich eine ganze Menge Inseln in der Nordsee. Wer sich schon mal gefragt hat, wie die sich eigentlich unterscheiden, was das Besondere an den einzelnen Inseln oder Halligen ist und welche davon als persönliches Reiseziel in Frage kämen, findet hier die passenden Antworten.

Das Buch startet mit praktischen Reisetipps, informiert über Kurtaxe, sicheres Baden, Essen und Trinken und die diversen gesundheitlichen Pluspunkte des Reiseziels. Daran schließt sich ein umfangreicher Infoteil über die Natur, Wind und Wetter, Umwelt, Mensch und Tier an, der auch auf die Geschichte der Region eingeht, natürlich das Wattenmeer thematisiert und einen sprachlichen Exkurs bietet.

Derart in Stimmung gebracht, kann man sich auf eine vollständige und sehr detaillierte Abhandlung der einzelnen Inseln freuen. Da fehlt wirklich nichts. Angefangen von der Geschichte der Insel über genaue Karten, Sehenswürdigkeiten, Naturschutzgebiete, Besonderheiten der Flora und Fauna, Adressen und Telefonnummern von Infozentren und Ärzten, Tipps für Unterkünfte und Gastronomie, Sport, Unterhaltung, Ausflüge, Fährverbindungen usw. Der Infopunkt „Kinder“ zählt Kinderspielplätze auf, nennt Kindergärten, die auch Gästekinder betreuen, informiert über Spielhäuser, Beschäftigungsprogramme, die Öffnungszeiten von Wellenbädern, Babysitter-Dienste und anderes.

Zur Auflockerung sind immer wieder lesenswerte Exkurse eingestreut, die Informatives zu den verschiedensten Themen bringen, manchmal aber auch schlicht unterhaltsam sind. Letzteres trifft beispielsweise auf die „Juister Badeverordnung vom 17. Juli 1882“ zu.
»§1 Der Badeplatz der Herren ist von dem der Damen getrennt; beide Plätze sind durch Tafeln mit „Herrenstrand“ bzw. „Damenstrand“ bezeichnet. Der Raum zwischen beiden Tafeln darf zum Baden nicht genutzt werden.«

Fazit: Klasse Handbuch, da bleibt kein Wunsch offen. Umfangreiche Infos, sehr stimmungsvoll rübergebracht.

Bewertung vom 23.07.2017
Ackerman, Jennifer

Die Genies der Lüfte


ausgezeichnet

Genies? Vögel? Wie hat der Mensch diese Spezies doch lange Zeit unterschätzt! Man schaue sich alleine die Vielzahl menschlicher Ausdrücke für Dummheit an, da trifft man auf „der hat eine Meise“, sie ist „eine dumme Pute“, man spricht von „Spatzenhirnen“ und von „bei dem piept’s wohl“. Intelligenz ist doch außer beim Homo Sapiens nur etwas für Primaten und Delfine. Oder?

Dieses Buch beweist das Gegenteil. Jennifer Ackerman hat sich – wenn man die Danksagungen und Quellen betrachtet – mit gefühlt jedem Vogelexperten auf der Welt beraten, ihre Forschungen zu Hilfe genommen und ausgewertet. Herausgekommen ist ein Buch, das sich wunderbar leicht liest und dazu den Leser in einen Zustand permanenten Staunens versetzt.

Der Leser darf sich auf eine Reise rund um den Globus freuen, zu den unterschiedlichsten Vogelarten in den unterschiedlichsten Lebensräumen. Und dabei gibt es immer wieder beeindruckende Fähigkeiten zu bewundern. Das können überraschende mathematische Leistungen sein, enorme (und für unseren Verstand unerreichbare) Gedächtnisleistungen oder phantastische Möglichkeiten im Bereich der Orientierung. Aber auch die Nutzung und Herstellung von teils aufwändigen Werkzeugen, Problemlösungsstrategien, Anpassungsleistungen und sprachlichen (Gesang) Kunstfertigkeiten, sowie soziales Verhalten, Einfühlungsvermögen und künstlerisches Verständnis. Die Liste ist lang und beim Lesen der einzelnen Kapitel beschleicht einen der Eindruck, dass es kaum etwas gibt, was nicht irgendeinem Vogel auf der Welt möglich sein soll. Ich bin auf so viele faszinierende Dinge gestoßen, dass ich ständig meinen Mitmenschen Abschnitte vorlesen musste ;-)

Die Autorin hat wirklich viel zu erzählen und das tut sie in einer sehr angenehmen Art. Die einzelnen Kapitel befassen sich mit speziellen Fähigkeiten, da geht es beispielsweise um „technische Hexereien“, „soziales Talent“, „vokale Virtuosität“, „ästhetische Artistik“ oder „räumliche und zeitliche Findigkeit“. Ganz bezaubernde schwarzweiße Zeichnungen von Vögeln leiten jedes neue Kapitel ein. Die hochwertige Aufmachung des Buchs mit schönem Cover und Lesebändchen machen es auch zu einem tollen Geschenk für jeden Vogel- /Naturfreund.

Am Ende klappt man das Buch zu und staunt immer noch. Die letzten Jahre haben im Bereich der Vogelforschung wirklich Erstaunliches zutage gebracht! Trotzdem verbleiben viele Rätsel, vielen Entdeckungen kann man bislang lediglich mit Mutmaßungen begegnen, ist noch weit davon entfernt, sie erklären zu können. Vielleicht gibt es in einigen Jahren ein „Update“ zu diesem Buch? Ich bin gespannt!

Fazit: Lesen und Staunen! Ein wirklich großartiges Buch für jeden Vogel- und Naturfreund.

»Ich gehe näher heran, und da ist der Vogel, sitzt auf einer Kiefer und verkündet seine Diie-Diie-Litanei; vielleicht mustert er mich, schätzt mich ein. Ich muss nur an die außerordentliche Menge an Talent denken, die sich in diesem winzigen Federflausch versteckt, um vorbehaltlos über das rätselhafte Wissen der Vögel zu staunen – sein Was und sein Warum. Welch wunderbare Mysterien warten da auf unser geistiges Bücherregal und erinnern uns daran, wie wenig wir immer noch wissen.«

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.07.2017
Hilmes, Oliver

Liszt


sehr gut

»Franz Liszt war ein Superstar, ein Genie, eine europäische Berühmtheit, kurzum: eine absolute Ausnahmeerscheinung. Bereits als Wunderkind faszinierte er in Wien, Paris und London sein Publikum. In späteren Jahren bereiste er ganz Europa und trieb seine Karriere in schwindelerregende Höhen. … Die Begeisterung, die er mit seinen Auftritten auslöste, steigerte sich mitunter ins Delirium, und Franz Liszt war auch eine Projektionsfläche für erotische Fantasien und geheime Sehnsüchte.«

Liebestraum Nr. 3 – das war das, was mir beim Gedanken an Franz Liszt stets als erstes durch den Kopf ging. Häufig hatte ich ihn von meiner klavierspielenden Mutter gehört und immer wieder hatte sie erzählt, wie anspruchsvoll Liszt‘ Werke zu spielen sein. Als ich nun dieses Buch sah war ich gleich neugierig, mehr über diesen Pianisten und Komponisten zu erfahren.

Oliver Hilmes schildert alle wichtigen Stationen im Leben der „absoluten Ausnahmeerscheinung“. Angefangen beim Wunderkind, das schon in frühen Jahren in der Lage war, absolut jedes Stück, das ihm in die Finger kam, vom Blatt weg zu spielen und das über Jahre hinweg mit dem Vater von einem Konzert zum nächsten hetzte. Das früh zum Großverdiener wurde, als Genie und „neuer Mozart“ bezeichnet wurde.
Weiter geht es über die Entstehung eigener Kompositionen und die Entwicklung seines ihm eigenen Klavierstils über seine höchst produktiven „Wanderjahre“, die Zeiten als Kapellmeister in Weimar und als gewissermaßen Kontrastprogramm sein Leben als Abbé in Rom bis hin zum tragischen Ende.

Einen großen Umfang nehmen die Schilderungen seiner diversen Beziehungen ein. Liszt war – wie schon gesagt – ein früher Popstar, verehrt und angehimmelt. Nie war es für ihn schwer, neue Damenbekanntschaften zu machen und diesen Zustand genoss er sichtlich. Der Autor betont, im Gegensatz zu anderen Biographien, in denen Liszt als „sittenstreng und keusch“ idealisiert wurde, hier eindeutig die sexuelle Komponente. Trotzdem erschien mir sein Charakter als recht interessant und sensibel, mal arrogant und unversöhnlich, dann wieder harmoniebedürftig und leicht manipulierbar. Ein Mann der Gegensätze? Oder einer, der sein wahres Gesicht immer wieder hinter Masken verbarg? Man kann nur spekulieren. In die gleiche Schiene gehört sein manchmal extrem wirkender Katholizismus, der aber immer wieder im klaren Widerspruch zu seinem Verhalten stand.

Was ich ebenfalls sehr interessant fand, war Liszt‘ Verhältnis zu Richard Wagner, seinem Schwiegersohn. Eine komplizierte Beziehung, nicht selten eine Hassliebe. Ein echter Wagner-Fan wird vielleicht nicht gerne lesen, wie stark dessen Werk durch Liszt beeinflusst war. Und die Art und Weise, wie er mit seinen Kindern (und später Tochter Cosima mit ihm) umging, umfasst die ganze Bandbreite an Emotionen.

So spannend diese diversen Beziehungen auch waren, manchmal wurden mir die Schilderungen ein wenig zu umfangreich. Ich hätte nicht jeden einzelnen Schriftwechsel gebraucht, vieles hätte gekürzt immer noch die passende Information vermittelt. Andererseits könnte die Ausführlichkeit in diesen Punkten Romanfreunden entgegenkommen.

Vom Stil her liest sich das Buch gut und flüssig und verfügt über reichlich Fotos, Zeichnungen und Abbildungen beispielsweise von Briefen oder Notenblättern. Im Anhang findet sich neben den Anmerkungen und Quellenangaben auch ein Personenregister, das ich, da es wirklich sehr viele Namen im Buch gibt, immer mal wieder eingesehen habe.

Fazit: Unterhaltsam und informativ, für meinen Geschmack hätte es bei der Schilderung der diversen Beziehungsproblematiken Kürzungspotential gegeben.

Bewertung vom 27.06.2017
Zoo - Heinroth, Katharina

Mit Faltern begann`s. Mein Leben mit Tieren in Breslau, München und Berlin.


sehr gut

»Kurze Zeit darauf wurde mir in einer Aufsichtsratssitzung ein Schreiben … vorgelegt. Er bat um Ablösung der jetzigen Leitung; zwar könne man es Frau Dr. Heinroth nicht übelnehmen, wenn sie keinen Überblick hätte, aber da gehörte eben ein Mann hin.«

Der Posten, um den es geht, ist der eines Zoodirektors. Katharina Heinroth war von 1945 – 1956 Direktorin des Berliner Zoos. Sie war die erste Zoodirektorin Deutschlands und noch heute zählt der weibliche Zoodirektor als Exot.

Katharina Heinroth wurde 1897 als Katharina Berger in Breslau geboren. Schon als kleines Mädchen standen für sie Lebewesen aller Art im Mittelpunkt des Interesses, ihr weiterer Weg führte sie über ein Studium der Zoologie und diverse Forschungsprojekte zum Berliner Zoo, den sie zwölf Jahre lang leitete. Unter ihrer Leitung wurde der schwierige Wiederaufbau des im 2. Weltkrieg fast komplett zerstörten Zoos betrieben. Für diese Leistung erhielt sie 1957 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Auch nach ihrer Pensionierung blieb sie weiter aktiv, unter anderem im Tierschutz.
In dieser 1979 erschienenen Autobiographie berichtet sie ausführlich von den vielen Krisenzeiten und Tragödien in ihrem Leben, die sie mit Hilfe ihres Wahlspruchs »Tu was, dann wird dir besser.« bewältigte.
Tatsächlich war es ein sehr aktives Leben, das sie führte. Ich habe mich mehr als einmal gefragt, wie sie es schaffte, das beschriebene Arbeitspensum zu bewältigen. Nichts wurde ihr leichtgemacht, das Studium musste finanziert werden, dann galt es den Krieg zu überstehen und schließlich eine unglaublich arbeitsintensive Aufgabe durchzuführen, bei der sie fortwährender Kritik ausgesetzt war – einfach aufgrund der Tatsache, dass sie eine Frau war. Beim Lesen merkte ich, wie wütend mich diese Anfeindungen machten! Und dabei hat sie von diesen Punkten nicht einmal besonders umfangreich berichtet. Im Gegenteil.
Wenn Katharina Heinroth erzählt, dann geht es um Tiere. Sie berichtet detailliert von sämtlichen Revieren ihres Zoos und den dazugehörenden Tieren, erzählt von Zuchtprogrammen und von Handaufzuchten. Auch Schilderungen ihrer diversen Forschungsarbeiten nehmen einen großen Raum ein. Eigene Probleme jedoch (Bombennächte, Krankheit und Tod des Ehemannes, der Eltern, eigene Krankheiten, erlebte Vergewaltigungen und Diskriminierungen) werden zwar erwähnt, aber lang nicht so ausgiebig behandelt. Ich habe mich gefragt, ob der Grund dafür möglicherweise Verdrängung war. Oder eine spezielle Art der Verarbeitung? Ihrem Motto getreu? Schaffte sie es, den Schwerpunkt in ihrem Leben so zu legen, dass alles andere erträglich wurde?
An vielen Stellen merkte ich, wie sympathisch sie mir war. Neben dem Wohl der Tiere lag ihr stets auch das Wohl ihrer Mitmenschen am Herzen. Und immer wieder berichtete sie von ihren Tierpflegern, nannte dabei Namen und betonte ihre Wichtigkeit und ihre großartigen Leistungen.

Natürlich erlebt man hier auch ein ganzes Stück Zoogeschichte mit. Deutlich treten die Unterschiede zwischen damaligen Haltungsbedingungen und heutigen hervor. Bei Katharina Heinroth merkt man immer wieder, wie stark der Tierschutzgedanke bei ihr schon zur damaligen Zeit war. Ich habe das mit großem Interesse gelesen!

Am meisten beeindruckt hat mich der unglaubliche Lebensmut dieser Frau, die so viel geleistet hat und so viel kämpfen musste. Ihr eigener Schlusssatz im Buch sagt alles über ihre Lebenseinstellung aus: »Ich lebe ja so gerne.«

Fazit: Eine Frau mit einem großen Herz für Tiere kämpft sich durchs Leben und leistet ganz nebenbei Großes. Sehr beeindruckend!

Bewertung vom 16.06.2017
Ohler, Norman

Der totale Rausch


ausgezeichnet

Drogen im Dritten Reich – ein faszinierendes Thema! War es nicht so, dass Adolf Hitler sich als asketisch lebenden Vegetarier darstellte? Der größten Wert auf einen gesunden Körper legte? Und dessen Partei eine strikte Antidrogenpolitik fuhr, bei der Süchtige in geschlossene Anstalten zwangseingewiesen wurden, eine Einordnung als „kriminell geisteskrank“ möglich war und nicht selten Euthanasie die Folge?

Die Wahrheit sah wohl ganz anders aus. Norman Ohler hat sich auf Spurensuche begeben, hat fünf Jahre lang in Archiven in Deutschland und den USA recherchiert, zahlreiche Originaldokumente ausgewertet, darunter auch solche, die bislang gesperrt waren. Er hat Originalschauplätze besucht, mit Zeitzeugen, Militärhistorikern und Medizinern gesprochen. Das Ergebnis ist erschütternd. Und erklärt doch so einiges…

Das Buch widmet sich zunächst der Volksdroge Pervitin. Der Inhaltsstoff Methamphetamin ist heute als Crystal Meth bekannt. Entsprechend fassungslos liest man von methamphetaminhaltigen Pralinen für die Hausfrau („die Hausarbeit geht dann ganz leicht von der Hand“), betrachtet ein Werbeplakat der Temmler-Werke, das Pervitin als „Stimulans für Psyche und Kreislauf“ anpreist. In der Folge sollte sich die Aufgabe des Pervitins wandeln, es zum unverzichtbar erscheinenden Mittel werden, von dem bei Temmler pro Woche mehrere Millionen Pillen gepresst wurden. Ein Mittel, das Eltern ihren Söhnen zusammen mit Speck und Zigaretten an die Front schickten. Und dessen Einnahme im weiteren Verlauf des 2. Weltkriegs den Soldaten von ihren Vorgesetzten angeordnet wurde. Tatsächlich gelangen der Wehrmacht mit Pervitin zunächst erstaunliche Dinge – dies wird hier am Beispiel „Blitzkrieg“ deutlich dargestellt. Irgendwann jedoch half die Droge nur noch beim Durchhalten. Stärkerer Stoff musste her…
An dieser Stelle kann man schon den Kopf schütteln, doch es kommt noch viel härter. Mit deutscher und wissenschaftlicher Gründlichkeit wurden diverse Mittel getestet, unter anderem an KZ-Häftlingen. Das Buch bildet Originaldokumente ab, wie zum Beispiel den „Arzneimittelversuch zur Hebung der Leistungsfähigkeit und Wachhaltung“ aus dem KZ Sachsenhausen.
Dass man den Soldaten mit der verordneten Einnahme nicht gerade etwas Gutes tut, dass man damit erhebliche Nebenwirkungen und negative gesundheitliche Folgen billigt, war bekannt. Jedoch…
»Die militärische Führung steht auf dem Standpunkt, daß in diesem Krieg, wenn es erforderlich ist, auch Schädigungen durch stark wirkende Medikamente in Kauf genommen werden müssen.«

Dem Volk unter Drogen ist ein Schwerpunkt des Buchs gewidmet. Der andere befasst sich mit „Patient A“. Zu den Dokumenten, die der Autor studiert hat, zählen auch die Aufzeichnungen von Theo Morell. Danach präsentiert sich der größenwahnsinnige, massenmordende Psychopath Hitler nun außerdem als Junkie der schlimmsten Sorte. Natürlich handelt es sich hier um Rückschlüsse, die aus den genannten Aufzeichnungen resultieren. Aber diese wurden mit großer Akribie geführt und machen letztlich einen stimmigen Eindruck. Morell war über Jahre hinweg täglich an Hitlers Seite, ein Dealer in Dauerbereitschaft, der Tag und Nacht auf Abruf zur Stelle war, um die gewünschte „Führermischung“ zu spritzen. Was durch die Adern Hitlers floss, war ein bunter Mix aus über achtzig verschiedenen Mitteln, darunter Vitamine, härteste Drogen und teils sehr unkonventionelle Hormonpräparate.

Nach der Lektüre erscheint mein Bild von diesem dunklen Abschnitt Deutscher Geschichte erheblich runder. Die aufgestellten Thesen und Rückschlüsse belegt der Autor mit fast fünfzig Seiten Anmerkungen, Quellenangaben und Bildnachweisen. An der ein oder anderen Stelle hätte es der Sachbuchcharakter meiner Meinung nach verlangt, die Person Hitlers distanzierter und neutraler zu beschreiben, aber ich habe großes Verständnis für jeden, dem das in diesem speziellen Fall nicht immer möglich ist.

Bewertung vom 16.06.2017
Burger, Wolfgang

Das vergessene Mädchen / Kripochef Alexander Gerlach Bd.9


sehr gut

»Am Tag ihres Verschwindens, dem zweiten Dezember, war Lea Lasalle siebzehn Jahre, elf Monate und drei Tage alt. Sie war ein hübsches, schlankes Mädchen mit sehr eigenwilligem Charakter. Und hätte ich geahnt, wie sehr ihr Schicksal in den folgenden Wochen mein Leben durcheinanderwürfeln würde, so hätte ich schleunigst Urlaub beantragt und den nächsten Zug in Richtung Süden bestiegen.«

Bei einem Ausflug der Schulklasse seiner Töchter verschwindet eine Mitschülerin, die 17jährige Lea, spurlos. Betroffen macht sich Alexander Gerlach, Kriminaloberrat aus Heidelberg, auf die Suche. Und hat schon nach kurzer Zeit das Gefühl, in ein Wespennest gestoßen zu haben…

Eins gleich zu Beginn: Ein klassischer Krimi ist das hier nicht. Auf mich wirkte er aber sehr realistisch – und das mag ich nun mal sehr. Das reale Leben ist doch oft geprägt von einer Vielzahl von Dingen (hier Fällen), die alle sehr arbeitsintensiv aber nicht zwingend auch spektakulär sind. In Heidelberg sind bald schon sehr viele Bälle im Spiel, gibt es immer neue Spuren und Ermittlungsansätze.
Gut, dass Alexander auf sein bewährtes Team voller interessanter Charaktere zurückgreifen kann! Er selbst kommt wieder angenehm menschlich rüber, macht durchaus auch Fehler - zum Beispiel im Bereich Mitarbeiterführung. Und privat hat er mit seinen 16jährigen Zwillingstöchtern ohnehin stets zu kämpfen. Man darf raten, wer häufiger gewinnt ;-)

Die überraschende Auflösung erschien mir schlüssig und ich fand es klasse, dass ich bis zum Ende zigmal in die Irre geführt wurde. Das war sehr unterhaltsam! Allerdings hätte ich mir zu einigen Punkten noch ein wenig mehr Infos gewünscht. Es wurden schließlich sehr viele Themen aufgemacht – da bleiben leicht Fragen über. Obwohl man im realen Leben sicher auch akzeptieren muss, dass nicht auf Alles eine Antwort gefunden wird.

Fazit: Spannend, aber kein klassischer Krimi. Trotzdem wieder gelungene Unterhaltung aus Heidelberg – ich lese gerne weiter.

»Sie macht nämlich Führerschein mit siebzehn … Dürfen wir das auch, Paps?«
Ach herrje. Zweimal Führerschein, zweimal mindestens zweitausend Euro. Und als kostenlose Dreingabe die doppelte Chance, sich seinen Wagen von einer Fahranfängerin zu Schrott fahren zu lassen. Wie gut, dass ich ein altes und praktisch wertloses Auto besaß.

Bewertung vom 16.06.2017
Goldsmith, Barbara

Marie Curie


sehr gut

»Marie Curie war in vielerlei Hinsicht ein Vorbild. Sie stammte aus einer verarmten polnischen Familie, arbeitete acht Jahre lang, um Geld für das Studium an der Sorbonne zu verdienen, und litt unglaubliche Entbehrungen. 1893 machte sie als erste Frau an der Sorbonne einen Abschluss in Physik, im nächsten Jahr folgte ein zweiter in Mathematik. Ebenfalls als erste Frau wurde sie an der Sorbonne Professorin und erhielt nicht nur einen, sondern zwei Nobelpreise: den ersten in Physik mit ihrem Mann Pierre und Henri Becquerel (für die Entdeckung der Radioaktivität); den zweiten, acht Jahre später, in Chemie (für das Isolieren der Elemente Polonium und Radium).«

Den Namen Marie Curie kennt im Grunde jeder. Vermutlich kann sie auch noch jeder mit den Begriffen Physik und Chemie in Verbindung bringen. Aber was genau ihr zu diesem Bekanntheitsgrad verholfen hat, wird nicht mehr jeder beantworten können.
Dieses Buch erklärt in für den Laien verständlichen Worten, in welchen wissenschaftlichen Bereichen Marie Curie sich verdient gemacht hat und gibt einen guten Überblick über das Leben dieser bemerkenswerten Frau.

Deutlich wird dabei herausgearbeitet, gegen welche Schwierigkeiten sie zeitlebens kämpfen musste. Schwierigkeiten, die aus der schlichten Tatsache resultierten, dass sie eine Frau war, die sich in einem von Männern dominierten Bereich behauptete. Ich bin manches Mal beim Lesen richtig wütend geworden! Man muss sich das mal vorstellen: Sie war eine Frau, die schon als Studentin „das Wissen aufsaugte wie ausgedörrte Erde das Wasser“. Eine Frau, die geradezu besessen von ihrer Arbeit war, eine Fanatikerin, die sich selbst ständig vernachlässigte – und der doch immer wieder Steine in den Weg gelegt und die Anerkennung verweigert wurde. Bei ihrem ersten Nobelpreis durfte sie lediglich im Publikum sitzen. Und hätte ihr Mann auf der Bühne nicht mit Worten ausgedrückt, wie maßgeblich sie an der Entdeckung beteiligt war, hätte dies ansonsten keine Würdigung gefunden.

Folglich hat sie nicht nur für ihre Leistungen als Wissenschaftlerin große Anerkennung verdient, sondern auch für ihre Vorkämpferrolle in Sachen Stellung der Frau in der Gesellschaft. Schon das Buch nennt einige Frauen, die durch Marie Curies Beispiel ermutigt wurden, sehr viele weitere werden gefolgt sein.

Nebenbei war sie auch noch Mutter zweier Töchter, nach dem frühen Tod Pierre Curies zudem alleinerziehend. In verstärktem Maße hatte sie also mit der auch heute noch bekannten Problematik der Doppelbelastung zu kämpfen. Mann und Kinder liebte sie, das wird schon deutlich. Aber ihre Arbeit liebte sie ebenfalls sehr – da ist ein Gefühl der Zerrissenheit eigentlich unausweichlich. Das hätte hier meines Erachtens nach noch deutlicher herausgearbeitet werden können.

Übrigens war Marie Curie nicht nur die erste Frau, die den Nobelpreis erhielt, lange Zeit blieb sie auch die einzige. Erst 32 Jahre später wurde erneut eine Frau ausgezeichnet – und das war ausgerechnet ihre Tochter Irène Joliot-Curie.

Fazit: Hochinteressantes Portrait einer bemerkenswerten Frau. Sehr empfehlenswert, auch für naturwissenschaftliche Laien.

Bewertung vom 16.06.2017
Stollberg-Rilinger, Barbara

Maria Theresia


ausgezeichnet

Was wusste ich bislang über Maria Theresia? Nicht viel, offen gestanden. Das hat sich nach der Lektüre dieses Buchs zum Glück geändert. Die Autorin lehrt als Professorin Geschichte der Frühen Neuzeit, wurde für ihre wissenschaftlichen Verdienste vielfach ausgezeichnet und bringt in dieses Werk reichlich Akribie und Fachwissen ein.
Auf über 1.000 Seiten finden sich enorm viele Infos, alle wirken großartig recherchiert und gründlich belegt. Dafür sprechen zum Beispiel sehr viele in den Text eingeflochtene Zitate. Dazu gibt es diverse Abbildungen und Farbtafeln und einen sehr umfangreichen Anhang mit Anmerkungen, Quellen und Angaben zu weiterführender Literatur, mit einem Glossar, genealogischen Tabellen und Karten.

Im Einzelnen erfährt der Leser neben praktisch allem, was die Person Maria Theresias betrifft, enorm viel über das zeitgeschichtliche Umfeld. Wenn ich noch mal so durch das Inhaltsverzeichnis schaue, fehlt eigentlich kein Themenbereich. Da werden Kriege geführt, da werden Ehen arrangiert, Pockenepidemien durchlitten, es gibt Aufstände, Reformen, moralische Höhen und Tiefen werden ausgelebt.
Der Leser erhält einen sehr umfassenden Blick nicht nur auf die politische Lage dieser Zeit, sondern auch auf ihr Moral- und Religionsverständnis.

Wie lebte es sich bei Hofe, was gehörte zu den Privilegien der Herrschaften und welche Pflichten standen diesen gegenüber? Themen wie Bildung, Gleichberechtigung, Körperpflege und -gesundheit werden erörtert. Hier habe ich mit großem Interesse von den ersten Pockenimpfungen gelesen und verfolgt, wie das körperliche Befinden im zentralen Interesse der Allgemeinheit stand.

Der Blick auf Maria Theresia war faszinierend, gefühlsmäßig war ich aber ständig hin- und hergerissen. War sie mir an ein paar Stellen sympathisch, so überwog doch meistens ein Gefühl der Ablehnung. Wenn ich ihr auch zugutehalten muss, dass sie mit ihrem Verhalten und ihrer Einstellung im Wesentlichen dem Zeitgeist entsprach.
Interessant war auf jeden Fall ihr weiblich-männlicher Status, wie sie ihre Rolle übernahm und selbstbewusst ausfüllte. Ihre Aufgabe empfand sie gleichsam als Berufung und heilige Pflicht. Um den Akt ihrer Krönung zum König von Ungarn (nicht Königin!) angemessen vollziehen zu können, lernte sie eigens reiten. Höchst engagiert und diszipliniert lebte sie nach einem täglichen Stundenplan, der ihr vorgab, wann sie wem Audienzen zu geben hatte, wann sie die Post bewältigte, wann sie Hofbeamte und Minister empfing, um immer einen Überblick über die laufenden Geschäfte zu haben. Auch Zeiten für Gebet und Gottesdienst und für die Familie waren nach der Uhr zu erfüllen. Sie stellte ausgesprochen hohe Ansprüche an sich – und ebenso an ihr Umfeld.
Meist erschien sie als strenge Moralverfechterin, häufig blockierte sie Reformen. Gelegentlich überraschte sie mich aber auch, zum Beispiel mit für die Zeit sehr fortschrittlichen Maßnahmen zum Schutz Neugeborener.
Ihr Verhältnis zu ihrem Ehemann war im Zeitalter arrangierter Ehen sicher ein Besonderes. In hohem Maße negativ empfand ich ihr Verhalten gegenüber ihren Kindern, das von Dominanz und einem ausgeprägten Kontrollwahn bestimmt wurde. Auch ihre erwachsenen Kinder versuchte sie stetig zu manipulieren und in ihrem Interesse handeln zu lassen, sparte nie mit scharfer Kritik. Nachdem ihr Sohn Joseph Kaiser geworden war, gab es reichlich Punkte, bei denen er und seine Mutter gegensätzliche Auffassungen vertraten. Das Buch zeigt diverse Probleme auf, die durch diese Doppelregentschaft entstanden. Ein Beispiel war der Umgang mit den „irrgläubigen“ Protestanten. Ich stelle mir vor, dass diese Zeit auch für die Bevölkerung eine ungeheuer komplizierte und unsichere gewesen sein muss.

Fazit: Umfassender Blick auf das Leben einer außergewöhnlichen Frau.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.