Benutzer
Benutzername: 
Bories vom Berg
Wohnort: 
München
Über mich: 
Sämtliche von mir geschriebenen Rezensionen sind hier auf Buecher.de veröffentlicht und alle über diese Profilseite abrufbar. Meine eigene Website bietet zusätzlich Auswahlen nach Sterne-Bewertung, listet meine Rezensionen aller wichtigen Buchpreise übersichtlich auf und enthält ergänzend im Anhang viele Informationen rund ums Buch, besuchen Sie mich! Meine Website: ortaia-forum.de

Bewertungen

Insgesamt 957 Bewertungen
Bewertung vom 06.03.2018
Geiger, Arno

Unter der Drachenwand


ausgezeichnet

Zwischen Hoffnung und Horror

In seinem jüngst erschienenen Roman «Unter der Drachenwand» hat der österreichische Schriftsteller Arno Geiger, wie schon in früheren Romanen, wieder einen Antihelden in den Mittelpunkt gestellt, einen sympathischen Drückeberger diesmal, ein in Russland im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs mittelschwer verwundeter Soldat auf Heimaturlaub. Der Autor hat im Interview erklärt, dass er den Stoff für seine Geschichte einem lange zurückliegenden Zufallsfund verdankt, der umfangreichen Korrespondenz des Lagers «Schwarzindien» am Mondsee, eine Einrichtung der NS-Kinderlandverschickung. Ausgelöst durch diesen literarischen Impuls sei aus der Trouvaille nach zehnjähriger Vorbereitungszeit dann der vorliegende Roman entstanden.

Veit Kolbe ist nach Abitur und Wehrdienst lückenlos in den Zweiten Weltkrieg hineingeschlittert, er wird 1944, im letzten Kriegsjahr, nach seinem Lazarettaufenthalt, wehruntauglich geschrieben. Weil er in Wien die stupiden Naziparolen seines Vaters nicht mehr ertragen kann, flüchtet er zu seinem Onkel, der in dem kleinen Dorf Mondsee als Gendarm eingesetzt ist. Während der Krieg seinem damals schon deutlich absehbaren Ende zusteuert, genießt er, allmählich genesend, das überschaubare, ländliche Leben in seinem idyllischen Zufluchtsort am See unter der Drachenwand. Dort entwickelt sich ein Liebesverhältnis zwischen dem sexuell noch völlig Unerfahrenen mit der im gleichen Haus wohnenden «Darmstädterin». Die verheiratete Margot ist mit ihrem Baby aus der Großstadt hierher evakuierten worden, sie hatte bei Kriegsausbruch ihren Mann überstürzt geheiratet, weil der als verheirateter Soldat mit Kind dann deutlich mehr Anspruch auf Heimaturlaub hat. Trickreich, notfalls auch durch Urkundenfälschungen, gelingt es dem immer noch an seinen Verwundungen leidenden Veit mehrfach, Atteste über seine Wehruntauglichkeit zu bekommen, er will sich den Krieg so lange vom Leibe halten wie möglich. Als überzeugter Zivilist ist der 24Jährige nach fünf Jahren als Soldat nicht nur kriegsmüde, er sieht auch keinerlei Sinn mehr in den verlustreichen Kämpfen während der Endphase des aussichtslos gewordenen Krieges.

Dieser tagebuchartige Gesellschaftsroman über die Auswirkungen eines verbrecherischen Weltkriegs aus Sicht der so genannten «kleinen Leute» wird von verschiedenen Protagonisten multiperspektivisch im Ich-Modus erzählt, teilweise in abstrahierter Briefform. Außer der Hauptfigur Veit sind dies die Mutter von Margot, die glaubhaft naiv von den verheerenden Bombenangriffen auf Darmstadt berichtet, der siebzehnjährige Kurt, der aus seiner Heimatstadt Wien über seine Gefühle und die turbulenten Ereignisse an seine nach «Schwarzindien» evakuierte Freundin Nanni schreibt, ferner ein Wiener Zahnarzt, der von seinen verzweifelten Versuchen berichtet, als Jude in Österreich und später dann in Ungarn dem Zugriff der Nazi-Schergen zu entgehen.

Die titelgebende Drachenwand am Mondsee und die beinahe täglich darüber hinweg fliegenden Bomberstaffeln der Alliierten erzeugen eine beklemmende Atmosphäre, wobei die Schilderung des Alltagslebens der verschiedenen, stimmig beschriebenen Figuren des Romans sehr realistisch wirkt, ja geradezu authentisch erscheint. Abgesehen von den wenig überzeugenden typografischen Mätzchen mit Schrägstrichen als weiterem Gliederungselement des Textes und den abrupten Erzählerwechseln, bei denen der Leser zunächst mal rätseln muss, wer denn da spricht, ist der angenehm lesbare Roman sprachlich sehr stimmig seiner Erzählzeit angepasst. Zwischen Hoffnung und Horror pendelnd endet er mit der so lange befürchteten Einberufung von Veit und seinem Weg zurück zu seiner Einheit. Es schließt sich trickreich eine, gekonnt historische Authentizität vorgaukelnde, kurze Nachbemerkung an, in der Geiger mit Autorenstimme das weitere Schicksal seiner Figuren skizziert, ein versöhnender Schluss mithin, der eigenen Spekulationen des Lesers wohltuend den Nährboden entzieht.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.02.2018
Böll, Heinrich

Haus ohne Hüter


ausgezeichnet

Zeit der Onkelehen

Unter den wenigen Lichtgestalten der deutschen Nachkriegsliteratur ist Heinrich Böll, Nobelpreisträger von 1972 und damit nach Hesse zweiter Deutscher, dem diese Ehrung nach dem Zweiten Weltkrieg zuteil wurde, zweifellos der bedeutendste. Zu seinem Frühwerk zählt der 1954 erschienene Roman «Haus ohne Hüter», einer seiner Gegenwartsromane, in denen er die «Gesellschaft von Besitzlosen und potenziellen Dieben», wie er das Deutschland des Wirtschaftswunders nannte, literarisch an den Pranger stellte. Ein unbeirrbar der Moral verpflichteter Schriftsteller, der sich auch politisch vehement einmischte und damit über seine Rolle als Chronist weit hinauswuchs.

In einer Stadt am Rhein leben Anfang der 1950er Jahre zwei Kriegerwitwen mit ihren elfjährigen Söhnen, die als Klassenkameraden eng miteinander befreundet sind. Während Martin im Wohlstand aufwächst im Hause seiner Großmutter, Inhaberin einer Marmeladenfabrik, erlebt Heinrich bitterste Armut und wird schon früh gezwungen, durch Schwarzmarktgeschäfte zum Lebensunterhalt beizutragen. Albert, ein Freund von Martins Vater Rai und Augenzeuge seines Todes, lebt ebenfalls in der Fabrikantenvilla. Rai hatte in Russland, als ein nassforscher junger Leutnant ihn duzte, zurückgefragt: «Haben wir Brüderschaft getrunken»? Er wurde von Leutnant Gäseler daraufhin zu einem Patrouillengang eingeteilt, ein unsinniges Himmelfahrtskommando, bei dem er seinen voraussehbaren Tod fand. Nella, Martins traumatisierte Mutter, führt ein unstetes Leben mit wechselnden Liebhabern, ist unglücklich, will nie mehr heiraten und flüchtet sich in Tagträume von einem Leben mit Rai, wie es hätte sein können. Heinrichs Mutter hat wechselnde Beziehungen mit Männern, von den Jungen als «Onkels» bezeichnet, die sie aber nicht heiraten will, weil sie dann die Kriegerrente verliert. Bölls Figuren sind lebensnah beschrieben, seine fünf Protagonisten wirken allesamt sympathisch, man lebt und leidet mit ihnen. Am Ende schließlich deutet er sehr vage eine Perspektive an, die eine Befreiung sein könnte aus unersprießlicher Situation, der Leser darf den Faden weiterspinnen.

Böll schildert äußerst detailreich und authentisch die Lebenswirklichkeit jener Jahre, er erzählt die Familiengeschichten aus wechselnden Perspektiven in einer wunderbar stimmigen, klaren und schnörkellosen Sprache. Ältere Leser werden vieles wiederfinden, was sie selbst erlebt haben, jüngere werden staunen über eine Vergangenheit, die so weit ja gar nicht zurückliegt. Bölls Sprache ist nüchtern, oft sogar lakonisch und mit einer Symbolik angereichert, die den rheinischen Katholizismus listig hinterfragt. Er beleuchtet die lange nachwirkenden Verheerungen, die von den Nazis angerichtet wurden in der vaterlosen Kriegsgeneration. Seine Liebe gilt den Opfern, er stellt sie den Tätern gegenüber, die schon bald als Opportunisten im Nachkriegsdeutschland Macht und Einfluss zurück gewonnen haben, jener Leutnant gehört dazu. Aber Nella, die sich rächen will an Gäseler, gibt resigniert auf, verzichtet auf Rache, weil die nichts ändern würde, ihre Verzweiflung nicht lindern kann.

Bölls melancholischer Familienroman ist geeignet, manches zu relativieren für uns Heutige, die wir Probleme beklagen, die gegen die damaligen geradezu läppisch sind. Insoweit ist er ein wichtiger Beitrag zur Erinnerungskultur eines Volkes, das gar zu gern die unrühmliche Vergangenheit ausblenden wollte und will. Der Roman ist keine Anklage, eher eine resignative Aufarbeitung des damaligen Geschehens und seiner fatalen Folgen. Sechzig Jahre später erscheint uns die Problematik der «Onkelehen» angesichts unserer Patchwork-Familien zwar als ganz nebensächlich, sie wirkt aber noch heute in die Lebensgeschichte vieler Älterer hinein, die in einem «Haus ohne Hüter» groß geworden sind und bleibend geprägt wurden. Davon zu lesen ist dank Bölls humorvoller Sprache nicht nur sehr bereichernd, sondern oft auch amüsant, ein Lesevergnügen mithin auf allerhöchstem Niveau.

Bewertung vom 27.02.2018
Zeh, Juli

Leere Herzen


schlecht

Gescheit gescheitert

Auch in ihrem neuen Roman «Leere Herzen» finden sich erzählerische Elemente, welche typisch sind für die politisch engagierte Juli Zeh, die seit 2017, aus Trotz, wie sie erklärt hat, Mitglied der SPD ist, eine vehemente Kritikerin des demokratiemüden Zeitgeistes ist. Und so sei denn auch ihr dystopischer Roman, ursprünglich ein reines Gedankenspiel, wie sie im Interview erklärte, in den zwei Jahren seines Entstehens - zum Teil zumindest - bereits von der Wirklichkeit eingeholt worden, - als Prognose allerdings sei er trotzdem nicht anzusehen. Insoweit kann man das Buch aber, neben seinem zweifellos im Vordergrund stehenden Unterhaltungswert, auch als einen Weckruf zu politischer Teilhabe verstehen, zur Abkehr von einer um sich greifenden Politikverdrossenheit in Deutschland, mit all den fatalen Folgen für das jahrzehntelang stabile Parteiengefüge. Das Timing für diesen Roman hätte jedenfalls besser kaum sein können!

Im Jahre 2025, nach Angela Merkels Rücktritt (sic!), regiert in Deutschland die BBB, die populistische «Besorgte-Bürger-Bewegung», und breite Schichten Politikverdrossener sind mangels eigener Überzeugungen einfach in die innere Emigration abgetaucht. Als die toughe, aber ebenfalls völlig desillusionierte Britta auf den scheinbar lebensmüden Babak trifft, ein Nerd durch und durch, entsteht spontan die Idee für ein gemeinsames Unternehmen, das aktiv und wirksam in das desaströse politische Geschehen eingreifen kann. Jemand, der Suizid begehen will, so die Überlegung, könne seinen geplanten Tod doch zusätzlich auch noch zu einer wirkungsvollen politischen Aktion nutzen im Kampf gegen die verhasste BBB. Klar, die mit ihren Sprengstoffgürteln Tod und Verderben verbreitenden, islamistischen Selbstmordattentäter standen Pate bei dieser radikalen Geschäftsidee.

Und tatsächlich, der von Babak entwickelte, geniale Algorithmus fischt potentielle Kandidaten aus dem Internet, mit denen die Firma dann diskret Kontakt aufnimmt, um sie später, - nach allerstrengsten Auslesekriterien, versteht sich -, mit ausgeklügelten Trainingsmethoden auf ihren Einsatz vorzubereiten. Diese suizidalen lebenden Bomben werden als Attentäter anschließend ebenso diskret verschiedenen «Organisationen», die sehr hohe Summen dafür zu zahlen bereit sind, für robuste Einsätze angeboten. «Die Brücke» hat sich in Folge zu einer hochprofitablen Firma entwickelt und Britta und Babak sehr schnell sehr reich gemacht. Ihr todbringendes Geschäft bekommt aber plötzlich Konkurrenz, der als Politthriller apostrophierte Roman handelt im Wesentlichen von dem erbitterten Kampf gegen unbekannte Trittbrettfahrer, die unter dem Namen «Leere Herzen» einen dilettantischen Anschlag verübt haben. Anscheinend ist ihnen jedes Mittel recht, «Die Brücke» auszubooten.

Dieser lebensgefährliche Machtkampf mit seinen Thrillerelementen wird von einem auktorialen Erzähler in einer anspruchslosen, uninspirierten Sprache erzählt, zumeist in langen Dialogen. Die Charaktere sind wenig überzeugend angelegt, sie wirken blutleer und sind merkwürdig emotionslos. Bis auf die junge Julietta mit ihrer unbeirrbaren Todessehnsucht, die als einzige Empathie zu erzeugen vermag und den Erlös aus ihrem Selbstmordattentat dem Tierschutz vermachen will. Was da aber, einer wohl zeitbedingt vorherrschenden, narrativen Mode folgend, - also im Präsens -, geschildert wird, ist allerdings so abstrus, dass man als vernunftbegabter Leser sehr schnell die Lust verliert an dieser sich schlau dünkenden Dystopie. Der Plot ist grotesk überfrachtet, lässt kaum eines der gängigen Klischees aus und verbreitet, anbiedernd geradezu, seine vor Moral triefende Botschaft, - aufdringlich und plump nach der Holzhammer-Methode. Eskapistisch orientierte Leser sehen sich womöglich bestätigt in diesem desaströsen politischen Lehrstück, andere aber staunen, wie eine so gescheite Schriftstellerin so grandios scheitern kann mit dem Versuch, politische Horrorvisionen in Romanform zu verarbeiten.

Bewertung vom 24.02.2018
Helle, Helle

Färseninsel


schlecht

Minimalistische Tristesse

Im Werk der dänischen Schriftstellerin Helle Ohlson, die unter dem Namen Helle Helle schreibt, wird häufig die konfliktreiche Beziehung zwischen den Geschlechtern thematisiert, so auch in dem 2008 erschienenen Roman «Färseninsel». Als der Autorin im Jahre 2011 ein lebenslanges Künstlereinkommen zugesprochen wurde, hat der dänische Kunstfonds als Begründung dazu erklärt: «Mit ihren meisterhaften Inszenierungen des ganz gewöhnlichen Lebens tritt sie heute als eine der wichtigsten Deuterinnen der Mittelschicht und der dänischen Provinz hervor.» Mittelschicht und Provinz bilden tatsächlich auch im vorliegenden Roman das Figurenensemble und den Handlungsort, der vom Original abweichende deutsche Titel allerdings weist nur auf einen Sehnsuchtsort hin, nicht konkret auf den Ort der Handlung, die Insel wird nicht betreten. Während Helle Helles Bücher in Dänemark Bestseller sind, gilt die Autorin in Deutschland allenfalls als vom Feuilleton weitgehend ignorierter Geheimtipp.

«Ich suche einen guten Ort, um zu weinen» lautet der erste Satz des kurzen Romans. Ich-Erzählerin ist eine namenlose 42jährige Frau, die ihrem Mann davongelaufen ist, und nun, mit dem nächstbesten Bus in einem kleinen Kaff an der Küste Seelands angekommen, ziemlich verloren im Wartehäuschen sitzt. «Jetzt ist es Winter, und ich werde nicht mehr nach Hause zurückkehren», erfahren wir. John und Putte, ein junges Paar, gabeln die Gestrandete auf und bieten ihr, ohne Fragen nach dem Woher und Wohin, spontan Quartier für die Nacht. Ein aufziehender Orkan und ein längerer Stromausfall binden die Drei zunächst an das Haus. Eine unbewohnte Insel vor der Küste mit einer winzigen Hütte erscheint ihr als idealer Rückzugsort, und John und Putte nehmen Kontakt mit dem Eigentümer der «Färseninsel» auf. Ihren wortkargen Gast tauft Putte kurzerhand Bente, und sie bietet ihr an, zunächst mal bei ihnen zu bleiben.

Nach und nach lernt Bente einige Nachbarn und Verwandte ihrer Gastgeber kennen und übernimmt, als John einen Unfall hat und sie allein im Haus zurückbleibt, einige Pflichten für sie, so auch die Betreuung der beiden Jagdhunde des allein lebenden Onkels, der nach einer Knieoperation im Krankenhaus liegt. Mit Puttes Bruder Ibber, der ihr bei Manchem hilft, bahnt sich sehr behutsam eine Beziehung an, schließlich kommt es - schamhaft angedeutet - zu Blümchensex. Am Ende der Geschichte, als John wieder zu Hause ist, erfährt er von ihr, dass sie Bücher schreibe, und er erklärt ihr, woher er sie kenne. Er habe sich von ihrem Mann operativ eine große Warze entfernen lassen, und dort in der fernen Arztpraxis habe er sie damals kurz gesehen. «Telefon für dich. Willst du denn da sein?» fragt Putte am Schluss. Und der Roman endet mit dem Satz: «Ich weiß nicht, ob ich das will, werde ich wohl sagen.»

Wir erfahren herzlich wenig über die depressive Heldin, dieser Schriftstellerin mit akuter Schreibhemmung, und schon gar nichts über ihr Gefühlsleben, - sie weint auch nicht, wie im ersten Satz annonciert. Die spärliche Handlung erschließt sich zumeist in banalen Dialogen, die sich weitgehend im profan alltäglichen Geschehen verlieren. Gefühlte hundert Mal wird da gegessen, ferngesehen oder werden die Hunde versorgt. Als John sie über ihre Bücher ausfragt und wissen will, was die Figuren in ihren Bücher denn so tun, antwortet Bente: «Kaffee trinken und reden und so was.» Wenn das nicht selbstironisch ist von Helle Helle! Während sich ihre Heldin immer besser zurechtfindet in der neuen Situation, offenbaren sich die Probleme der anderen, weint auf einmal Putte, die ihren Job verloren hat, braucht Ibber sie dringender als sie ihn, offenbart der Onkel seine bedrückende Einsamkeit. Die minimalistische Erzählweise, bei der sich das Bedeutende im Ungesagten verbirgt, erzeugt in diesem sterbenslangweiligen Roman der Lebenskrisen eine kammerspielartige Atmosphäre. Man muss vermutlich Däne sein, um diese wortkarg erzählte Tristesse wirklich zu goutieren!

Bewertung vom 23.02.2018
Kehlmann, Daniel

Tyll


ausgezeichnet

Vergegenwärtigung des Vergangenen

Nach vier Jahren ist mit «Tyll» wieder ein Roman von Daniel Kehlmann erschienen, der das Zeug dazu hat, an den großen Erfolg seines Bestsellers «Die Vermessung der Welt» anzuknüpfen, und auch hier wird Realität und Fiktion zu einer unterhaltsamen Geschichte verknüpft. Der Trick dabei, die Eulenspiegelei also, ist eine lässliche Schummelei des Autors: Die legendäre Figur tauchte erstmals gegen Ende des Mittelalters auf, der Roman hingegen weist dem berühmten Schelm gut hundert Jahre später eine Rolle mitten im Dreißigjährigen Krieg zu. Und um den geht es letztendlich auch in diesem historischen Roman.

Kehlmann erzählt seine Geschichte in acht Episoden, beginnend mit einem bösen Streich, bei dem Tyll Ulenspiegel den einfältigen, bisher vom Krieg noch verschonten Bewohnern einer Stadt als Schauspieler, Seiltänzer und Bauchredner das Geld aus den Taschen zieht und die euphorisierte Menge am Ende zu einem kollektiven Schuhwerfen anstiftet. Lachend über das damit angerichtete Chaos zieht der notorische Spötter mit seinem Eselskarren und den zwei Begleiterinnen weiter. Tyll stammt aus einer Müllerfamilie, erfahren wir in der Rückblende des nächsten Kapitels, sein autodidaktisch gelehrter Vater beschäftigt sich mit allerlei Zauber, mit Astrologie und Experimenten, bis er als Hexer denunziert und von einem melancholischen Henker «einfühlsam» zu Tode gebracht wird. Als junger Bengel flüchtet der heimatlos gewordene Tyll daraufhin mit der Bäckertochter Nele in die Welt hinaus, in ein durch den barbarischen Krieg verheertes Land. Sie treffen auf den bösartigen Gaukler Pirmin, der sie mitnimmt und ihnen zwar vieles beibringt, sie aber auch sehr schlecht behandelt, - bis Nele ihm schließlich ein finales Pilzgericht kocht: Einige Hände voll Pfifferlinge, gemischt mit etwas Fliegenpilz und Knollenblätterpilz. Jeden der Giftpilze allein kann man herausschmecken, weiß Nele, mit beiden zusammen aber verliert sich der verräterische Beigeschmack völlig.

Die Figur des Tyll bildet eine lose Klammer um das Geschehen im Roman, das sich kapitelweise allmählich von den Bedrängnissen der kleinen Leute hin zu den oft nicht weniger gebeutelten Majestäten entwickelt. In kürzeren und längeren Episoden wird da beispielsweise von der Schlacht von Zusmarshausen berichtet, ein in seiner Brutalität heute kaum noch vorstellbares Gemetzel, oder von den Prager «Winterkönigen», Friedrich V mit seiner schönen Gemahlin Liz, Elisabeth Stuart, Enkelin der berühmten Maria. Die tragische Geschichte dieses böhmischen Königs wird als einer der Auslöser des verheerenden Glaubenskrieges angesehen. Aber auch der faszinierenden Person des berühmten Jesuiten und Universalgelehrten Athanasius Kircher ist zum Beispiel ein Kapitel gewidmet. Als, Jahrzehnte später, im letzten Kapitel, die inzwischen verwitwete und völlig verarmte Liz, die unbeirrt weiterhin kurfürstliche Rechte für ihren Sohn geltend macht, aus ihrem Exil nach Westfalen reist, zu den Friedensverhandlungen, trifft sie dort auf Tyll, Hofnarr des Kaisers. Sie bietet ihm an, mit ihr nach England zu kommen, «Um der alten Zeiten willen», wie sie sagt. «Du weißt so gut wie ich, dass der Kaiser sich früher oder später über dich ärgert. Dann bist du wieder auf der Straße. Du hast es besser bei mir.» Er erwidert: «Aber weißt du, was besser ist? Noch besser als friedlich sterben?» «Sag es mir.» «Nicht sterben, kleine Liz. Das ist viel besser.» Dem Autor gelingt hier ein versöhnliches Ende ohne jeden Kitsch, Chapeau!

Zur Unsterblichkeit dieser legendären Figur dürfte Kehlmann seinerseits einen nicht unwesentlichen Beitrag leisten mit seinem kreativ erdachten und grandios erzählten Roman, der ebenso unterhaltsam ist wie bereichernd, sein bester bisher. Eine gelungene Vergegenwärtigung des Vergangenen, sprachlich brillant, herrlich leichtfüßig erzählt, dabei – gottlob – jedwedes Zeitidiom meidend, mit feiner Ironie angereichert zudem, - eine unbedingt empfehlenswerte Lektüre!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.02.2018
Handke, Peter

Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere


gut

Poetologischer Obstklau

Als «Letztes Epos» hat Peter Handke sein neuestes Werk «Die Obstdiebin» bezeichnet, darauf anspielend, dass seine Geschichte mit dem Untertitel «Einfache Fahrt ins Landesinnere» kein Roman sei, auch der Verlag meidet konsequent diesen Gattungsbegriff. Als Merkmale des Epos gelten in der Wissenschaft der für alle Leser gleichermaßen verbindliche Sinnhorizont, ein allgemeingültiges Weltverständnis also, sowie als literarische Themen Verlust des Naturzustands und Selbstfindung. Es geht mithin um das innerste Menschsein in dieser Geschichte, wobei Handke sich auch hier, wie üblich bei ihm, radikal von allen narrativen Konventionen gelöst hat.

«Diese Geschichte hat begonnen an einem jener Mittsommertage, da man beim Barfußgehen im Gras zum ersten Mal im Jahr von einer Biene gestochen wird», heißt es im ersten Satz. Ein Zeichen, wie es der Autor als Ich-Erzähler deutet, für Aufbruch, in seinem Fall dafür, sich auf den Weg zu machen aus seiner Niemandsbucht, mit unklarem Ziel. Ins Landesinnere vielleicht, der «Obstdiebin» folgend, die er von Ferne gesehen hat. Eine dreißigjährige Frau, die dort herumstreift auf ihrer dreitägigen Reise, unstet, zu Fuß zumeist, von Paris aus in die Picardie, der Region nördlich von Paris. Sie will, erfahren wir dann ziemlich spät, zu einem kleinen Familientreffen, und in gottverlassener Gegend, auf der Hochebene des Vexin trifft sie schließlich die Eltern und den Bruder in einem bescheidenen Cateringzelt.

Es ist, wie man sehen kann, nicht leicht, so etwas wie eine Handlung aus den 559 Buchseiten heraus zu destillieren, die im Zeichen des Eskapismus stehen. Die Anklänge an Parzival sind unübersehbar, Wolfram von Eschenbach wird öfter zitiert, und so kann man die seltsame Geschichte der Obstdiebin am treffendsten denn auch als eine abenteuerliche Reiseerzählung bezeichnen, wundersam und mythisch, ein stiller Lobgesang auf das einfache, naturverbundene, arglose Leben. Und im letzten Absatz der immer wieder wundersam schwebend erscheinenden Geschichte steht geschrieben: «Was sie doch auf ihrer Fahrt ins Landesinnere alles erlebt hat, und wie jede Stunde dramatisch gewesen war, auch wenn sich nichts ereignete, und wie in jedem Augenblick etwas auf dem Spiel gestanden hatte … Nein seltsam. Bleibend seltsam. Ewig seltsam.»

Und in der Tat, Handkes poetische Erzählung einer surrealen Tour lebt von der Magie des Augenblicks, vom Zauber zufälliger Geschehnisse, von der Unbestimmtheit ihrer Figuren, von den Wundern der Natur. Zu denen leitmotivisch natürlich das Obst gehört, welches die mystische Heldin aber nur dann begehrt, wenn es fast unerreichbar ist, am besten als Zufallsfund auf einem bereits abgeernteten Baum oder als erste reife Frucht, immer aber als Mundraub in freier Natur. Handke benutzt diese Wanderung durch die Picardie, diese Landschaft seiner Sehnsucht, um sinnierend und reflektierend seinen ureigenen Gedankenkosmos vor dem Leser auszubreiten, um aphoristisch gekonnt und sprachmächtig ein Weltbild der Erleuchtung zu entwickeln. Ein Dichter, der behutsam gegen ein ungutes Weltgeschehen anschreibt, so als wollte er die Zeit anhalten. Was sind denn nun die Lesefrüchte in einem Epos ohne Plot, in dem nichts erklärt wird, dessen Figuren keine Psyche zu haben scheinen, die der Rede wert wäre? Sprachlich hat Handke seinen ureigenen Stil gefunden, benutzt altmodische Wendungen in langen Satzgebilden, lässt, wenn überhaupt mal, seine wundersamen Figuren eher kryptische Sätze sprechen oder, wie am Ende der Vater bei seiner Festrede, überlange pathetische Monologe. Zur Höchstform läuft der Autor auf, wenn er detailliert und wunderbar anschaulich die Natur beschreibt oder seine lebensechten, sympathischen Figuren. Es sind die kleinen Dinge mithin, und die kleinen Leute auch, die im Fokus stehen, die hier zu Literatur werden, wenn man die unbedingt erforderliche Geduld mitbringt beim Lesen und den Sinn für die erzählerischen Flickflacks eines originären Schriftstellers.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.02.2018
Garcia, Tristan

Faber. Der Zerstörer


ausgezeichnet

Vom Wunsch nach intensivem Leben

Schriftsteller und Philosoph in einem ist der junge Franzose Tristan Garcia, dessen neuer Roman «Faber» nicht nur formal ein Meisterwerk ist als furioses Spiel mit Erzählperspektiven und Zeitebenen. Die in sechzig Kapiteln erzählte Story ist in ihren zwei retrospektiven Teilen die Coming-of-Age-Geschichte eines charismatischen Schülers und seiner beiden Freunde, die in ihrer Rebellion gegen die dröge Mittelmäßigkeit der Gesellschaft ein unzertrennliches Trio bilden. In die narrativ als Klammer fungierende, dreiteilige Gegenwartshandlung, deren fesselndes Thema eine späte Rache ist, schieben sich zunehmend phantastische Elemente hinein, der Unruhestifter mit immanentem Todestrieb mutiert zum Dämonen, er wird «Der Zerstörer», wie es im Untertitel heißt.

Mehdi Faber, ein Waise maghrebinischer Herkunft, kommt als Neuer in eine Klasse der Schule einer fiktiven französischen Kleinstadt. Der ebenso intelligente wie unnahbare Junge, der darauf besteht, nur Faber genannt zu werden, brilliert als Schüler und mischt völlig unerschrocken auch die Strukturen der herrschenden Hackordnung im Schulhof auf. Als Rebell, den eine geheimnisvolle Aura umgibt, wird er schnell zur unumschränkten, von allen bewunderten Führungsfigur unter den Pennälern, eine Lichtgestalt geradezu. Zwei Außenseiter, die toughe Madeleine und der schüchterne Basile, helfen ihm anfangs dabei, in ihrer Adoleszenzphase bilden sie mit ihm eine sich ergänzende und wie Pech und Schwefel zusammenhaltende Clique, ein Trio mit dem intellektuell deutlich überlegenen Faber als Mentor. Im zweiten der beiden retrospektiven Teile des Romans eskaliert das Geschehen in einer offenen Rebellion, bei der 1995 unter Fabers Führung die während längerer Streiks und öffentlichem Tumult von Schülern besetzte Schule zur «Autonomen Zone» erklärt wird. Als diese Unruhen ihr Ende finden und die Besetzung schließlich aufgegeben werden muss, flieht Faber für immer aus der Stadt.

Der in fünf Teilen zeitlich verschachtelt und abwechselnd aus der Ich-Perspektive seiner drei Protagonisten erzählte Plot beginnt mit «Er kommt zurück», in dem die inzwischen verheiratete Madeleine den seit fünfzehn Jahren verschwundenen, total verwahrlosten Faber aus seinem Versteck in den Pyrenäen zurückholt in ihre Kleinstadt. Basile und sie hatten Briefe mit einem geheimnisvollen Code von Faber erhalten, der einst zwischen ihnen verabredet wurde als Signal, wenn einer je Hilfe bräuchte. Im mittleren Teil «Er ist da» kommt es zu Problemen mit dem unzugänglichen, total verrückt wirkenden Faber, der sich nach dieser langen Zeit nicht mehr zurechtfindet in seiner Stadt, dem auch die inzwischen angepasst lebenden Gefährten von einst fremd geworden sind. Im letzten Teil «Er geht fort» kommt es zu einem rätselhaften, mystischen Showdown. Mehr soll hier aber nicht verraten werden von dieser äußerst spannenden Geschichte, - in der auch gemordet wird übrigens!

Am Ende tritt überraschend Tristan Garcia in persona auf und berichtet davon, dass er das Manuskript eines Romans von Basile gefunden habe, welches von ihm leicht überarbeitet genau den Text darstelle, den der Leser da gerade in Händen halte. Und er sinniert: «Wie der Gott der Christen eines Tages Mensch geworden ist, so hat vielleicht der Teufel eines Tages einen Körper und einen Geist gefunden. Er war nicht das Böse an sich, aber der Verfall und die Zerstörung, für die anderen und für sich selbst. Von diesem Standpunkt aus kann man annehmen, Faber sei ein Teufel wider Willen, eine vollkommen negative Macht, aber in menschlicher Gestalt». Das verfehlte Leben der Protagonisten ist Auslöser für ein bedrückendes Geschehen, das, im Stil der «Fantastischen Literatur» erzählt, von seinem Autor in einem Schwebezustand belassen wird. Der wiederum dem Leser viel Freiraum gibt beim Nachsinnen über das Gelesene, über Utopien, - und über den hoffentlich nicht ganz utopischen Wunsch nach intensivem Leben.

Bewertung vom 08.02.2018
Lewis, Sinclair

Babbitt


ausgezeichnet

Circulus vitiosus

Der berühmteste Roman des US-amerikanischen Schriftstellers Sinclair Lewis, 1922 unter dem Titel «Babbitt» erschienen, hat entscheidend dazu beigetragen, dass ihm 1930 der Nobelpreis verliehen wurde «für seine starke und lebendige Schilderungskunst, nebst dem Talent, mit Witz und Humor Typen zu schaffen». Sein Protagonist ist geradezu der Prototyp des angepassten, selbstzufriedenen Spießers aus dem gehobenen Mittelstand, der in seiner unstillbaren Sucht nach gesellschaftlicher Anerkennung und geschäftlichem Erfolg unter einer gutbürgerlichen Fassade skrupellos seinen persönlichen Vorteil sucht. Damit verkörpert der opportunistische Unsympath geradezu archetypisch den American Way of Life und nimmt zudem, fast hundert Jahre früher, in vielen negativen Aspekten den ersten reinen Geschäftsmann, der zum Präsidenten der USA gewählt wurde, weitsichtig voraus. Dieser jetzt in neuer Übersetzung vorliegende Jahrhundertroman spiegelt die Ambivalenz eines Autors wieder, der über seine Heimat gesagt hat: «Ich liebe dieses Land, aber ich kann es nicht leiden».

Mit scharfem Blick für Details schildert Lewis sehr anschaulich über nicht weniger als ein Viertel des gesamten Textes den akribisch geordneten Tagesablauf von Georges F. Babbitt. Er ist ein cleverer, mit allen Wassern gewaschener, dicker 46jähriger Immobilienmakler mit abgebrochenem Jurastudium, verheiratet, mit drei Kindern, der seine Agentur recht erfolgreich zusammen mit seinem Schwiegervater betreibt. Handlungsort ist die fiktive Stadt Zenith im Landesinneren mit mehr als dreihunderttausend Einwohnern, deren schon im Namen enthaltene Ambition nach immerwährender Prosperität ihrer Stadt die sozialen Missstände der industriellen Revolution ebenso wenig verdecken kann wie die unübersehbare moralische Verwahrlosung im gehobenen Mittelstand seiner Einwohnerschaft, zu dem auch Babbitt geradezu archetypisch gehört. Bei aller Behaglichkeit, mit der sich der unbeirrbare Macho sein Leben eingerichtet hat, ist es gleichzeitig entsetzlich langweilig für ihn, es verläuft nahezu ereignislos und zwingt ihn darüber hinaus familiär, geschäftlich und gesellschaftlich zu ständiger Anpassung. Er startet einige Ausbruchsversuche, - einer aus den Alltagsgeschäften, allein mit seinem besten Freund auf einer Tour in die Wildnis, ein anderer aus der drögen Ehe bei einer kurzzeitigen Geliebten, ein dritter aus dem Ansinnen der Kumpane in seinem Club, sich politisch opportun zu verhalten. Eine Zäsur bahnt sich aber schon vorher an, als sein alter Freund Paul auf seine zänkische Ehefrau schießt und im Gefängnis landet. Ein zweiter Schock aber ist eine plötzlich dringend werdende Blinddarm-Operation seiner Frau, der ihn letztendlich zur Umkehr aus der Rebellion zwingt, - und damit zurück in den Alltagstrott, in dem er sich schließlich aber doch am wohlsten fühlt.

Lewis erzählt seine Geschichte einer missglückten Selbstfindung - voller Sympathie für seinen charakterschwachen, wankelmütigen Helden - mit feiner Ironie und unterlegt dessen laut polternde, prahlerisch selbstgefällige Äußerungen oder Reden zuweilen mit durchaus vernünftigen Gedanken. Überhaupt wird Babbitt, dieser amerikanische Jedermann, dem Leser gegen Ende der Geschichte in dem Maße sympathischer, in dem er selbstkritischer wird, wobei die kumpelhafte Schlussszene mit seinem Sohn nach dessen heimlicher Heirat schon beinahe anrührend wirkt.

Dieser unterhaltsame Roman ist eine ebenso klug konstruierte wie blendend geschriebene Charakterstudie, in der das Diktat der unabänderlichen Realität mit ihren Konventionen auf die desillusionierenden Erkenntnisse eines sinnfrei scheinenden Lebens trifft. Eine Läuterung des Helden aber, eine Katharsis gar, wäre Illusion, denn jede Auflehnung wirft ihn umgehend wieder zurück in den Zwang zur Konformität, ohne die materielles Wohlergehen in der real gegebenen Gesellschaft nicht möglich ist. Als Genussmensch also ist er Gefangener seines eigenen Milieus, ein Circulus vitiosus!

Bewertung vom 02.02.2018
Murakami, Haruki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki


gut

Perfektes Handwerk, keine Kunst

Die Fangemeinde von Haruki Murakami, zu der auch Teile des Feuilletons gehören, wird nicht müde, den japanischen Bestsellerautor seit Jahren als den heißesten Favoriten für den Nobelpreis zu rühmen. Sein Roman «Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki» wurde gleich am Erscheinungstage in Japan 100.000mal verkauft, und auch die exzellent übersetzte deutsche Ausgabe war 2014 auf Anhieb erfolgreich. Ist man in Stockholm derart inkompetent, eine solche literarische Lichtgestalt nicht zu erkennen, sie also Jahr für Jahr immer wieder schnöde zu ignorieren? Handelt es sich um «Literatur des kleinsten gemeinsamen Nenners», wie geschrieben wurde, oder ist Murakami «ein gegenwärtiger Meister der Weltliteratur», wie man an anderer Stelle lesen konnte?

Tsukuru Tazaki, ein 36jähriger Ingenieur mit dem einst ungewöhnlichen Studienschwerpunkt Bahnhöfe, arbeitet in Tokio bei einer Eisenbahngesellschaft. Er lebt sehr zurückgezogen und leidet psychisch unter einem schlimmen Schock, den er vor sechzehn Jahren erlitten hat, als ihn seine fünfköpfige Jugendclique ohne Erklärung brüsk aus ihrer engen Gemeinschaft ausgestoßen und fortan absolut ignoriert hat. Die quälende Ungewissheit über die Gründe für seine Abweisung nahm ihm allen Lebensmut, monatelang trug er sich damals mit Suizidgedanken. Als er nun Sara kennen lernt und ihr von seinem Trauma erzählt, überzeugt ihn die zwei Jahre ältere Frau schließlich, sich endlich den Dämonen der Vergangenheit zu stellen, die Hintergründe für das Verhalten seiner damaligen Freunde zu klären. Und so macht sich Tsukuru zu seiner Pilgerreise auf. Er besucht zunächst in seiner Heimatstadt Nagoya die beiden Männer ihrer damaligen Clique, von denen er erfährt, was der Grund war für ihre brüske Abkehr. Über die beiden Mädchen hört er außerdem, dass eine in Finnland lebt und dass die andere vor sechs Jahren ermordet wurde, der Täter konnte aber nicht ermittelt werden. Spontan macht er sich auch auf die Reise nach Finnland.

Hier noch mehr zu erzählen wäre unfair, denn der Roman lebt zu einem nicht geringen Teil von der Spannung, die der Autor in seinem klug konstruierten Plot aufbaut. Aber was ist denn nun der so genannte Murakami-Effekt? Zunächst fällt auf, dass auch in diesem Roman wieder einige autobiografische Bezüge vorliegen, die Musik ist leitmotivisch eingebaut in die Handlung, als Jazz einerseits, was bei dem ehemaligen Plattenverkäufer und Jazzbarbesitzer nicht weiter verwundert. Aber auch, bis in den Titel hineinwirkend, als Klaviermusik von Liszt, aus dessen Années de pèlerinage, den Pilgerjahren, das Stück «Le Mal du Pays», das Heimweh also, ein wiederkehrendes Motiv bildet. Auch der Verlust eines Menschen und die vergebliche Suche ist ein häufiges Thema bei Murakami, seine Protagonisten sind wie hier im Roman meist gebildete Männer Mitte Dreißig, denen dann die typischen «Murakami-Mädchen» gegenübergestellt sind, keine makellosen Schönheiten, die gleichwohl aber äußerst anziehend wirken. Was den Leser vor Allem aber faszinieren dürfte ist der seelische Abgrund, an dem sich der Plot entlang hangelt, die unbarmherzige Abkehr der Clique, die suizidale Phase des farblosen Helden, der unaufgeklärte Mord, natürlich auch die Fallstricke der Liebe. Und - last but not least - ist es die jugendliche Zuversicht, dass eben nicht alles «im Fluss der Zeit» verschwindet.

All diese literarischen Zutaten sind hier gekonnt in eine angenehm lesbare Prosa umgesetzt, mit glaubwürdigen Figuren als Akteuren und einem stimmigen Ambiente als Bühne. Weniger überzeugend sind die philosophischen Ergüsse, mit denen der Autor die Welt zu erklären sucht. Und auch die reichlich eingebaute Symbolik, die bei den Farben ihren Höhepunkt erreicht, worauf ja schon der Buchtitel hinweist, wirkt übertrieben, geradezu gekünstelt - und irgendwie auch anbiedernd. Mir aber schwant, dass für einen Nobelpreis denn doch der dichterische Genius fehlt. Perfektes Handwerk, keine Kunst!

Bewertung vom 30.01.2018
Genazino, Wilhelm

Das Glück in glücksfernen Zeiten


sehr gut

Zaudern und Übermut

Das umfangreiche Œuvre von William Genazino ist durch eine resignative Grundstimmung gekennzeichnet, die auch seinem 2009 erschienenen Roman «Das Glück in glücksfernen Zeiten» unterlegt ist. Auch dieser von Feuilleton durchweg positiv aufgenommene Roman beschreibt die Absurditäten eines Alltags, der so unspektakulär durchschnittlich ist wie sein Ich-Erzähler, ein promovierter Philosoph, den seine brotlose Wissenschaft nach dem Studium zwang, als Wäscherei-Ausfahrer zu arbeiten.

Der Roman lebt von den minutiösen Beobachtungen des inzwischen 41jährigen Gerhard, der zum Geschäftsführer in seinem Wäschereibetrieb aufgestiegen ist, ein melancholischer Flaneur, den sein Umfeld und die gesellschaftlichen Verhältnisse mehr beschäftigen als seine Arbeit, die der absurd Überqualifizierte bestenfalls gleichgültig, oft auch widerwillig ausführt. «Das einzige Straßencafé, das es in der Nähe unserer Wohnung gibt, ist wie üblich überfüllt» heißt es im ersten Satz. Er empfinde das Café an seinem Feierabend «als die erste Wohltat des Tages». Mit seiner hübschen, toughen Freundin Traudel, Filialleiterin einer Bank, bewohnt er in der Nähe eine Dreizimmerwohnung. Ihr Leben ist sexuell erfüllend für beide, verläuft aber ansonsten ziemlich ereignislos. Zur Kompensation plant er, mit staatlicher Förderung eine «Schule der Besänftigung» zu gründen und dort Vorlesungen zu Themen wie «Die Flucht vor der Selbsteintrübung der Welt» zu halten. Die Beziehung zu Traudel wird getrübt, als die 38Jährige ihm eröffnet, sie wünsche sich ein Kind. Gerhard, den schon sein Alltagsleben derart nervt, dass er sich ein «Halbtagsleben» wünscht, eine völlig ereignislose Zeit also, ist nun zutiefst irritiert und fühlt sich eingeengt, er kann sich an den Gedanken einer Vaterschaft absolut nicht gewöhnen. Zu der aufkeimenden Missstimmung kommt dann auch noch seine fristlose Entlassung hinzu, er wurde während der Arbeitszeit als Zaungast bei einer Demonstration beobachtet. Nach dieser Zäsur zeigen sich bei ihm nun zunehmend Verhaltensauffälligkeiten, ein um sich greifender Realitätsverlust, an dessen Kulminationspunkt ihn Traudel in eine psychiatrische Klinik einliefern muss. «Ich leide an einer verlarvten Depression mit einer akuten Schamproblematik», erklärt er seinem Therapeuten. Und schon bald fühlt er sich so geborgen dort, dass er gern für immer bleiben möchte.

Um diesen Handlungsrahmen herum rankt sich eine Erzählung, in der scheinbar völlig Banales im Fokus steht und zu oft ebenso überraschenden wie absurden Erkenntnissen führt. Die in weiten Teilen in Form des Bewusstseinsstroms erzählte Geschichte mit den alltäglichen Beobachtungen des Protagonisten mündet immer wieder kontemplativ in skurrilen Einsichten. «Lange bevor man tot ist, durchlebt man Phasen der Tödlichkeit. Was man dabei erlebt, erzählt man nicht gerne» sinniert der verunsicherte Protagonist an einer Stelle. Diese meist doppelbödigen Gedankengänge werden wohltuend tendenzfrei ohne erkennbar dogmatische, politische oder sonstige Hintergründe vor dem zum Mitdenken bereiten Leser ausgebreitet. Selbstreflexiv wird hier überwiegend aus dem Innenleben des depressiven Antihelden berichtet, der an seinem ihn verwirrenden Umfeld scheitert.

Diese vielschichtige Tragikkomödie reflektiert klug die zuweilen absurden Wirkungen des modernen Alltags auf den Menschen. Sie ist atmosphärisch dicht erzählt in einer klaren, schnörkellosen Sprache, die fast schon lässig wirkt und sehr amüsant zu lesen ist. Der Busenfetischist Gerhard sieht sich zum Beispiel als «Untermieter bei Traudels Busen» oder beobachtet angewidert eine wegen Flugausfalls im Hotel einquartierte Rentnertruppe, die sich «mit abstoßender Freude auf ein Büffet» stürzt. Das Anspruchsdenken auf Glück geht ins Leere, denn Glück, so die verblüffende Katharsis, macht nicht zwingend auch glücklich. «Zaudern und Übermut» lautet beziehungsreich der Titel eines Buches, das der unfrohe Held eigentlich schon immer mal schreiben wollte!