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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 930 Bewertungen
Bewertung vom 16.09.2017
Müller, Herta

Herztier


weniger gut

Nichts stimmt, aber alles ist wahr

Der zweite Roman der als Banater Schwäbin in Rumänien geborenen Herta Müller unter dem kryptischen Titel «Herztier» ist 1994 erschienen, sieben Jahre nach der Ausreise der späteren Nobelpreisträgerin nach Deutschland. Sein Thema ist die Angst, und wovon sie berichtet ist laut eigener Definition «autofiktonal». Die mit Preisen überhäufte Schriftstellerin war in ihrer Heimat nämlich selbst Pressionen der allgegenwärtigen Securitate ausgesetzt, dem perfiden Geheimdienst des Diktators Ceausescu. Sie wolle mit ihren Texten ausdrücken, wie Diktaturen Menschen ihrer Würde beraubten, hat sie in einem Interview gesagt. Bei der Preisvergabe hatte das Nobelkomitee 2009 explizit auf die «Intensität der von ihr verfassten Literatur» hingewiesen. Auch wenn in den drei Romanen, die ich von ihr gelesen habe, mit der Thematik auch die Tonart wechselt, ist ihr sehr eigenständiger Erzählstil doch gleich geblieben. Ob er uns alle anspricht, ist zumindest fraglich. Das titelgebende «Herztier» nämlich, als Begriff dem rumänischen Neologismus «inimal» als Verschmelzung von inimă (Herz) und animal (Tier) entsprechend, prägt schließlich jeden Menschen auf ganz eigene Weise, auch den lesenden.

Eine namenlos bleibende Ich-Erzählerin berichtet zunächst von Lola, einer jungen Frau vom Lande, die in der Großstadt studiert und mit ihr und vier weiteren Mädchen zusammen ein als «Viereck» bezeichnetes Zimmer bewohnt. Lolas als Flucht in eine andere Welt gedachten, wahllosen sexuellen Kontakte mit irgendwelchen Männern enden so deprimierend, dass sie sich erhängt - und posthum aus Partei und Uni ausgeschlossen wird. Mit Edgar, Kurt und Georg bildet sich sodann ein vierblättriges Kleeblatt von Regimekritikern um die Protagonistin, sie schreiben heimlich Gedichte und treffen sich konspirativ in einem verlassenen Sommerhaus, in dem sie auch verbotene Bücher lesen. Immer wieder verschwinden Menschen auf unerklärliche Weise, und auch die Vier geraten ins Visier der Securitate. Ihre Briefe werden geöffnet, ihre Zimmer durchsucht, und wiederholt werden sie von Hauptmann Pjele verhört. Weil sie nach dem Studium schließlich nacheinander irgendwann aus ihren Arbeitsstellen entlassen werden, verlässt Georg als Erster sein Heimatland und reist nach Deutschland, begeht dort aber schon bald darauf Selbstmord, noch bevor die Erzählerin und Edgar ebenfalls deprimiert ausreisen. Als Teresa, ihre beste Freundin, sie im Westen besucht, wird schnell klar, dass sie nun ebenfalls für die Securitate arbeitet. Kurt, der als Letzter in Rumänien geblieben ist, erhängt sich am Ende, nachdem er dem Westen eine Liste von Fluchtopfern zugespielt hat.

«Bücher über schlimme Zeiten werden oft als Zeugnisse gelesen. Auch in meinen Büchern geht es notgedrungen um schlimme Zeiten, um das amputierte Leben in der Diktatur» hat Herta Müller in einem Essay geschrieben. Sie erzählt ihre Geschichte in einer hoch poetischen, äußerst assoziationsreichen, aber gleichzeitig auch sehr robust wirkenden Sprache, bei der sie insbesondere auf den Rhythmus achte, ihre Sätze also zur Kontrolle selbst laut lese. Und zu ihrem Sprachstil merkt sie an: «Ich mag keine abstrakten Begriffe in meinen Texten. Das Wort Diktatur zum Beispiel würde ich nie schreiben».

Es sind die Leerstellen in ihrer fragmentierten Prosa, der oft fehlende logische und semantische Zusammenhang, das unstrukturierte Geflecht der heraufbeschworenen, sich allzu oft widersprechenden oder sinnlos scheinenden Assoziationen, ihre eigensinnigen Sprachbilder also, die das Lesen dieses Romans ziemlich schwierig machen. «Nichts stimmt, aber alles ist wahr» hat Herta Müller zu ihrer poetologischen Arbeitsweise angemerkt. Was ich so interpretiere, dass man sich als ihr Leser aus dem Wahren selbst das Stimmige konstruieren soll, sich also die eigene Wirklichkeit erschaffen muss mit ganz individuellen Bedeutungen. Das mag für manchen Leser erfreulich sein, war es für mich allerdings ganz und gar nicht!

Bewertung vom 13.09.2017
Houellebecq, Michel

Unterwerfung


schlecht

Skandalöser Nonsens

Am 7. Januar 2015, dem Tag des Charlie Ebdo Anschlags in Paris, erschien «Unterwerfung», sechster Roman des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq, eine geradezu unheimliche Koinzidenz. Denn die futuristische Thematik des Romans von der Islamisierung Frankreichs nach der Wahl eines Moslems zum Präsidenten löste natürlich eine kontroverse Diskussion aus. Dem Enfant terrible der französischen Literatur wurde vor allem Islamophobie vorgeworfen, das Buch sei eine Provokation. Sein Statement, der Islam sei die dümmste aller Religionen, hat der streitbare Agnostiker später, nach der Lektüre des Korans, allerdings relativiert.

Ich-Erzähler François, Dozent für Literatur an einer Pariser Universität, egozentrischer Single Mitte vierzig, ein Macho mit wechselnden Beziehungen zu halb so alten Studentinnen, beobachtet als politisch wenig Interessierter den Wahlkampf 2022. Der steht ganz im Zeichen des drohenden Wahlsiegs von Marine Le Pen, den die anderen Parteien unbedingt verhindern wollen. Durch clevere Wahlbündnisse gelangt ein muslimischer Politiker an die Macht und krempelt, - darin den Nazis vergleichbar -, innerhalb kürzester Zeit den Staat völlig um. Der islamische Staatspräsident führt eine theokratische Verfassung ein und etabliert die Scharia, fortan gilt also das Patriarchat, die Polygamie ist damit erlaubt, überaus freudig begrüßt natürlich von dem sexistischen Helden des Romans. Viele Juden verlassen das Land fluchtartig, die Franzosen aber konvertieren in Scharen zum Islam, am Ende auch François.

Dieser Plot ist derart abstrus, dass beim Lesen ganz schnell deutlich wird, hier handelt es sich um eine Farce, eine ironisch überzeichnete Falle für die konservative Leserschaft, in die denn auch prompt reichlich hineingetappt wurde, wie die öffentlichen Reaktionen belegen. Seine zweifellos satirisch aufzufassende Handlung unterlegt der Autor mit einer provokanten Gesellschaftskritik, wobei seine Skepsis auch die Sexualität mit einschließt, die er aus einer abstoßenden Macho-Perspektive pornoartig in seinen Text integriert. In einer Danksagung bekennt Houellebecq seine Unkenntnis der universitären Interna, die er ebenso wie diverse Erörterungen politischer, sozialer, historischer und literaturwissenschaftlicher Art in die Erzählung einfügt, oft in Form ausufernder Monologe. Sehr ausführlich wird dabei immer wieder der Schriftsteller Joris-Karl Huysmans erwähnt und zitiert, der Thema für die Dissertation seines auch später ziemlich einseitig interessierten Protagonisten war. Diese üppige Intertextualität bezieht auch viele andere Autoren aus dem literarischen Kanon Frankreichs mit ein.

Ob man unter Freiheit leiden könne, wie es hier quasi der Titel schon postuliert, gehört zu den verstörenden Ungereimtheiten einer wegen ihrer klaren, unverschnörkelten Sprache leicht lesbaren Geschichte, die geradezu cool erzählt wird. Als Beleg für den Drang nach «Unterwerfung», was das arabische Wort «Islām» ja wörtlich bedeutet, führt Houellebecq ausgerechnet «Die Geschichte der O» von Pauline Réage an, da fällt mir dann wirklich nichts mehr zu ein! Und dass innerhalb weniger Wochen halb Frankreich zum Islam konvertiert, attraktive Französinnen plötzlich in Sack und Asche herumlaufen, Saudi Arabien die Pariser Universitäten als Privatinstitute übernimmt und die Bezüge der Lehrkräfte verdreifacht, Europa sich atemberaubend schnell auf den Spuren des Römischen Reiches nach Nordafrika und dem Nahen Osten hin ausdehnt, all das gehört zum skandalösen Nonsens, den Houellebecq da unbeirrt von sich gibt, - auch seine enge Beziehung zum Raelismus spricht übrigens Bände! Gerade der Skandal aber, hat er den Kritikern entgegengehalten, sei ein wichtiger Bestandteil seiner Strategie auf dem Buchmarkt, -und die ist denn wohl auch aufgegangen, wie die hohen Auflagen beweisen. Wer hingegen einen wirklich guten Roman über den Islam lesen will, dem sei «Kompass» von Mathias Enard empfohlen, dem Anti-Houellebecq.

2 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.09.2017
Thorsteinsson, Indridi G

Taxi 79 ab Station


gut

Brennevín oder Whisky

Als einer der bedeutendsten Schriftsteller Islands hat Indridi G. Thorsteinsson mit seinem Debütroman «Taxi 79 ab Station» 1955 auf Anhieb einen Klassiker geschaffen, den er innerhalb nur weniger Wochen geschrieben hatte. Der kurze Roman wurde 1962 verfilmt und liegt seit der Frankfurter Buchmesse 2011, nach mehr als fünfzig Jahren also, in deutscher Übersetzung vor. Thorsteinsson war längere Zeit auch journalistisch tätig und hat noch fünf weitere Romane veröffentlicht, außerdem sind Sammelbände von Kurzgeschichten und eine Gedichtsammlung von ihm erschienen.

Der Titel des Romans erscheint ein wenig kryptisch, er zitiert jedoch nichts anderes als die Lautsprecheransage, die im Warteraum eines Taxiunternehmens in Reykjavík erschallt, wenn dem jungen Romanhelden Ragnar Sigurdsson, Fahrer des Taxis 79, eine Fahrt zugeteilt wird. Einen solchen Auftrag erhält er gleich zu Beginn der Geschichte, er muss einen sinnlos betrunkenen amerikanischen Soldaten zur US-Airbase in Keflavik fahren. Bei der Rückfahrt trifft er auf einen liegen gebliebenen Buick, dessen elegant angezogener Fahrerin er seine Hilfe anbietet. Zufällig hat er sogar einen Keilriemen dabei, mit dem er den luxuriösen Wagen der Frau wieder fahrbereit machen kann. Aus dieser flüchtigen Begegnung entsteht schnell eine leidenschaftliche Liebesbeziehung, die ihnen beiden als Ausweg erscheint aus wenig erfreulichen Lebensumständen. Die geheimnisvolle Gudridur, eine Lebedame, die ein wenig älter ist als er und von ihm Gógó genannt werden will, ist mit einem reichen, aber kranken Mann verheiratet, der nach einem Pferdetritt hirnverletzt in einer psychiatrischen Anstalt in Dänemark untergebracht ist und dort möglicherweise auch operiert werden soll. Ragnar lebt prekär als selbstständiger Taxifahrer, er ist nebenbei auch in den schwunghaften Alkoholschmuggel auf der Insel involviert. Als Habenichts erstarrt er in einer drögen Alltagsroutine, die Raten für sein klappriges Taxi erdrücken ihn beinahe, seine Zukunft erscheint ihm alles andere als rosig.

Der Anfang der 1950er Jahre angesiedelte Roman behandelt zum einen das Verhältnis der Geschlechter zueinander, die Sprachlosigkeit der beiden Liebenden ist symptomatisch für eine Fremdheit, die trotz aller Leidenschaft zwischen ihnen bestehen bleibt, sie wissen wenig voneinander außerhalb ihrer sexuellen Beziehung. Außerdem wird auch die Moderne thematisiert, dem technischen Fortschritt in der quirligen Metropole wird das Landleben als bessere Lebensform gegenüber gestellt. Ragnar, der vom Lande stammt, geht gern mit seinem besten Freund auf die Jagd nach Wildgänsen, taucht am liebsten ab in die archaische Welt der entlegenen Bauerndörfer Islands. Und es wird viel Alkohol getrunken in diesem Roman, Brennevín oder Whisky, - nur Hochprozentiges also, nichts anderes -, und zwar in abenteuerlichen Mengen. Zu seinem spröde realistischen Schreibstil hat Thorsteinsson einmal angemerkt: «Ich hatte niemals Lust, eine spezielle Erfahrungswelt zu schaffen, weil ich Fantasie nicht leiden kann».

Jagd, Rauchen, Saufen und Frauen sind literarische Zutaten, die auch Hemingway gern benutzt hat. Dessen journalistisch knappe Sprache findet sich ähnlich auch hier, sie ist jedoch um einiges anspielungsreicher, deutlich weniger lakonisch also. Das Finale der atmosphärisch dicht erzählten Geschichte ist nicht unbedingt vorhersehbar, der Spannung wegen soll hier auch nichts weiter ausgeplaudert werden darüber. Im Spannungsfeld zwischen beginnender Massen-Motorisierung und beschaulicher Naturliebe, zwischen Moderne und Tradition, erzählt der Autor uns eine autobiografisch geprägte, melodramatische Geschichte. Die ist thematisch zwar nicht neu, durch ihren besonderen Stil aber sehr angenehm und kurzweilig zu lesen, sie bringt dem Leser nebenbei auch die ureigene isländische Identität nahe, wozu insbesondere auch die punktgenauen, wortkargen Dialoge beitragen.

Bewertung vom 10.09.2017
Härtling, Peter

Die dreifache Maria


ausgezeichnet

Peregrina

Der kürzlich verstorbene Peter Härtling hinterlässt ein breit gefächertes literarisches Werk aus Lyrik und Prosa, in dem er sich thematisch der Aufarbeitung der Geschichte widmet, auch der eigenen. Wobei die Romantik einen Schwerpunkt bildet in seinem Œuvre, eine ganze Reihe von Roman-Biografien über Musiker und Dichter dieser Epoche künden davon, und ebenfalls dazu gehört das 1982 veröffentlichte Büchlein «Die dreifache Maria». Eng eingebunden in viele seiner Werke ist außerdem die Heimat, bei ihm das als seine Wahlheimat geltende Württemberg, dessen Mundart sich immer wieder findet in seiner Geschichte von der folgenreichen Begegnung Eduard Mörikes mit der ebenso schönen wie geheimnisvollen Maria Meyer.

Als er in einem Ludwigsburger Gasthaus, wo sie als Bedienung arbeitet, 1823 auf Maria trifft, verliebt sich der junge Dichter heftig in das ungewöhnlich attraktive Mädchen. «Eine junge, tollkühne Person», beschreibt Härtling sie, «die aus erprobter Freiheit auf keine Regel achtet, die sich, immerfort lügend, Wahrheiten zutraut, die ihre Begierden und Hoffnungen nicht unterdrückt, sondern unverhohlen auslebt, die, wenn sie liebt, nicht auf Anstand und Absprache achtet, sondern sich preisgibt, die weiß, dass sie für die Gesellschaft, in die sie geriet und die sie ohne Gewissensbisse ausnützt, ein rätselhaftes Wesen darstellen soll, die schöne Fremde, die romantische Vagantin, die herausbekommen hat, wie sie in die Zeit passt, als Hilflose, Verlorene oder als tanzende Zigeunerin, die nichts besitzt als ihren Mut, ihre Leidenschaft, ihre Kenntnisse, ihre Schläue». Die authentische Figur der Maria Meyer aus Schaffhausen ist ähnlich von Mythen umrankt wie Johann Georg Faust aus Knittlingen. Sie gehörte zum Gefolge der Schriftstellerin Juliane von Krüdener, die als Galionsfigur eines prophetisch-ekstatischen Pietismus gilt, eine Sektenstifterin mit großem Einfluss, die immerhin den russischen Zaren auf dem Wiener Kongress vertreten hat.

In fünf Kapiteln beschreibt Härtling das Leben des 1804 geborenen Eduard Mörike, beginnend mit dem Kapitel «Flucht», in dem die Adoleszenz des kränkenden Schülers beschrieben wird, er behandelt ferner in «Die Kinderbraut» die erste Liebe des angehenden Poeten. Die titelgebenden drei Kapitel schließlich erzählen zunächst unter «Maria Meyer» von der aufwühlenden Begegnung der fortan unsterblich Verliebten, unter «Peregrina» von der späteren, natürlich lyrischen Umsetzung dieser großen Liebe in dem gleichnamigen Gedicht-Zyklus, und sie enden schließlich mit einem letzten Blick der inzwischen verheirateten «Maria Kohler» auf ihren Eduard, der dann spät, erst 1851 heiratet. Die stürmische Schwärmerei des Jünglings zu der Unperson Maria hat ihn seelisch zwar noch auf Jahre hinaus beschäftigt, ging aber über eine von ihm schon bald abgebrochene Korrespondenz nicht hinaus. Schließlich brach der Kontakt nach einem von ihm brüsk verweigerten Wiedersehen ein Jahr später völlig ab. Zu übermächtig war wohl der empörte, ablehnende Einfluss seiner frömmelnden Familie auf den zögernden, wankelmütigen Mörike. Immerhin aber verdankt die lesende Nachwelt dieser Begegnung jenen berühmten Gedichtzyklus, mit dem er seine Jugendliebe als Pegrina zumindest literarisch unsterblich gemacht hat, ein weiteres Denkmal hat er ihr in dem Roman «Maler Nolten» gesetzt.

In wohlgesetzten Worten berichtet Härtling von den Geschehnisse so gekonnt, dass man gut nachvollziehen kann, welche seelischen Kämpfe der Protagonist mit sich auszufechten hat. Wenn schlussendlich der Pietist in ihm siegt, so schimmert bei aller Wohlanständigkeit doch stets auch eine gewisse Ungeduld über die eigene, lustfeindliche Spießigkeit mit durch, ja es nagt an ihm als innerster Zweifel sogar die Angst vor einem womöglich total verfehlten Leben. Was sprachlich altväterlich erscheint, ist trickreich der Epoche angepasst. Eine bereichernde Lektüre, die zudem amüsant ist, weil gelegentlich auch ganz köstlich geschwäbelt wird.

Bewertung vom 05.09.2017
Friedrich, Franz

Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr


gut

Diagnose Meisenmanie

Mit seinem Debütroman «Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr» von 2014 gelang dem Schriftsteller Franz Friedrich der Sprung auf die Longlist des Deutschen Buchpreises, zu seiner großen Überraschung, wie er in einem Interview gesagt hat. Neben Literatur habe er parallel auch Experimentalfilm studiert, aus der Vermischung beider Gattungen sei eine fruchtbare Öffnung der Möglichkeiten entstanden, die den Blick schärfe für das Bild und damit dann auch zu mehr Genauigkeit verpflichte in der Sprache. Der kryptische Buchtitel verspricht einerseits eine spannende, zumindest aber interessante Thematik des Romans, er deutet andererseits aber bereits auch dezent auf Metaphysisches hin, auf eine andere Wirklichkeit jenseits des Horizonts unserer Gegenwart.

Eine irgendwie geartete Handlung, um das gleich vorweg zu sagen, findet man nicht in diesem Roman. Der Autor beschreibt einzelne Szenen, die sich weder zeitlich noch thematisch zusammenfügen und allesamt merkwürdig melancholisch, geradezu destruktiv erscheinen, die regelrecht apokalyptisch wirken. Dafür stehen symbolisch jene Lapplandmeisen auf der kleinen finnischen Insel Uusimaa, deren zwei Jahrzehnte zurückliegendes, plötzliches Verstummen seinerzeit zu wilden Spekulationen geführt hatte, eine regelrechte Meisenmanie ausgelöst hat: Es seien zivilisatorische Ursachen, Funkstrahlung durch Mobiltelefone, eine Giftgaswolke, atomare Verseuchung, militärische Versuche, oder aber apokalyptische Vorboten, genetische Ursachen vielleicht auch, eine nur lokal aufgetretene Mutation, deren positive Aspekte rätselhaft bleiben. Sie seien wohl depressiv, hätten ganz einfach keine Lust mehr zu singen, meinen Einige naiv, wodurch also auch ein märchenhaftes Element in die Erzählung mit einfließt.

In drei zeitlich getrennten Erzählsträngen aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird von einem Flugzeugabsturz berichtet, von einer einsamen Dokumentar-Filmerin auf Uusimaa, von einer gescheiterten amerikanischen Doktorandin in Berlin, die dort im heißesten Februar seit Menschengedenken ziellos durch die Stadt streift und auf einen merkwürdigen Chor ohne Sprache trifft, der von einer verheißenen Insel träumt. Ein belgischer Filmemacher schließlich reist 2017, zur Entstehungszeit des Romans also in der Zukunft, nach Uusimaa, weil dort die Meisen plötzlich wieder zu singen begonnen haben. Die Verflechtung dieser Erzählebenen bleibt zeitlich ebenso vage wie die thematische, die beschriebenen Szenen sind fragmentarisch und stehen ohne erkennbaren Zusammenhang nebeneinander, der Autor lässt ganz bewusst alles in der Schwebe. Was dann auch für das Finale gilt, in der jener auf Uusimaa entstandene Film beschrieben wird, wo am Schluss die im Roman leitmotivisch benutzte Lapplandmeise auf der Schulter der Dokumentarfilmerin landet, herangezoomt schließlich zu sehen «in einer Großaufnahme, die die Leinwand ausfüllte. Die Meise sang». Mit diesen drei Worten endet der Roman dann ziemlich sibyllinisch.

Das Besondere an diesem Roman ist seine sprachmächtige Erzählweise, eine souveräne, nuancenreiche Diktion, glasklar und detailverliebt, ohne je ausschweifend zu werden. Der Autor schildert die Natur ebenso präzise, knapp und stimmig wie seine Figuren in ihrer jeweiligen Umgebung oder in den seltenen Gesprächen miteinander. Meistens allerdings ist das Personal mit sich und seinen Gedanken ziemlich allein, das Figurenensemble ist jedenfalls ein äußerst introvertierter, wenig kommunikativer Menschenschlag. Dieser kontrapunktisch angelegte Roman einer romantischen Sinnsuche zwischen dröger Gegenwart und drohender Apokalypse bringt den Mut auf zum Verzicht auf Handlung, wobei märchenhafte, mystische Elemente dazu beitragen, Auswege zwischen Utopie und Dystopie aufzuzeigen, - ergebnislos allerdings, wie nicht anders zu erwarten. Auch wenn mancher schimpfen wird «Der hat ja ne Meise», ich empfehle diesen unkonventionellen Gegenwartsroman allen experimentierfreudigen Lesern.

Bewertung vom 30.08.2017
Delibes, Miguel

Mein vergötterter Sohn Sisi


gut

Ein Unsympath

Miguel Delibes war in seiner Heimat Spanien als Schriftsteller sehr erfolgreich, er hat ein beeindruckendes Œuvre von etwa 70 Büchern vorzuweisen. Zu dem auch der vorliegende, 1953 veröffentlichte Roman «Mein vergötterter Sohn Sisí» aus dem Frühwerk gehört, 1976 verfilmt und erst 2003 auch auf Deutsch erschienen. Neben den vielen Ehrungen im spanischen Sprachraum war er auch mehrfach Kandidat für den Nobelpreis. Seine frühen Romane sind stark durch den Spanischen Bürgerkrieg geprägt und werden zur sozialrealistischen Literatur eines Landes gezählt, dessen tiefe gesellschaftliche Gegensätze darin thematisiert werden.

Der deskriptive Titel deutet schon darauf hin, es handelt sich hier um einen Familienroman. Der ist zeitlich in drei Abschnitte gegliedert, wobei im ersten Buch ein Zeitraum von 1917 bis 1920 behandelt wird. Im Mittelpunkt steht dabei der wohlhabende Cecilio Rubes, der in einer spanischen Provinzstadt einen alteingesessenen Sanitärhandel betreibt. Verheiratet ist der fette, selbstgerechte, antriebslose Mann mit einer ungebildeten, frigiden Frau, die den sexuell aktiven Enddreißiger geradezu in die Arme anderer Frauen treibt. Er hält sich prompt mit Paulina eine viel jüngere, attraktive Geliebte, für die er eine Wohnung eingerichtet hat, sein Liebesnest, ohne das er nicht leben könnte. Als sich trotz unterkühlter Ehe spät, und von ihm eigentlich ungewollt, Nachwuchs einstellt, ist der auf Reputation bedachte Macho plötzlich ganz aus dem Häuschen, sein langweiliges Leben bekommt damit überraschend einen Sinn. Man erkennt schon bald, wie er den Sohn verhätscheln wird, und Cecilio Rubes macht dann auch so ziemlich alles falsch in der Erziehung, was man falsch machen kann, der vergötterte Junge wird zum Abbild seiner selbst. Im zweiten Buch dann (1925-1929) erleben wir, wie aus dem Kind ein verwöhnter, nichtsnutziger, bösartiger Tyrann wird, dessen Mutter schier verzweifelt, weil der despotische Vater jedwede Erziehung vereitelt nach dem Motto: Mein Sohn soll es gut haben, Erziehung ist was für die Armen. Schließlich aber holt im dritten Buch (1935-1938) der Bürgerkrieg den verzogenen Sisí aus seinem Lotterleben heraus, er muss an die Front, und auch der Vater erwacht am Ende aus seiner Realitätsferne, er erkennt, viel zu spät allerdings, dass er total versagt hat.

Frauen sind das beherrschende Thema in dieser ausufernden Geschichte, immer wieder werden, nicht nur im Herrenclub, ihre Hüften und Fesseln bewundert. Zeittypisch und wohl auch dem prüden Katholizismus verpflichtet ist die Sexualität hier zwar allgegenwärtig, sie unterliegt aber sprachlich einer fast schon grotesk anmutenden Verklausulierung, der Roman ist jedenfalls jugendfrei ab null Jahre. Die geschilderte, abstoßend patriarchalische Gesellschaft ist für uns Heutige einerseits schwer erträglich, man spürt aber andererseits permanent den ironischen Unterton des Autors, der durch Übertreibungen und durch grotesk überzeichnete Figuren die Distanz zum Erzählten sehr deutlich herstellt.

Weite Teile des Plots entwickeln sich aus Dialogen heraus, zu denen sich oft die innere Rede gesellt, manchmal im schnellen Wechsel mit der direkten Rede, womit das unredlich Gesagte immer wieder virtuos konterkariert wird mit dem tatsächlich Gedachten, was ich so, in dieser Konsequenz, noch nie gelesen habe. Berührend auch eine Stelle, als die Mutter von Cecilio stirbt. «Für ihn hatte seine Mutter soeben den Raum verlassen, ohne dass sich die Türen oder Fenster geöffnet hätten». Angesichts der Leiche fragt er sich: «Nun, das ist sie nicht. Was hat diese Gestalt mit meiner Mutter gemeinsam?» Dieser in der Franco-Ära geschriebene, opulente Roman lässt sich sehr viel Zeit, seine Geschichte vor uns auszubreiten. Die ersten hundert Seiten sind zäh zu lesen, bis Seite 200 etwa legt die Geschichte erzählerisch langsam zu, sie steigert sich danach allmählich zum so nicht absehbaren Ende hin. Man braucht also einiges an Geduld!

Bewertung vom 27.08.2017
Keun, Irmgard

Das kunstseidene Mädchen


sehr gut

Ein Buch für die Stadt

Als «Asphaltliteratur» mit antideutscher Tendenz standen die Bücher von Irmgard Keun auf der Schwarzen Liste der Nazis, kurz nachdem die Schriftstellerin mit «Das kunstseidene Mädchen» 1932 ihren zweiten Roman mit großem Erfolg publiziert hatte. Kein Geringerer als Alfred Döblin hatte sie nach erfolglosen Versuchen als Schauspielerin zum Schreiben animiert, und Kurt Tucholsky prophezeite ihr dann als neuem Stern am Literaturhimmel eine große Zukunft. Nach Jahren im Exil konnte sie nach dem Krieg aber an ihre frühen Erfolge nicht mehr anknüpfen, erst Ende der siebziger Jahre wurde sie wiederentdeckt als prominente Vertreterin der «Neuen Sachlichkeit», einer literarischen Strömung in der Zwischenkriegszeit, für die der vorliegende Zeitroman als archetypisches Beispiel gilt.

Der Plot ist zeitlich Ende der Weimarer Republik angesiedelt, seine Ich-Erzählerin, - autobiografische Bezüge zur Autorin sind unverkennbar -, ist eine junge Frau aus der Unterschicht einer mittleren Stadt. Ihre Mutter arbeitet als Garderobiere am Theater, ihr Stiefvater ist arbeitslos. Nachdem die achtzehnjährige Doris als Stenotypistin entlassen wurde, versucht sie sich als Edel-Statistin, hat diverse Männerbekanntschaften und stielt in einem unbedachten Moment einen wertvollen Fehmantel. Aus Angst vor der Polizei flieht sie nach Berlin und sucht dort ihre Chance. Ihr Traum vom «Glanz», womit sie in ihrer unbedarften Sprache eine glänzende Karriere am Theater oder beim Film meint, aber auch eine Ehe mit einem reichen Mann, erfüllt sich in der Metropole ebenfalls nicht. Jede Form von Arbeit lehnt sie als Lebedame vehement ab, damit könne man keinen «Glanz» erreichen, glaubt sie, und schnorrt sich durch bei wechselnden Männern, hält sich jedoch nicht für eine Hure. So irrt sie also zwischen ihren verschiedenen Männerbekanntschaften und der Obdachlosigkeit hin und her, übernachtet schlimmstenfalls im Wartesaal des Bahnhofs. Vorübergehend lebt Doris im Luxus bei einem ihrer reichen Freier, wobei diese Beziehungen nie von Dauer sind und allesamt abrupt enden. Auch wenn es gegen Ende des Romans beinahe danach aussieht, eine positive Zukunft für die zwar clevere, aber ungebildete junge Frau aus dem Prekariat ist letztendlich kaum absehbar. Wenn Karl sie nicht wolle, «arbeiten tu ich nicht», dann gehe sie lieber auf den Strich. «Auf den Glanz kommt es nämlich vielleicht gar nicht so an» heißt es dazu im letzten Satz.

Dieses Melodram vom armen Mädchen in der bösen Großstadt ist in einer wunderbar dem Sujet angepassten, amüsanten Sprache geschrieben, ein alle Grammatik missachtendes falsches Deutsch wie in einem grottenschlechten Schüleraufsatz. Nach anfänglicher Irritation liest man sich schnell ein in eine derartige, auch Gossenjargon, Schlagertexte und Werbesprüche mit einbeziehende, holprig naive Prosa. Die damit aber eine Welt des Bildungsbürgertums insinuiert, in der sich statt Standeszugehörigkeit die fehlende Bildung als ein absolut gnadenloses Ausschluss-Kriterium erweist. Trotz ihrer mühelosen Erfolge bei Männern fühlt die attraktive Doris sich deshalb wie ein Niemand, sie bleibt als Frau immer ein schlechter Ersatz, Kunstseide eben statt echter Seide. «Man sollte nie Kunstseide tragen, denn die zerknautscht dann so schnell mit einem Mann» heißt es an einer Stelle im Buch. Und Gott solle ihr doch bitte «eine feine Bildung» machen, wünscht sie sich, das übrige mache sie selbst, «mit Schminke».

Immer wieder schreibt Doris trotz ihrer sprachlichen Unbeholfenheit in ihr liniertes Notizbuch. Die beißende Gesellschaftskritik mithin, die wir da lesen, erscheint quasi als Autobiografie der sympathischen Protagonistin. Deren unbeirrter Lebensmut behält stets die Oberhand in dem kunstvoll angelegten Plot, allen Rückschlägen zum Trotz. Dieser unbedingt lesenswerte Roman wurde 2003 von einer beherzten Jury in Köln zum Auftakt der Aktion «Ein Buch für die Stadt» ausgewählt. Chapeau, kann ich da nur sagen!

Bewertung vom 25.08.2017
Reich-Ranicki, Marcel; Löffler, Sigrid; Karasek, Hellmuth

. . . und alle Fragen offen


sehr gut

Die Höflichkeit der Kritik

War früher alles besser? Keineswegs! Aber TV-Sendungen wie «Das literarische Quartett» von Marcel Reich-Ranicki, Sigrid Löffler und Helmuth Karasek im ZDF, denen trauern literarisch Interessierte wie ich heute noch nach. Denn es gibt nichts Vergleichbares mehr, die 2015 wiederbelebte Nachfolge-Version unter gleichem Namen mit Volker Weidermann ist nur ein müder Abklatsch des ursprünglichen TV-Formats. Das Beste aus den Sendungen kann man allerdings in einer sorgfältig editierten Buchausgabe unter dem Titel «…und alle Fragen offen» nachlesen, jenem Zitat von Brecht aus «Der gute Mensch von Sezuan», mit dem MRR traditionell seine Sendungen beendete. Der dickleibige Band erweist sich als nützliches Kompendium der Literaturkritik und ist geeignet, dem Leser am Beispiel der besprochenen und kontrovers diskutierten Bücher diejenigen Kriterien zu verdeutlichen, die gute Literatur von schlechter unterscheiden, - nach subjektiver Meinung der jeweiligen Diskutanten allerdings. Darüber hinaus aber erwartet den Leser eine vergnügliche Lektüre, deren Unterhaltungswert manche satirische Prosa weit in den Schatten stellt.

«Meine Damen und Herren, dies ist keine Talk-Show. Was wir ihnen zu bieten haben ist nichts anderes als Worte, Worte, Worte. 75 Minuten lang Worte und, wenn’s gut geht – es ist ein Ziel, aufs Innigste zu wünschen -, vielleicht auch Gedanken. Wir werden über Bücher sprechen und über Schriftsteller. Also nichts anderes als Literatur». Mit diesen Worten leitete MRR am 25.3.1988 die erste Sendung ein. Bis Ende 2001 wurden in wechselnder Besetzung 77 Sendungen mit von niemandem für möglich gehaltenen Einschaltquoten für ein solch anspruchsvolles Format ausgestrahlt, einzelne Sendungen erreichten bis zu 1,5 Millionen Zuschauer. Zu seinem apodiktischen Konzept erklärte der Kritikerpapst: «Wir werden über Bücher sprechen, und zwar, wie wir immer sprechen: liebevoll und etwas gemein, gütig und vielleicht ein bisschen bösartig, aber auf jeden Fall sehr klar und deutlich. Denn die Deutlichkeit ist die Höflichkeit der Kritik, der Kritiker». Und weiter: «Gibt es im ‹Quartett› ordentliche Analysen literarischer Werke? Nein, niemals. Wird hier vereinfacht? Unentwegt. Ist das Ergebnis oberflächlich? Es ist sogar sehr oberflächlich».

Das Buch nun enthält auf 768 Seiten 134 Buchbesprechungen aus 63 Sendungen in verkürzter und editorisch überarbeiteter Form, ergänzt um einen Anhang mit Bücherliste und Personenregister. Das Inhaltsverzeichnis listet zu Beginn chronologisch die Sendungen und die darin jeweils besprochenen Bücher auf, im Anhang findet man außerdem eine alphabetische Liste der besprochenen Bücher nach Autoren. Dieses Sachbuch erfüllt gleich zwei nützliche Funktionen. Es ist einerseits ganz profan ein kleines Nachschlagewerk für Leser auf der Suche nach einem guten Buch, in dem man viele wichtige Autoren findet, andererseits aber auch ein Füllhorn an Beispielen für die kritisch analytische Herangehensweise an ein literarisches Werk.

Und auch wenn es dabei oft sehr polemisch zugeht in den Disputen des Quartetts, zu regelrechten Entgleisungen kommt, wenn zugespitzt subjektiv argumentiert und erkennbar ungerecht geurteilt wird, gegenüber den von Anzeigenabteilungen gepushten, wachsweich formulierten Gefälligkeits-Rezensionen des Feuilletons wird hier sehr wohltuend klare Kante gezeigt. Allerdings sind dann auch, wie bei den römischen Gladiatoren, scheinbar nur noch zwei Gesten möglich: Daumen hoch oder Daumen runter. Zwischentöne jedenfalls fehlen völlig, und Einstimmigkeit gibt es fast nie. Aber zu lachen gibt es reichlich, und en passant wird man auch noch bereichert, erfährt so manches aus dem Universum der Literatur, in dem das einzelne Buch ja nur ein winziger Stern ist am literarischen Firmament.

Bewertung vom 23.08.2017
Fontane, Theodor

Frau Jenny Treibel


ausgezeichnet

Vom Meister der Plaudertons

Dem Olymp der deutschen Schriftsteller zugehörig, ist Theodor Fontane ohne Zweifel der bedeutendste Romancier der Bismarck-Zeit, und «Frau Jenny Treibel», letzter seiner Berliner Romane, nimmt dabei den Spitzenplatz ein. Der Schillers Gedicht «Das Lied von der Glocke» entlehnte Untertitel «Wo sich Herz zum Herzen find’t» deutet ironisch auf einen Liebesroman hin. Die wahre Intention des Autors jedoch kann man einem Brief entnehmen: Dieser Roman sei geschrieben worden, erklärt er darin, um «das Hohle, Phrasenhafte, Lügnerische, Hochmütige, Hartherzige des Bourgeoisstandpunktes zu zeigen, der von Schiller spricht und Gerson meint». Mit Letzterem spielt er auf ein mondänes Modehaus der Hautevolee am Werderschen Markt in Berlin an, um damit das profan Materielle der Kleidermode in Gegensatz zum erhaben Geistigen des Dichterfürsten zu stellen, soziologisch also Bildungs- und Besitzbürgertum zu vergleichen. Wobei Fontanes uneingeschränkte Sympathie dem Geistigen gilt, und auch ein überschaubares Landleben zieht er der ungeliebten Großstadt mit ihren sozialen Fallstricken ganz entschieden vor.

Es findet sich kein Herz zum Herzen in diesem Roman, das ist die deprimierende Quintessenz dieser Geschichte, alles ist Kalkül, eine Ehe wird arrangiert und eine zweite initiiert, das alles natürlich nach erheblichen Irrungen und Wirrungen, um einen Romantitel Fontanes zu benutzen. Die Titelheldin verhindert letztendlich erfolgreich eine für die Familie finanziell unvorteilhafte Eheschließung Leopolds, ihres jüngsten, eher antriebslosen Sohnes, mit Corinna, der geistreichen und charmanten, aber vermögenslosen Tochter des verwitweten Gymnasialprofessors Schmidt. Der ist ein früherer Freier der aus einfachen Verhältnissen stammenden Jenny, die damals dann aber doch lieber den gut situierten und mit dem Ehrentitel Kommerzienrat bedachten Fabrikanten Treibel geheiratet hat. Und auch Corinna handelt mit hedonistischem Kalkül, will sich durch die Ehe mit Leopold ein finanziell sorgenfreies Leben sichern. Wie schon sein Bruder wird aber auch Leopold wohl in eine reiche Hamburger Familie einheiraten, die Mutter hat schon die entsprechenden Fäden gespannt, und die kluge Corinna geht in sich und heiratet schließlich einen viel besser zu ihr passenden Geistesmenschen, den angehenden Archäologen Marcell, ihren Vetter.

Wie immer bei Fontane entwickelt sich seine handlungsarme Geschichte fast vollständig aus einer äußerst lebendigen Konversation seiner Figuren heraus. Der dabei angeschlagene, ebenso gescheite wie amüsante und sympathische Plauderton erzeugt eine derart anheimelnde Atmosphäre, dass man als vergnügter Zuhörer gerne mit dabei wäre bei diesen, - natürlich dichterisch überhöhten -, Gesprächen der vielen Protagonisten. Wunderbar stimmig gezeichneten Figuren wie dem konzilianten Treibel oder dem durchgeistigten Prof. Schmidt mit seinen unter dem Signum «Sieben Waisen Griechenlands» regelmäßig zusammentreffenden Kollegen als Sympathieträgern stehen diametral die scheinheilige, sich permanent selbst belügende Jenny samt ihrer geltungssüchtigen, unbedarften, aber schönen Schwiegertochter gegenüber.

Insoweit ist dieser Roman über Schein und Sein weniger zeitgebunden, als es seine frühe Entstehungszeit vermuten lässt, die darin angeschnittenen Probleme jedenfalls sind ja durchweg auch heutig, der Tanz ums goldene Kalb ist virulent wie ehedem, und menschliche Selbstverwirklichung, zumal weibliche, bleibt immer noch ein weitgehend unerreichtes, hehres Ziel. Geistiges, Bildung vor allem, sofern sie nicht kommerziell verwertbar ist, zählt wenig gegenüber materiellem Besitz. Fontane ist all dies sehr verhasst gewesen, um so mehr erstaunt der versöhnliche, menschenfreundliche Duktus seiner Prosa. Die beim Leser immer wieder ein Schmunzeln auslöst und ihn, wenn er so geartet ist wie ich, in eine wohlig anheimelnde Stimmung versetzt, und ihm somit ein formidables Lesevergnügen beschert, - im wahrsten Sinne des Wortes.

Bewertung vom 20.08.2017
Sagan, Françoise

Bonjour tristesse


sehr gut

Eine Stilistin der Einsamkeit

Aus dem umfangreichen Œuvre der französischen Bestseller-Autorin Françoise Sagan ragt der Roman «Bonjour tristesse» besonders hervor. Ihr Erstling von 1954, den sie als siebzehnjährige Studentin in nur sieben Wochen geschrieben hat, ist nicht nur ihr erfolgreichstes, der Roman ist auch ihr bekanntestes Werk. In einer «Le Monde» Umfrage von 1999 nach dem besten Buch des Jahrhunderts liegt es auf Platz 41 der Bücher, die den 17.000 beteiligten Lesern im Gedächtnis haften geblieben sind. Man glaubt es kaum, dass dieser vielfach ausgezeichnete, millionenfach verkaufte, in viele Sprachen übersetzte und 1958 von Otto Preminger verfilmte Roman damals wegen seiner Unmoral heftiger Kritik ausgesetzt war, er verstieß gegen die drögen Moralvorstellungen konservativer Kreise in diesem katholisch geprägten Land.

«Ich zögere, diesem fremden Gefühl, dessen sanfter Schmerz mich bedrückt, seinen schönen und ernsten Namen zu geben: Traurigkeit». Der erste Satz enthält auch hier, wenn man Edgar Allan Poe folgt, schon die Quintessenz der erzählten Geschichte. Dem sorglosen Leben der 17jährigen Cécile, die mit ihrem Vater und dessen junger Gespielin Elsa unbeschwerte Sommerferien an der Cote d’Azur verbringt, droht ein jähes Ende, als plötzlich Anne auftaucht, eine Freundin der vor fünfzehn Jahren verstorbenen Mutter, die erfolgreich ihren Vater bezirzt. Spontane Heiratspläne der beiden Vierzigjährigen verändern schlagartig das bisherige dolce far niente, entfremden sie ihrem eine neue Ehe bisher strikt ablehnendem Vater, beenden auch abrupt das vertrauensvoll kumpelhafte Einverständnis zwischen ihnen, - Cécile ist unendlich traurig.

Aber sie ersinnt eine List, um die drohende Eheschließung zu verhindern, wobei die schmählich abservierte Elsa und der von Anne aus dem Haus verbannte, deutlich ältere Jurastudent Cyril, Céciles erste Liebe, bei dem sie gleich auch ihre Jungfräulichkeit verliert, die entscheidende Rolle übernehmen. Sie geben sich nämlich als verliebtes Paar aus, um Eifersucht und den Jagdinstinkt des casanovagleichen Vaters zu wecken. Der Frauenheld fällt auch prompt darauf herein und löst damit ungewollt ein dramatisches Finale aus. In Paris dann scheint das unbeschwerte Leben von Vater und Tochter weiterzugehen, alles ist wie früher, wären da nicht die nächtlichen Erinnerungen an diesen Sommer, bei denen etwas in Cécile aufsteigt, wie es im letzten Satz heißt, «das ich mit geschlossenen Augen empfange und bei seinem Namen nenne: Traurigkeit – komm, Traurigkeit». Ihr schlechtes Gewissen wird sie nun wohl ihr Leben lang begleiten, - vergleichbar perfide ist übrigens der intrigante jugendliche Held im deutlich amüsanteren Roman «Lob der Stiefmutter» von Mario Vargas Llosa mit gleicher Thematik.

Es ist die federleichte Sprache, in der diese melancholische Geschichte erzählt wird, aus einer fast noch kindlich naiven Perspektive der völligen Sorglosigkeit heraus, die ich besonders beeindruckend fand. Das Einfühlungsvermögen der Autorin in ihre damals gleichaltrige Protagonistin ist jedenfalls erstaunlich. Françoise Sagan zeichnet in kurzen Sätzen mit einfachen Worten, darin Hemingway ähnelnd, treffsicher ein psychologisch glaubwürdiges Bild ihrer sympathischen Romanfigur, deren entwaffnende Naivität ihre rücksichtslos egoistischen Ziele derart übertüncht, dass man ihr alles verzeiht als Leser. Der existentialistische Roman ist Ausdruck eines Lebensgefühls, welches die als «Stilistin der Einsamkeit» apostrophierte Schriftstellerin wie kein anderer mehrfach in ihren Werken beschrieben hat. Ihre von keinen Geldsorgen geplagten Figuren gehören der «armen, abgestumpften Rasse der Genussmenschen» an, wie es im Roman heißt, die damals, anders als in der Spaßgesellschaft unserer Tage, noch nicht derart dominant war. Insoweit ist «Bonjour tristesse» auch das Zeitzeugnis einer vergangenen Epoche, der schmale Band gehört ohne Zweifel zu den immer noch lesenswerten Klassikern der Weltliteratur.