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Bellis-Perennis
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Wien

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Insgesamt 1110 Bewertungen
Bewertung vom 31.10.2023
Böschemeyer, Uwe

Aussöhnung mit uns selbst und dem unvollkommenen Leben


sehr gut

Prof. Dr. Uwe Böschemeyer ist Psychotherapeut und Theologe ist der Entwickler der »Wertimagination« und der »Wertorientierten Persönlichkeitsbildung«. Er ist Leiter des Instituts für Existenzanalyse und Logotherapie sowie der Akademie für Wertorientierte Persönlichkeitsbildung und hat zahlreiche Bestseller verfasst.

Dieses Buch ist sein neuester Ratgeber, in dem er „den Mut zur Lücke“ empfiehlt, auch wenn er seinen Rat nicht so nennt. Niemand muss perfekt sein, dafür authentisch. Er gibt Anregungen, wie es uns gelingen kann, in Zeiten von Hass und Unsicherheit, sich selbst zu verändern.

In zwei großen Blöcken stellt er seinen Lesern Tipps und Tricks vor, wie es gelingen kann, mit sich und dem eigenen Umfeld ins Reine zu kommen. Natürlich gibt es dafür kein Patentrezept, doch Böschenmeyers Hinweise können ein Rüstzeug für die Bewältigung von Schwierigkeiten in alle Lebenslagen sein. So mancher bisherige Glaubenssatz kann durch einen neuen, positiven ersetzt werden.

Die wichtigste Botschaft ist meiner Ansicht folgende:

„Du darfst sein, wie du bist“

Fazit:

Ein kleines Buch zum Innehalten und zum Nachdenken, dem ich gerne 4 Sterne gebe.

Bewertung vom 28.10.2023
Catelli, Giovanni

Camus muss sterben


sehr gut

»Der Gipfel der Absurdität ist der Tod durch einen Verkehrsunfall.«

War der Unfall des Nobelpreisträgers Albert Camus am 4. Jänner 1960 ein Werk sowjetischer Agenten? Oder lag alles bloß am übermotorisierten Auto seines Verlegers? Wie bei vielen Prominenten, die einem profanen Autounfall zu Opfer fielen, tauchen recht schnell diverse Verschwörungstheorien auf - siehe Fürstin Gracia Patricia (1982) oder Lady Diana Spencer (1997). Der Tod Albert Camus und seinem Verleger Michel Gallimard bildet da keine Ausnahme. Noch dazu, wo der Unfall, wie es scheint, von der Polizei nachlässig untersucht worden ist.

Der italienische Autor Giovanni Catelli hat seine Theorie zu Camus‘ Unfalltod bereits 2019 veröffentlich. Der Verlag Emons hat das Buch nun neu herausgebracht.

Mit diesem, an manchen Stellen verstörenden Buch, versucht Catelli den mysteriösen Todesfall neu aufzurollen. Seiner Meinung nach hat der KGB Albert Camus umbringen lassen. Sind dem französischen Autor seine sowjetkritischen Reden letztlich zum Verhängnis geworden? Immerhin hat sich Albert Camus lautstark für die Verleihung des Literaturnobelpreises an Boris Pasternak (Dr. Schiwago), der die Sowjetregierung kritisch beleuchtet hat, eingesetzt.

Catelli stützt sich bei seinen Theorien auf das Tagebuch von Jan Zábrana, das erst vierzig Jahre nach dem Tod Camus ans Licht kommt. Da ist Zábrana allerdings bereits verstorben und kann nicht mehr befragt werden. Historisch interessant sind die Ausflüge in das Ungarn von 1956 bzw. in die Tschechoslowakei von 1968 , als die UdSSR die dortigen Volksaufstände blutig niederschlägt, sowie die Geschichte(n) rund um die Übersetzung von Boris Pasternaks „Dr. Schiwago“, jenem Historienepos, der in der UdSSR als Bedrohung der Macht gesehen und deswegen verboten ist. Catelli geht auch auf die politische Situation in Frankreich der 1960er-Jahre ein, in der die Kommunistische Partei in Frankreich doch einigen Einfluss hatte.

Giovanni Catelli zählt zahlreiche Menschen, die (nachweislich oder nur vermutet) (Gift)Anschlägen des KGB zum Opfer fallen auf. Ein Weg-Zeit-Diagramm, das Catelli erstellt, lässt eine solche Manipulation an Michel Gallimards Auto durchaus im Bereich des Möglichen erscheinen.

Allerdings bleibt uns der Autor handfeste Beweise schuldig. Übrig bleibt, wie so oft, wenn ein Prominenter bei einem Autounfall stirbt, ein gewisses Unbehagen bzw. Rest von Unglauben an der Tatsache, dass auch Promis bei Autounfällen sterben können.

Dazu passt auch Albert Camus‘ eigene Feststellung:

»Der Gipfel der Absurdität ist der Tod durch einen Verkehrsunfall.«

Dass ihn dann dieser Tod auch tatsächlich ereilt, ist wohl ein Treppenwitz der Geschichte.

Fazit:

Dieser Mischung aus Spionage-Thriller, Investigativ-Roman und Verschwörungstheorie gebe ich gerne 4 Sterne.

Bewertung vom 28.10.2023
Pleschinski, Hans

Der Flakon (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Man schreibt das Jahr 1756, Friedrich II. der Große, überfällt Sachsen ohne die sonst übliche Kriegserklärung. (Friedrich) August II. Kurfürst von Sachsen und König Polen (1696-1763) und sein erster Minister Heinrich von Brühl (1700-1763) setzen sich nach Warschau ab, um dort militärische Hilfe von ihren Verbündeten zu erbitten.

Beider Ehefrauen bleiben in Dresden, die Gemahlin des Königs, Maria Josepha von Habsburg (1699-1757), aus Krankheitsgründen, Maria Anna Franziska Reichsgräfin von Brühl aus Staatsräson.

Während die geschlagene Armee Sachsen kapituliert und der König in der Ferne versucht, zu retten, was noch zu retten sein könnte (wie man aus der Geschichte weiß eher weniger, denn mehr), schmiedet die Reichsgräfin einen Plan. Man müsste doch, ....

Kurzerhand setzt sie sich mit ihrer Kammerzofe Luisa von Barnhelm in die ordinäre Postkutsche und reist nach Leipzig, wo der Preußenkönig Hof hält. In Leipzig trifft die Reichsgräfin auf Friedrichs schwer verschuldeten Kammerdiener Glasow. Kann die resolute Reichsgräfin den Kammerdiener für ihre Pläne gewinnen?

Meine Meinung:

Hans Pleschinski ist ein überaus farbiger Roman gelungen, der gut unterhält und der Sachsen im 18. Jahrhundert zeigt. Neben dem unvermeidlichen Kriegsgeschehen erzählt der Autor einiges über Dresden und seine Bewohner. Es kommt allerdings nicht nur die High Society, sondern auch das Volk, das wie immer das Leid tragen muss, zu Wort. So wird die Misswirtschaft des Kurfürsten August II. und des Reichsgrafen von Brühl angeprangert. Während das Volk unter der ihm auferlegten Steuerlast leidet, nach Missernten hungert und die ohnehin kleine Armee kaputt gespart wird, frönen die beiden mächtigen Männer ihrer Leidenschaft für opulente Bauten und Kunstschätzen. Die Brühlschen Gärten und Brühlsche Terrasse geben beredtes Zeugnis für die teuren Hobbys des Ministers.

Wie dem Epilog zu entnehmen ist, hat Pleschinski eine kleine und zudem unklare Notiz entdeckt, die als „Glasowsche Angelegenheit“ in die Hofchronik des Grafen Lehndorff eingeht. Diese diffuse Randbemerkung, der Glasow sei ein Spion der Reichsgräfin, reicht, um Pleschinskis Fantasie zu entfachen. Hat sie oder hat sie nicht? Die Antwort bleibt es offen. Zuzutrauen wäre es der Anna Maria Franziska Reichsgräfin von Brühl sehr wohl, spricht sie doch ihre Gedanken zum Tyrannenmord offen aus. .

Ich habe diesen historischen Roman mit großem Interesse gelesen, da ich im Herbst 2022 eine Woche in Dresden verbringen durfte und mich vorab in die Geschichte Sachsens eingelesen habe. Natürlich bin ich auf der Brühlschen Terrasse spaziert.

Hans Pleschinski hat mit diesem Roman vergnügliche Lesestunden beschert, treten doch zahlreiche bekannte Persönlichkeiten des 18. Jahrhunderts auf. Gut gelungen ist die Darstellung der Lebensumstände des einfachen Volkes, abseits von Zobelpelzen und Juwelen.

Fazit:

Gerne gebe ich diesem penibel recherchierten und opulent erzählten historischen Roman 5 Sterne.

Bewertung vom 28.10.2023
Heinrich, Ursula

Mord im Astoria (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Ein Gauner unter Mordverdacht

Just am 13. Juli 1927 beschließt Theo von Hagendorf, augenscheinlich Sohn eines reichen Reeder aus Hamburg, das Wiener Hotel Astoria auf „französisch“ zu verlassen. Denn Theo ist eigentlich ein Hochstapler, Zechpreller und Gauner, der sich Aufenthalte in teuren Hotels erschleicht sowie die eine oder andere Affäre mit einsamen Frauen hat und eine unbezahlte Rechnung hinterlässt. Doch diesmal gelingt ihm der Abgang nicht so recht elegant. Seine aktuelle Flamme Adele vermisst ein teures Collier und, obwohl sie behauptet immer alleine im Zimmer gewesen zu sein, findet die Polizei dort Theos Fingerabdrücke.
Für die Polizei ist der Fall klar, denn Theo, eigentlich Teddy Steuber, ist kein Unbekannter, hat er doch schon dreimal wegen Zechprellerei eingesessen. Zunächst gelingt ihm die Flucht, doch dann wird Adele ermordet und der Linkshänder Teddy ist natürlich der Hauptverdächtige. Noch dazu ist Teddys Messer die Tatwaffe.
Teddys Vater, ehemaliger Polizeibeamter, begleitet seinen Sohn zu Polizei, um die Sachlage klarzustellen, doch niemand will ihm glauben, sprechen doch die Indizien gegen Teddy.

Als dann alle verfügbaren Polizeikräfte zu einer Demonstration auf der Ringstraße gerufen werden, gelingt es Teddy, im darauffolgenden Chaos erneut zu fliehen. Blöderweise ist damit noch nichts gewonnen, denn außer seinem Vater glaubt nur noch Mina, eine Schreibkraft der Wiener Polizei, an seine Unschuld. Mina, die an einem Kriminalroman schreibt, unterstützt Teddy tatkräftig, nur um selbst in Gefahr zu geraten.

Wird es den beiden gelingen, Adeles Tod aufzuklären und Teddys Unschuld zu beweisen?

Meine Meinung:

Als historischen Hintergrund hat sie sich die Ereignisse rund um den Justizpalastbrand vom 15. Juli 1927 ausgesucht. Die Vorgeschichte zu den Demos und der Brandstiftung ist das sogenannte „Schandurteil von Schattendorf“: Eine Versammlung der Sozialistischen Frontkämpfer wurde von einer Gruppe nationalistischen Schutzbündlern beschossen. Dabei wurden zwei unbeteiligte Menschen ermordet - ein Kriegsinvalide und ein Kind. Der nachfolgende Prozess zeigte deutlich, dass Morde an Arbeitern und Sozialisten als „Kavaliersdelikt“ behandelt worden sind. Die Ermittlungen der Polizei sowie die Zeugenaussagen waren widersprüchlich, sodass die Geschworenen die Zweidrittelmehrheit für einen Schuldspruch nicht erreicht haben. Der Richter fällte daher eine Freispruch für die drei Angeklagten. Der mutmaßliche Mord wurde als Notwehr dargestellt, und die Täter als „ehrenwerte Männer“.
Nach dem Bekanntwerden des Urteils kam es in Wien zu einem Generalstreik, der von der berittenen Polizei gewaltsam aufgelöst wurde. In diesem Zusammenhang wurde der Justizpalast - als Symbol für die ungerechte Justiz - in Brand gesteckt. Bilanz des Polizeieinsatzes: 84 tote Demonstranten, 5 tote Polizisten und Hunderte Verletzte auf beiden Seiten. Einer davon ist der fiktive Charakter von Teddy Steubers Vater, der ehemalige Polizist.

Der Autorin gelingt es ausgezeichnet, das Leben der Zwischenkriegszeit in Wien darzustellen. Dieser Krimi besticht durch das Lokalkolorit und die gut herausgearbeiteten Charaktere.

Ursula Heinrich hat mit Teddy Steuber eine sympathische Figur geschaffen. Ein Schlitzohr, dem man fast nicht böse sein kann. Auch der Charakter der Mina Nowak, die davon träumt, einen Kriminalroman zu schreiben und ihr Herz am rechten Fleck hat, gefällt mir. Sie schnüffelt in den Akten, wird natürlich erwischt und hilft dennoch Teddy bei seinen Nachforschungen. Unterstützung erhalten die beiden von Otto Novacs, dem Besitzer der Veilchen-Bar, mit dem Teddy im Gefängnis war.

Ich hatte recht bald eine Idee, die sich als richtig erwiesen hat. Trotzdem habe ich mit diesem Krimi vergnügliche Lesestunden verbracht.

Fazit:

Gerne gebe ich diesem Krimi, der im Wien von 1927 spielt, 5 Sterne.

Bewertung vom 26.10.2023
Dützer, Volker

Die Unerhörten


ausgezeichnet

»Vergiss nie, dass man eine Brücke stets von zwei Seiten baut, sonst stürzt sie ein.«


Auch im dritten der Reihe um Hannah Bloch fehlt es nicht an Dramatik. Inzwischen sind wir im Jahr 1964 angelangt und die Zeit Nazi-Verbrecher zu jagen und zu enttarnen ist vorbei. Sie folgt ihrem Ehemann Scott Young in die USA. wenig später muss sie feststellen, dass Rassismus hier zum Alltag gehört. Die Afroamerikaner sind hier, trotz Massenprotesten, die Unerhörten.

„Sie hatte Deutschland verlassen, weil sie die Jagd nach Kriegsverbrechern beinahe das Leben gekostet hatte. Für ihr Verlangen, die kleinen Nazis und Mitläufer zur Rechenschaft zu ziehen, hatte sie einen hohen Preis gezahlt, Freunde und Weggefährten verloren, allen voran Ruth. Sie war nicht in die USA immigriert, um ihren Kampf hier fortzusetzen. Frieden und Vergessen war es, was sie hatte finden wollen.
Und nun begann alles von vorne. Es entsprach eben ihrer Natur, sich einzumischen. Wie könnte sie jemals, nach alldem, was sie in Deutschland während des Krieges erlitten hatte, schweigend mit ansehen, wie Menschen nur aufgrund ihrer Hautfarbe gequält und gedemütigt wurden?“

Als während der Protestmärsche gegen Rassismus 1965 Scott getötet wird, hält Hannah nichts mehr in den USA. Sie kehrt nach Deutschland zurück, nicht ohne Ben Morrison, einen schwarzen Jungen, den sie in ihr Herz geschlossen hat und der unbedingt Brücken konstruieren lernen will, mitzunehmen. Doch damit sind ihre Probleme noch nicht zu Ende, denn in Frankfurt am Main kreuzen sich Hannahs Wege mit jenen der sechzehnjährigen Marie Lenz, die vor Kurzem ein dunkles Familiengeheimnis in ihrer Familiengeschichte entdeckt hat, und ob der Doppelmoral der Nachkriegszeit von zu Hause ausgerissen ist und ihre eigenen Nachforschungen anstellt.

Meine Meinung:

Auch in diesem dritten Teil der Reihe ist die Handlung unglaublich fesselnd aufgebaut. Die regelmäßigen Perspektivenwechsel zwischen den einzelnen Protagonisten erlauben tiefe Einblicke in die Gedanken und Gefühle der relevanten Charaktere. Sehr gut sind auch Hannahs Rückblicke in die Vergangenheit gelungen. Die sind für jene Leser, die die Vorgänger noch nicht kennen, unerlässlich. Trotzdem ist es ratsam „Die Unwerten“ und „Die Ungerächten“ zu lesen, um Hannahs Beweggründe kennenzulernen und zu verstehen.

Sprachlich sind Volker Dützer historische Romane ein Genuss, wenn auch der Inhalt (NS-Zeit, Judenverfolgung und Nachkriegszeit) auf manche verstörend wirken könnten. Fakten und Fiktion sind gekonnt zu einem spannenden Plot verwebt.

Wie im Nachwort zu lesen ist, hat Volker Dützer penible Recherche betrieben. Die eine oder andere historische Begebenheit musste aus Rücksicht auf die Dramaturgie des Romans ein wenig geglättet werden. Ob es, wie der Autor andeutet, einen möglichen vierten Band geben könnte, steht noch in den Sternen. Doch ich habe einen Namen ausgemacht, der in den späteren Jahren in Deutschland noch Geschichte schreiben wird: Ulrike Meinhof. Sollte es ein weiteres Buch mit Hannah Bloch geben, bin ich wieder dabei.

Fazit:

Dieser dritte Teil der Hannah-Bloch-Reihe hat es in sich. Wie schon oben angesprochen, empfehle ich, die beiden ersten Teile aus Hannahs Leben zu lesen. Dieser historische Roman erhält 5 Sterne und eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 26.10.2023
Jean, Michel

Tiohtiá:ke


ausgezeichnet

Dieser Roman von Michel Jean handelt von Élie Mestenapeo, einem jungen Innu, der wegen Mordes an seinem gewalttätigen und alkoholsüchtigen Vater nicht nur zehn Jahre im Gefängnis von Montréal verbracht hat, sondern - wie es die ungeschriebenen Gesetze der Innu vorschreiben - aus der Gemeinschaft seiner Gemeinde Nutashkuan an der Côte Nord verbannt worden ist. Nach Verbüßung der Haftstrafe kann Élie daher nicht zurück in sein Heimatdorf und auch seine Mutter, derentwegen er ja im Gefängnis gesessen ist, nimmt keine Notiz von ihm.

So landet er bei einer Gruppe autochthonen Männern und Frauen zu, die als Obdachlose auf den Straßen Montréals – Tiohtiá:ke, wie die Stadt in der Sprache der Mohawk genannt wird – leben.

Anders als zahlreiche andere Autochthone gelingt es Élie Mestenapeo unter den Obdachlosen, die unterschiedlichen Nationen wie den Innu, Cree, Atikamekw oder Inuit angehören, Freunde zu finden. Obwohl jeder von ihnen seine eigene Geschichte hat, helfen vor allem Geronimo, Charlie, der Sänger Caya, die Inuit-Zwillinge Mary und Tracy aus Nunavik oder der alten Nakota Jimmy, der die Obdachlosen in seinem Kochmobil mit Essen versorgt, über die erste Zeit.

Mit den Zwillingen Mary und Tracy verbindet ihn eine besondere Freundschaft, als er entdeckt, dass Mary ihre Tochter Lisbeth zur Adoption freigegeben hat. Lisbeth ist nun Ärztin, wird Élies Freundin und bestärkt ihn, seinen Schulabschluss zu machen und zu studieren.

Als dann mehrere Obdachlose, darunter auch Mary, durch scheinbare (Auto)Unfälle getötet werden, beginnt Élie zu recherchieren.

In einem Selbstbesinnungscamp, in dem er auf Anraten von Nakota-Jimmy, arbeitet, findet Élie Mestenapeo zu seinen Wurzeln zurück.

Meine Meinung:

Dieses Buch hat mich so berührt, dass ich es in einer Nacht gelesen habe. Ich habe es nicht weglegen können. Michel Jean spricht in diesem Buch neben Élie Mestenapeo zahlreiche andere Schicksale stellvertretend für das Unrecht, das den Autochthonen angetan worden ist, an. Da geht es um erzwungene Sesshaftigkeit durch die dann die Jagd und das Fischen als Lebensgrundlage wegfallen und die, nunmehr in eilig errichteten Häusern lebenden Autochthonen, zum Nichtstun verurteilt worden sind. Dass ein Großteil dieser Menschen von Alkohol und Drogen abhängig geworden sind, ist keine Überraschung. Ohne sinnvolle Beschäftigung und der Traditionen beraubt, sind Tage ewig lang.

Ein weiteres dunkles Kapitel in der Geschichte Kanadas ist die Verschleppung der autochthonen Kinder in kirchliche Umerziehungsinternate, die ihre Auswirkungen auf die Menschen bis heute haben.

Allerdings gibt es einige, die trotz (oder gerade deswegen) ihre Menschlichkeit haben bewahren können.

Dieser Roman schließt an die anderen Romane Michel Jeans an und ist quasi die Brücke ins 21. Jahrhundert. Wie begegnen wieder der Anwältin Audrey Duval und Nakota-Jimmy, die bereits in „Maikan“ eine wichtige Rolle gespielt haben.

Dass sich Élie Mestenapeos Schicksal zum Guten wendet, ist einer Heerschar von Personen zu verdanken, doch nicht zuletzt Élie selbst, der hart dafür arbeitet.

Das Buch selbst ist in gediegener Aufmachung inklusive Lesebändchen im kleinen österreichischen Verlag Lojze Wieser erschienen.


Fazit:

Ein bewegendes Buch, das ich mit einer unbedingten Leseempfehlung und 5 Sterne versehe.

Bewertung vom 24.10.2023
Roll, Evelyn

Pericallosa (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Als in Evelyn Rolls Kopf ein Aneurysma platzt und sie die Notoperation knapp überlebt, ist ihr Leben von einem Augenblick zum anderen verändert. Mehr als ein Jahr braucht sie, um wieder ins Leben zurückzukehren. Dazwischen liegen höchst sonderbare Zwischenebenen. Aus den Tiefen ihres Gedächtnisses steigen Erinnerungsfetzen ihrer Familie sowie Fragmente verschiedener Musikstücke, die passend zur jeweiligen Epoche, Ohrwürmern gleich, ständig präsent sind, empor.

Evelyn Roll beginnt sich mit der Rolle ihrer Familie in der NS-Zeit auseinanderzusetzen. Als Nachfahrin der Kriegsgeneration hat sie, wie Tausende andere auch, ihre Fragen nicht stellen dürfen und wenn sie es trotzdem getan hat, keine Antwort erhalten. Es ist an der Autorin hier Licht ins Dunkel zu bringen.

Dieser Teil der Biografie ist genauso interessant wie der medizinische. Evelyn Roll interessiert sich für das menschliche Gehirn. Manchen Lesern wird das möglicherweise zu komplex sein, denn man steigt tief in die Medizin ein. Ich persönlich finde das Gehirn und seine Strukturen faszinierend.

Was ist nun die Pericallosa? Sie heißt mit vollständigen Namen Arteria pericallosa und versorgt (vereinfacht gesagt) das Corpus callosum, also jene Faserverbindung („Balken“), die den Austausch zwischen den beiden Gehirnhälften koordiniert.

Das Buch erinnert ein wenig an eine Familienaufstellung. Das Aneurysma verändert Evelyn Rolls Leben von Grund auf. Ehemals Wichtiges wird zur Nebensache.

Fazit:

Ein interessantes Buch, dem ich gerne 4 Sterne gebe.

Bewertung vom 24.10.2023
Schwarzkopf, Margarete von

Der Stein des Todes


sehr gut

Kunsthistorikerin und Amateurdetektivin Anna Bentorp muss ihre Urlaubstage alleine verbringen, hat sich doch ihr Freund Richard das Bein gebrochen. Zunächst verbringt sie ein paar Tage auf Kreta, wo sie das Gerücht hört, dass es zu dem legendärem Diskos von Phaistos, der 1908 ausgegraben worden ist, einen Zwilling geben soll. Dieser Mär geht auch ein deutscher Journalist nach, der wenig später, wie könnte es auch anders sein, tot aufgefunden wird.

Anna verlegt ihren Urlaub nach Maremma in Italien. Doch auch dort ist nicht alles so, wie es scheint. Annas Vermieterin Alessandra verschwindet plötzlich und die Möglichkeit einer Entführung steht im Raum, ist doch die vermietete Villa voll mit Artefakten, darunter auch minoisches Kunsthandwerk.

Als dann KHK Schumann Anna um Mithilfe bei der Recherche rund um den Tod des deutschen Journalisten ersucht, entdeckt die Kunsthistorikerin, dass es einen Zusammenhang zwischen Alessandras Verschwinden und dem Mord auf Kreta gibt. Doch welchen? Und was haben die Einbrüche in die Villa damit zu tun?

Um den Hintergrund diverser Beteiligter zu durchleuchten, muss Anna ihren besserwissenden Kollegen Harald Forstauer bemühen. Der fördert immer wieder interessante Details zutage, die Anna dabei helfen, das Geheimnis um die angebliche Dublette des Diskos, zu enthüllen.

Meine Meinung:

Ich verfolge die Reihe rund um Anna Bentorp seit Beginn an.

Dieser hat mir nicht ganz so gut gefallen. Zum einen passt der Titel nicht richtig: Der Diskos entpuppt sich als Keramik und nicht als Stein. Des Weiteren wird rund ein Dutzend Mal erwähnt, dass Richard sich das Bein verletzt hat. Wir Leser können uns das merken. Auch dass KHK Schumann Anna wegen seiner schlechten Sprachkenntnisse in seine Ermittlungen einbezieht, erscheint diesmal ein wenig unglaubwürdig. Es gibt Dolmetscher bei der Polizei.

Sehr gut gelungen ist die Verknüpfung der drei Zeitebenen (1908, in die Jahre der deutschen Besatzung Kretas während des Zweiten Weltkrieges und die Gegenwart), die an verschiedenen Orten für Tote rund um den Diskos sorgen.

Die historischen Details zu den Ausgrabungen von 1908 sowie zur Besatzung Kretas durch die deutsche Wehrmacht sind sehr gut recherchiert und sind gut in die Handlung integriert. So manch honoriger Archäologie hat hier wegen seiner Gier den einen oder anderen schwarzen Fleck auf seiner weißen Weste.

Harald Forstauer, der üblicherweise durch sein ewiges Besserwissen nervt, hat diesmal die sympathische Rolle des Rechercheurs im Hintergrund.

Fazit:

Für mich ist dieser 7. Fall für Anna Bentorp nicht der beste Krimi der Reihe (mein Favorit ist „Das doppelte Grab“). Trotzdem habe ich ihn gerne gelesen und bewerte ihn mit 4 Sternen.

Bewertung vom 24.10.2023
Balsiger, Roger Nicholas

Der Uhrmacher des Zaren


ausgezeichnet

Roger Nicholas Balsiger erzählt nicht nur die Lebensgeschichte des Industriepioniers, Heinrich Moser (1805-1874) aus Schaffhausen, sondern auch eine faszinierende Familien- und Firmengeschichte über mehrere Generationen.

Heinrich Moser lernt das Uhrmacherhandwerk bei seinem Vater Erhard und macht sich nach seinen Wanderjahren und einer zusätzliche Lehre in Le Locle nach Russland auf, um dort ein Glück zu suchen. Es gelingt ihm in St. Petersburg, die Lieblingsuhr des Zaren zu reparieren, was ihm zu Vermögen, Ansehen und mehreren Geschäften verhilft.
Zurück in der Schweiz baut er seine Fabrik zu einem Imperium aus und schreckt auch vor visionären Ideen, wie ein Kraftwerk am Rheinfall nicht zurück.

Daneben wird auch die private Seite des Unternehmers beleuchtet, die nicht immer von Empathie geprägt ist. Besonders seinem Sohn Henri ist er unnachgiebig, als der sich nicht für das Uhrenimperium interessiert. Nach dem Tod seiner ersten Frau Charlotte heiratet er die junge Adelige Fanny Sulzer-Wart (1848–1925). Aus dieser Ehe gehen Fanny (1872-1953) und Mentona (1874-1971) hervor.

Mentona, die von ihrer Mutter kaum beachtet und wenn, dann nur gemaßregelt wird, heiratet 1909 Hermann Balsiger. Sie schließt sich den Sozialisten an, um später, Mitbegründerin der Kommunistischen Partei der Schweiz zu werden. Die Familiengeschichte endet mit dem Jahr 1925, obwohl es mit den Protagonisten spannend weitergeht. Eine kurze Zusammenfassung gibt es im Nachwort.

Meine Meinung:

Roger Nicholas Balsiger, Urenkel von Heinrich Moser, erhält im Jahr 1969 ein Paket mit Briefen, Fotografien und Dokumenten. Fünfzig Jahre später liegt nun die fulminante Familiengeschichte vor.

Dem Autor ist eine sehr detailreiche Familiengeschichte gelungen, die leider manchen potenziellen Leser aufgrund ihrer Detailverliebtheit abschrecken könnte. Ich persönlich habe mit den historischen Zahlen, Daten und Fakten kein Problem - im Gegenteil, ich finde solche Informationen interessant.

Die Familiengeschichte ist in drei Teile gegliedert, die jeweils eine Person in den Fokus stellt: Heinrich, Henri und Mentona. Allerdings muss ich zugeben, dass mir der zweite Teil um Henri weniger gut gefallen als die beiden anderen. Über Heinrich und seine Zeit im Zarenreich hätte ich gerne noch mehr erfahren. Doch auch sein späteres Leben in der Schweiz ist interessant zu lesen. Seine visionären Ideen stoßen nicht immer auf Gegenliebe. Nicht minder interessant ist seine zweite Ehefrau Fanny Sulzer-Wart (1848–1925), die an mehreren Traumata aus der Kindheit leidet und Mentona gegenüber genauso agiert, wie sie es von ihrer eigenen Mutter erdulden musste. Fanny Sulzer-Wart ist auch deswegen eine schillernde Figur, weil sie Siegmund Freud konsultiert hat und als Emmy von N. in die Medizin eingegangen ist.

Mentona, die vier Tage vor Heinrichs Tod geboren ist, wird von ihrer Mutter vernachlässigt, da sie ihr die Schuld an Heinrichs Tod gibt. Der Konflikt Mutter/Tochter zieht sich das ganze Leben hindurch. Mentona wird selbst ihre Autobiografie “Ich habe gelebt.“ verfassen. Sie erscheint 1986 mit einem Nachwort von Roger Nicholas Balsiger. Diese Autobiografie sowie das Buch von Eveline Hasler „Tochter des Geldes. Mentona Moser – die reichste Revolutionärin Europas“ muss ich mir auch noch besorgen, da mich die Familiengeschichte der Mosers angetriggert hat.

Fazit:

Eine detaillierte Familiengeschichte der Uhrendynastie Heinrich Moser. Gerne gebe ich hier 5 Sterne.

Bewertung vom 24.10.2023

Wapke


ausgezeichnet

Autor Michel Jean, bekannt durch seine Romane „Kukum“, „Atuk“ und „Maikan“ hat in dieser Anthologie 14 Kurzgeschichten von 13 Autorinnen und Autoren der First Nations Kanadas gesammelt.

Diese Kurzgeschichten beschäftigen sich durchwegs mit dem „WAPKE“, dem „morgen“, wie die Zukunft in der indigenen Sprache heißt. So lesen sich einige Geschichte fantastisch bis visionär. Das Spektrum reicht von SF und Endzeitgedanken bis zu Fantasy. Allen gemeinsam ist jedoch, dass sie sich mit der verlorenen Zukunft der Indigenen beschäftigen. Eine Zukunft, die es nicht mehr gibt, seit die Europäer Nordamerika in Besitz genommen haben.

Interessant ist, dass die 14 Autorinnen und Autoren sehr ähnliche, durchwegs pessimistische Gedanken zu Papier gebracht haben. Stünde nicht der jeweilige Name bei der Geschichte, so könnte man annehmen, diese wären von einer einzigen Person verfasst worden. Nur hin und wieder ist ein winziger Hoffnungsschimmer zu spüren.

Diese 14 Autorinnen und Autoren sind: Joséphine Bacon (Innu), Katia Bacon (Innu), Marie-Andrée Gill (Innu), Elisapie Isaac (Inuk), Michel Jean (Innu), Alyssa Jérôme (Innu), Natasha Kanapé Fontaine (Innu), J.D. Kurtness (Innu), Janis Ottawa (Atinamekw), Virginia Pésémapéo Bordeleau (Cree), Isabelle Picard (Wendat), Louis-Karl Picard-Sioui (Wendat), Jean Sioui (Wendat), Cyndy Wylde (Anicinape und Atikamekw).

Apropos Namen! Schade finde ich, dass außer den Fotos von Herausgeber Michel Jean und dem Übersetzer Michael von Killisch-Horn keine weiteren AutorInnen-Bilder zu finden sind. Wollten die Autorinnen und Autoren ihre Fotos nicht veröffentlicht sehen? Oder sind sie nicht zu beschaffen gewesen? Hier wurde eine einmalige Chance vertan, den Geschichten Gesichter zuzuordnen.

Das Buch selbst ist in gediegener Aufmachung inklusive Lesebändchen beim kleinen österreichischen Verlag Lojze Wieser erschienen.

Fazit:

Vierzehn Kurzgeschichten, die Einblick in die Seele der First People Nordamerikas geben. Gerne gebe ich hier 5 Sterne und eine Leseempfehlung.