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Bücherbummler

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Insgesamt 122 Bewertungen
Bewertung vom 13.10.2022
Rohner, Werner

Mehr als ein Wunsch


gut

Sunny ist ratlos. Er soll sich für nur ein Geschenk für Weihnachten entscheiden, dabei sind auf seiner Wunschliste schon über 20. Und ihm fallen immer neue Dinge ein, die er wirklich gut gebrauchen könnte. Was soll er sich nur wünschen? Eine Schokolade, die genauso groß und schwer ist, wie er selbst (was sich wirklich lohnen würde, denen Sunny hat einen großen Bauch, weil er so klug ist, dass sein Gehirn im Kopf nicht genug Platz hat), spezielle Torhüterschuhe mit Düsenantrieb? Eine Wetterfernbedienung? Eine andere Schwester, weil Lala wirklich nicht immer nett ist? Einen neuen Kopf für Oma, die Alzheimer hat und immer mehr vergisst? Oder doch eine neue Frau für Papa? Denn seit Mama tot ist, weint Papa viel, besonders zu Weihnachten.
Sunny beschließt, dass nicht nur eine Freundin für Papa hermuss, sondern weiß auch schon, wer das sein soll. Elif, die Postbotin. Die kommt schließlich fast jeden Tag, es kann also nicht so schwer sein. Und so macht sich Sunny daran, seine Wünsche zu sortieren und für ein schönes Weihnachtsfest zu sorgen.

Für viele ist die Weihnachtszeit die schönste Zeit des Jahres. Für andere ist sie die schwerste. Besonders für jene, die eine geliebten Menschen verloren haben. Mit „Mehr als ein Wunsch“ wagt sich Werner Rohner an dieses schwere Thema heran und verpackt es kindgerecht. Mit Sunny hat er dafür einen Protagonisten geschaffen, der nicht nur clever, amüsant und liebenswert ist, sondern auch genau die richtige Balance hält zwischen einer eigenen, herausstechenden Persönlichkeit und einem Wesen, das für kleine Leser genug Projektionsfläche bietet, um sich selbst wiederzufinden.

Auch die Idee, die Geschichte in 24 Kapiteln für die Tage bis Weihnachten zu erzählen, fand ich nett. Was ich allerdings nicht weiß, ist, ob sich bei Kindern der Spannungsbogen hält. Denn so niedlich und pfiffig Sunny auch sein mag, habe ich zumindest irgendwann das Interesse an seinem Geschenk-Dilemma verloren.

Würde ich das Buch selbst verschenken? Ehrlich gesagt, eher nicht. Zum einen fand ich die Umsetzung der großen Themen, Tod der Mutter und Alzheimererkrankung der Großmutter, nicht wirklich gelungen. Bei ersterem habe ich den Verlust der Kinder nicht richtig gespürt. Natürlich trauert jeder anders, und der Mangel an echter Kommunikation über das Ungreifbare ist sicher in vielen Familien Realität, aber für mich las es sich fast so, als würde nur der Vater leiden. Und damit zum Problemfall werden. Was die Erkrankung der Großmutter betrifft, so bleibt sie weitestgehend ohne große Kommentare außen vor. Da hätte ich mir mehr gewünscht, zumindest ein wenig Aufklärung. Ausschlaggebend ist für mich aber, dass mir die Themen und die Konfliktlösung der Familie einfach zu wenig weihnachtlich sind, da bin ich zu traditionell. Das typische Gefühl von Wärme und Kerzenschein ist bei mir nicht aufgekommen. Trotz sehr schöner Stellen, zum Beispiel als Sunnys Oma auf seine Frage, ob sie ihn eines Tages auch vergessen wird, antwortet: „Wahrscheinlich schon. (…) Du wirst trotzdem irgendwie bei mir sein, im Herzen – nur hab ich dann halt vergessen, wo das ist.“ (18. Dezember)

Auch die Illustrationen von Gareth Ryans fand ich ein wenig deprimierend. Was vor allem wohl daran lag, dass sie in schwarz-weiß gehalten sind, mit jeweils einem in Rot hervorgehobenen Element. Mich hat das sehr an „Schindlers Liste“ und den roten Mantel des kleinen jüdischen Mädchens erinnert, aber gut, diese Assoziation werden Kinder wohl nicht haben.

So war „Mehr als ein Wunsch“ für mich letztendlich leider nur ein mittelmäßiges Leseerlebnis, das seinen Charme hat, aber auch seine Schwächen. Wer sich gemeinsam mit seinen Kindern mit so wichtigen Themen wie dem Tod eines Elternteils und dem Gedächtnisverlust der Großeltern auseinandersetzen möchte, hat mit diesem Buch aber durchaus einen guten Ansatz. Es muss ja nicht unbedingt zur Weihnachtszeit sein.

Bewertung vom 06.10.2022
Dröscher, Daniela

Lügen über meine Mutter


ausgezeichnet

Deutschland in den 1980ern. Eigentlich will Elas Vater nur eins: ein Leben, das seinen Vorstellungen entspricht. Eine Familie, die er stolz präsentieren kann, eine Karriere mit Aufstiegschancen, Ansehen, Statussymbole. Nichts allzu großes, alles im Rahmen dessen, dass er in seinem Heimatdorf, in dem er mit Frau, Tochter (später Töchtern) und Eltern lebt, ganz oben mitmischen kann. Dass das Leben nicht immer so läuft, wie man es sich wünscht, ist für ihn inakzeptabel, daran muss irgendwer schuld sein. Jemand, der nicht er selbst ist. Und da bietet sich in erster Linie das Übergewicht seiner Frau an, eine sichtbare Erinnerung der Diskrepanz zwischen Wunsch und Realität. Ein ständiger Dorn im Auge, der seine Ehe an den Rand ihrer Existenz drängt. Ein Übel, für dessen Beseitigung er auch vor drastischen Maßnahmen bis hin zur Erpressung nicht zurückschreckt.

Ein Mann, der seine Idee von der Position eines Familienvaters umsetzen will, eine Frau, die der ihr zugedachten Rolle als Ehefrau und Mutter in diesem Gefüge nur bedingt gerecht werden kann und will, eine Tochter, die zwischen die lieblosen Fronten gerät. In „Lügen über meine Mutter“ erzählt Daniela Dröscher aus Sicht der Tochter Ela von einer Ehe, die an Erwartungen und Schuldzuweisungen zu zerbrechen droht. Dabei mag das Gewicht der Mutter der Punkt sein, um den die Geschichte immer wieder kreist, aber in dem Roman geht es um sehr viel mehr. Zum einen ist er die detailgenaue Spiegelung einer Zeit, in der Frauen in Deutschland erst seit wenigen Jahren einen Job ohne die Einwilligung ihres Ehemannes annehmen konnten. In der die Rollenverteilung von der Frau am Herd und dem Mann, der für das Wohlergehen seiner Familie verantwortlich ist, noch mehr Gewicht hatte. Besonders – und hier kommen wir zu der zweiten Ebene – in einer ländlichen Gegend, einem Milieu, in der jeder Schritt beobachtet wird und klar definiert ist, was man zu tun und zu lassen hat. Wo der Aufrechterhaltung eines Wunschbildes nach Außen das Wohlergehen im Inneren an schnell mal an Wichtigkeit überbietet.

Dröschers Sprache ist eher einfach gehalten, spielt aber gleichzeitig auch eine zentrale Rolle. Eingeschobenen Passagen zwischen den Kapiteln reflektieren das Erzählte aus Sicht der nun erwachsenen Tochter, setzen sich aber auch mit dem Schreiben und der Arbeit des Schriftstellers auseinander. Besondere Aufmerksamkeit kommt dabei Redewendungen zu, der Frage, wann ihre Verwendung akzeptabel ist. In den Kapiteln selbst werden sie oft kursiv hervorgehoben, was ich nicht uninteressant fand, weil man als Leser schnell dazu tendiert, sie gar nicht mehr wahrzunehmen. So ergibt sich sozusagen eine Sprachstudie innerhalb einer Gesellschafts- und Milieustudie.

Wer in den 1980ern Kind war, ist, denke ich, klar im Vorteil. Ich weiß nicht, ob ich den Roman mit der gleichen Begeisterung gelesen hätte, wenn ich mich nicht immer wieder in meine Kindheit zurückkatapultiert gefühlt hätte.

Ob „Lügen über meine Mutter“ eine Chance auf den Deutschen Buchpreis 2022 hat, vermag ich nicht zu sagen. Ich habe Zweifel, vor allem, weil das Buch stilistisch nicht aus der Menge heraussticht, keine exzentrische Stimme oder ausgefallenes Thematik hat. Gönnen würde ich es ihm trotzdem, gerade weil es unaufgeregt, aber eindrucksstark ein Stück Zeitgeschichte transportiert, die wir noch lange nicht ganz hinter uns gelassen haben. Von mir gibt es auf jeden Fall eine große Leseempfehlung und gedrückte Daumen.

Bewertung vom 26.09.2022
Diop, David

Reise ohne Wiederkehr oder Die geheimen Hefte des Michel Adanson


gut

Viel hat Aglaia von ihrem Vater Michel Adanson nicht gehabt. Naturforscher war er, hat einen Teil seines Lebens im Senegal verbracht, und dann mit seinem ehrgeizigen Projekt, eigenhändig eine Enzyklopädie über die Flora und Fauna Afrikas zu verfassen. Für Frau und Kind war wenig Raum und Vater und Tochter kamen sich erst kurz vor seinem Tod ein wenig näher. Jetzt ist Michel gestorben und hat Aglaia sein Hab und Gut hinterlassen. Darunter auch eine für sie aufgeschriebene Geschichte von seinem Aufenthalt im Senegal. Wie er Maram, die junge Heilerin, kennen und lieben lernte, und wie sein Heimatland Frankreich die Kolonien in Afrika unterdrückt und ausbeutet hat.

Ich weiß nicht, ob jeder Leser dieses Gefühl kennt, aber manchmal treffe ich auf Bücher, die sich, ohne ersichtlichen Grund, in Relation zu mir wie einander abstoßende Magnetpole verhalten. „Reise ohne Wiederkehr“ von David Diop war ein solches Buch. Trotzdem ich stilistisch nichts auszusetzen hatte, war es mir kaum möglich, mich auf das Geschriebene zu konzentrieren, kam ich in die Geschichte einfach nicht rein. Vielleicht lag es daran, dass der Roman das Flair einer Abenteuergeschichte à la Joseph Conrad ausstrahlt, ein Genre, das mich allgemein nicht sehr anspricht. Vielleicht aber auch daran, dass wenig Atmosphäre und Tiefe in der Zeichnung des Protagonisten entstand. Die Distanz zu der Haupt- und allen anderen Figuren war so groß, dass sie und ihr Schicksal mir fast schon gleichgültig waren. Vielleicht habe ich auch einfach nicht verstanden, warum sich Diop eine reale Person für eine fiktive Geschichte ausgesucht hat (jedenfalls unterstelle ich ihr, fiktiv zu sein).

Schreiben kann Diop, daran möchte ich gar keinen Zweifel aufkommen lassen. Herausgestochen ist er für mich aber auch hier nicht. Neugierig macht mich allerdings die Frage, ob sein Roman „Nachts ist unser Blut schwarz“, der unter anderem mit dem Prix Goncourt und dem International Booker Prize ausgezeichnet wurde, anders ist. Ob ich da das Leseerlebnis finden würde, was ich hier vermisst habe. Vielleicht werde ich es herausfinden, aber bis dahin kann ich nur eine sehr verhaltene Leseempfehlung geben.

Bewertung vom 24.09.2022
Raimondi, Daniela

An den Ufern von Stellata


sehr gut

Wir befinden uns in der Po-Ebene zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Zum Entsetzen seiner Eltern verliebt sich der junge Giacomo Casadio in Violica Tosca, eine „Zingara“ vom fahrenden Volk. Eine wilde Frau, mit ungestümem Temperament und Federn im Haar. Die beiden heiraten und gründen damit eine Familie, die nicht nur voller schwermütiger und eigenwilliger Träumer ist, sondern die auch über übersinnliche Gaben verfügt. Das Talent für Weissagungen und Gedankenlesen, so wie die Fähigkeit, mit den Toten zu sprechen, zieht sich durch die Generationen. Und ist nicht immer ein Segen.

Mit „An den Ufern von Stellata“ hat Daniela Raimondi eine Familiensaga geschaffen, die nichts zu wünschen übrig lässt. Über zweihundert Jahre verfolgen wir das Schicksal der Familie Casadio vor dem Hintergrund der italienischen (und brasilianischen) Geschichte, und das unterhaltend, mitreißend und lehrreich. Wie es sich gehört, breitet sie den großen Kreislauf des Lebens von Geburten und Todesfällen, Hochzeiten, Auswanderungen, Liebe, Wünschen und zerbrochenen Träumen vor ihren Lesern aus. Dass Raimondi noch einen Schuss Übersinnliches hinzufügt, passt wunderbar in das von ihr kreierte Gemälde (und sie ist ja auch nicht die Erste mit dieser Idee).

Das einzige, was ich ein wenig bedauert habe, ist, dass es mir im Verlauf der Geschichte immer schwerer fiel, die Figuren auseinander zu halten. Ob das daran lag, dass die Autorin sich zu sicher war, dass ihre Leserschaft über ein hervorragendes Gedächtnis verfügt, und darum zu selten wiederholt hat, wer wo einzuordnen ist, oder ob meine Aufmerksamkeitsspanne einfach nicht gereicht hat, vermag ich nicht zu sagen. Fakt ist nur, dass ich dadurch nicht mehr ganz so involviert war und weniger mitgefiebert habe, als es das Geschehen hergegeben hat.

Die Interpretation des Buches durch Simone Kabst als Sprecherin hat meinen Geschmack nicht komplett getroffen. Es ist eine solide und akzeptable Leistung, mit der sie uns durch die Jahre und Schicksale führt, aber letztendlich war mir ihre Umsetzung zu monoton. Bei ihr klangen mir alle Figuren zu ähnlich, hatten zu wenig Farbspiel.

Alles in allem ist „An den Ufern von Stellata“ für alle Liebhaber von Familiensagas ein Roman, den sie nicht links liegen lassen sollten. Kaum zu glauben, dass so ein gut durchdachtes, strukturiertes und sicher geschriebenes Buch ein Debüt ist. Den Namen Daniela Raimondi sollte man sich merken.

Bewertung vom 21.09.2022

Ich Verliebe Mich So Leicht (Ungekürzt)


sehr gut

Ein 50-Jähriger ist unterwegs nach Schottland. Denn dort wohnt die Frau, in die er sich verliebt hat. 20 Jahre jünger ist sie, eine kurze Affäre war es, die sie in Paris hatten. Nur eine Affäre, denn die junge Frau hat einen anderen. Aber den Mann lassen seine Gefühle einfach nicht los. Und so ist er auf dem Weg zu ihr, beladen mit Hoffnungen, Träumen und Unsicherheiten.

Eigentlich interessieren mich Beziehungsgeschichten nicht sonderlich. Vor allem, wenn sich alles um sie dreht, das Geschehen auf diesen einen Aspekt fokussiert oder reduziert wird. Männer in ihrer (vermuteten) Midlife-Crisis, die sich in deutlich jüngere Frauen auf Gedeih und Verderb verlieben, finde ich auch nicht wirklich aufregend. Was „Ich verliebe mich so leicht“ (übrigens Gewinner des Prix du roman d’amour 2007) von Hervé Le Tellier trotzdem zu einer Hörfreude für mich gemacht hat, ist der intelligente und treffende Humor, mit dem er diese kurze Geschichte erzählt. Die Ironie, die Reflexion, das Durchbrechen der vierten Wand... Ein Paradebeispiel für einen Anti-Helden. Hier ist ein Autor erfrischend eigen und vielschichtig, ersetzt Sentimentalitäten und Gefühlsgeschwafel durch echtes Leben. Ist amüsant, ohne albern oder gefällig zu werden.

Und noch etwas hat mich zu einem kleinen Fan dieses Hörbuchs gemacht: die Interpretation Uve Teschners als Leser. Ich gestehe ihm mindestens 50 % des Erfolges zu, denn stimmiger und mitreißender hätte es nicht sein können. Teschner gehört zu den seltenen Sprechern, bei denen man gezielt danach sucht, was sie noch eingelesen haben.

„Ich verliebe mich so leicht“ ist ein dünnes Büchlein, gerade mal anderthalb Stunden dauert die ungekürzte Hörbuchversion. Und in diesem Fall denke ich, dass das auch gut so ist. Denn bei aller Freude am Produkt ist diese Art des Erzählens doch eine, die schnell in ein Zuviel kippen kann. Le Tellier hat genau dosiert und eine Lese- bzw. Hörempfehlung ist hier eindeutig verdient. Ein Autor, von dem ich auf jeden Fall noch mehr lesen/hören möchte.

Bewertung vom 19.09.2022
Schentke, Anna Yeliz

Kangal


sehr gut

Dilek hält es nicht mehr aus. Seit dem Putschversuch der Armee im Juli 2016 ist es in Istanbul für Kritiker des Regimes noch unsicherer geworden, als zuvor. Deswegen war Dilke bisher vor allem in der Anonymität des Internets tätig. Als Kangal1210 hat sie ihre Meinungen verbreitet, aber als einer aus ihrer Gruppe verhaftet wird, packt sie ihre Sachen und fliegt nach Deutschland. Ohne ihren Freunden oder ihrem Lebenspartner Tekin ein Wort zu verraten. In Deutschland ist Dileks Cousine Ayla. Aber in Deutschland ist auch die Erkenntnis, dass ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen keine Frage des Aufenthaltsortes ist.

Aus vier Perspektiven erzählt Anna Yeliz Schentke in ihrem Debüt „Kangal“ über das Lebensgefühl junger Türken in unseren Zeiten. Zum einen ist da Dilek, die, von der Angst getrieben, die Frage danach, wem man vertrauen, wem man sich öffnen kann, auf die eigene Familie ausweiten muss. Die ihre Grenzen kennt und lieber geht, bevor die Polizei sie holt. Ihr fast diametral gegenüber steht ihr Freund Tekin, für den Flucht keine Option ist, egal, wie gefährlich es wird. Ayla schließlich lebt zwar in Deutschland, fühlt sich aber durchaus auch als Türkin. Durch ihr Leben außerhalb der Türkei fehlt es ihr aber an einem echten Zugang zu der dortigen Lebensrealität. Und dann sind da noch die namenlosen Stimmen, in einer anderen Schriftart gedruckt, die man nicht genau zuordnen kann. Gehört eine davon Dilek? Dem Freund im Gefängnis? Unbekannten, die mit ihren Worten das Puzzle vervollständigen sollen?

Alles in allem hat mir „Kangal“ gut gefallen, weil es mir einen Teil türkischer Geschichte und wohl auch Lebensrealität näher gebracht hat, den ich nur noch dunkel in Erinnerung hatte, und über dessen Auswirkungen bis in unsere Zeit ich gar nichts wusste. Man neigt schnell dazu, Gruppen von außen als eine glatte Einheit zu erfassen, ohne die Kluften, die durch diese Gruppe geht, Familien und Freundschaften zerstören kann, wahrzunehmen. „Kangal“ deckt diesen Fehler auf, erinnert einen daran, dass eine Gesellschaft nicht nur vielschichtig ist, sondern auch von tiefen Klüften durchzogen sein kann, die ein Zusammenleben schwer bis fast unmöglich machen.

Schade fand ich, dass bei Schentke alle Stimmen gleich klingen. Die kurzen Kapitel sind mit dem betreffenden Namen überschrieben, aber ohne den hätte ich nicht sagen können, in wessen Gedanken wir uns gerade befinden. Dadurch haben die Charaktere für mich an eigener Dynamik und Tiefe viel verloren, eine Verbindung, ein echtes Interesse an ihren Schicksalen, ist bei mir nicht entstanden.

„Kangal“ ist dieses Jahr auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Ich hätte es dort nicht gesehen, denn obwohl ich es als ein recht gutes Buch bezeichnen würde, hat mir der Wow-Effekt gefehlt. Trotzdem würde ich es weiterempfehlen, weil es mir neue Aspekte und Stoff zum Nachdenken geliefert hat. Ein Kriterium, das ich hoch schätze. Und weil ich finde, dass es ein mutiges Buch ist. Darum gibt es eine leicht verhaltene Leseempfehlung.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.09.2022
Beek, Tatjana von der

Die Welt vor den Fenstern


sehr gut

Maia und ihre Familie wohnen in einem Haus am Waldrand. Ihre Familie, das sind die Großmutter, Maias Mutter, Tante, Onkel und ihre Cousine. Das Haus ist eines, das niemand jemals verlässt. Es hat nicht einmal Türen zur Außenwelt. Für das, was man zum Überleben braucht, werden Glasglocken auf bestimmte Stellen des Bodens gestellt, in denen sich das Benötigte manifestiert. Alle in der Familie sind nach Sternen benannt, Charakter und Konstellationen in den Beziehungen scheinen sich nach diesen Namensvettern zu richten. Überhaupt spielt die Astronomie eine große Rolle im Alltag, gehört zum einzigen, womit man sich, neben den Aufgaben im Haushalt, beschäftigt. Maia hat das alles nie hinterfragt, für sie gab es nie etwas anderes. Doch dann macht sie eines Tages eine Entdeckung, die ihr ganzes Glaubenskonstrukt zusammenbrechen lässt. Und sie beschließt, dem Rätsel auf die Spur zu kommen.

Ganz kurzgefasst hat mich „Die Welt vor den Fenstern“ von Tatjana von der Beek von Anfang an gepackt. Ein beeindruckendes Debüt von einer jungen Autorin, die schon ihren ganz eigenen Ton gefunden hat. Von der Beek gehört eindeutig zu den Schriftstellerinnen, die es verstehen, einen direkt vor Ort dabei sein zu lassen, ihr Stil spricht alle erreichbaren Sinne an. Die feinfühlige Stimmung, die sie mit ihrer klaren, schönen Sprache schafft, die auf der einen Seite wohlige Harmonie, auf der anderen das über allem hängende Enigma durchschimmern lässt, ist - ja, ich habe dieses Wort gerade eben schon einmal verwendet, aber es ist nun mal so - beeindruckend.

Diese Unmittelbarkeit allein hätte schon gereicht, mich an das Buch zu fesseln, aber die Neugierde, was hinter dem Lebensstil dieser ungewöhnlichen Familie steht, hat sein Übriges getan. Trotzdem von der Beek sehr ruhige erzählt, sich viel Zeit für Details und kleine Beobachtungen lässt, zieht sie den Spannungsbogen gezielt und ohne Unsicherheiten. Wie einen roten Faden, den man fast traumwandlerisch folgt.

Und gerade weil alles so wunderbar stimmig, so rund und komplett war, habe ich mich nach Beendigung des Buches im Stich gelassen gefühlt. Es ist unmöglich, darüber zu schreiben, ohne zu viel zu verraten, aber was, Frau von der Beek, was haben Sie sich nur dabei gedacht? So wurde aus einer perfekten Lektüre eine nur fast perfekte Lektüre. Aber gut, das ist ja auch noch eine Menge wert. Sollten Sie noch einen Roman schreiben, haben Sie mich jedenfalls als Leserin an Bord.

Leseempfehlung!

Bewertung vom 15.09.2022
King, Lily

Hotel Seattle


sehr gut

Ein Buchladenbesitzer, der sich in seine Angestellte verliebt. Eine Mutter, die nach dem Tod ihres Mannes keinen Zugang zu ihrer Tochter bekommt. Ein junger Mann, der sich endlich traut, seinem besten Freund zu sagen, dass er homosexuell ist. Eine Frau, die sich von dem Vater ihrer Freundin angezogen fühlt. Ein Buch, das noch gar nicht geschrieben wurde. Das sind nur fünf der insgesamt zehn Szenarien, in die uns Lily King in ihrem neuen Erzählband „Hotel Seattle“ entführt.

Und damit beweist, was sie drauf hat. Ihre Erzählungen haben kein gemeinsames Grundthema, spiegeln dafür aber eine enorme Bandbreite an Persönlichkeiten und Schicksalen. King beherrscht die gesamte Tonleiter menschlicher Gefühle, gibt ihren Figuren unverwechselbare Stimmen, die im Gedächtnis bleiben.

Nicht alle Erzählungen haben mir gleich gut gefallen, nicht alle haben sich für mich rund angefühlt oder mich inhaltlich angesprochen. Aber jede einzelne hat mich unmittelbar hineingezogen. Gleichgültig, oder gar gelangweilt, wie es mir bei Erzählungen durchaus mal passieren kann, war ich keinen einzigen Moment.

Lily King gehört für mich zu der handvoll Autoren, von denen ich alles lesen möchte, das war schon nach meiner ersten Begegnung mit ihrem Werk so, und hat sich durch „Hotel Seattle“ noch einmal verstärkt.

Und ich möchte auch mal wieder die Gelegenheit nutzen, das schöne Cover zu erwähnen. Farbintensiv und bunt, genau wie der Inhalt.

Erzählungen zu besprechen finde ich schwer. Im Prinzip müsste man sich mit jeder Geschichte einzeln befassen, was den Rahmen wiederum sprengen würde. Man kann es aber auch ganz kurz machen: Leseempfehlung!

Bewertung vom 13.09.2022
Walliams, David

Gangsta-Oma schlägt wieder zu! / Gangsta-Oma Bd.2 (MP3-Download)


sehr gut

Ein Jahr ist seit dem Tod von Bens Großmutter vergangen und er vermisst sie nach wie vor wie verrückt. Denn Bens Großmutter war nicht irgendeine Großmutter, sie war eine Gangsta Oma, eine international bekannte und gefürchtete Juwelendiebin, auch „die schwarze Katze“ genannt. Bei ihrem letzten Coup hat Ben sie begleitet und gemeinsam haben sie versucht, die Kronjuwelen der Königin zu stehlen. Fast wäre es ihnen sogar gelungen, aber leider (oder glücklicherweise) wurden sie ertappt. Ausgerechnet von der Queen persönlich. Was auch seine Vorteile hatte, denn so konnte Ihre Majestät die beiden gleich vor Ort begnadigen. Aber die spannenden Zeiten sind nun vorbei. Oder doch nicht? Auf einmal beginnt eine Serie von Verbrechen, die genau dem Schema der Gangsta Oma folgen. Ben gerät in Verdacht und beschließt, dem Täter auf die Spur zu kommen. Ein neues Abenteuer beginnt, in dem Ben auch die Queen wiedertreffen wird. Und eine geheimnisvolle schwarze Katze, die ihn nicht von der Seite zu weichen scheint.

Die Kinderbücher von David Walliams (eher bekannt aus seiner Fernsehserie „Little Britain“ und als Jurymitglied bei „Britain’s Got Talent“) sind nicht unumstritten. Sie seien rassistisch, voller Klassendünkel und Bodyshaming, ein „Little Britain“ für Kinder sozusagen. Ich habe bisher nur zwei der mittlerweile über zwei Dutzend Bücher gelesen (bzw. gehört), und kann es deswegen nicht wirklich beurteilen, aber wahrhaft empörendes ist mir nicht aufgefallen. Walliams neigt durchaus dazu, die Grenzen des guten Geschmacks mal zu übertreten und ins Unappetitliche abzugleiten, aber bekannterweise finden Kinder wenig lustiger, als wenn es eklig wird. Und diese Stellen sind sehr sparsam gestreut, keine Sorge.
Walliams ist kein Philip Ardagh, meinem Großmeister der witzigen britischen Kinderliteratur, aber er hat durchaus Talent für umwerfende Situationskomik und originelle Charaktere.

Originelle Charaktere, die Dietmar Bär großartig zum Leben erweckt. Es war meine erste Begegnung mit Bär als Hörbuchsprecher, aber ich erkläre mich hiermit offiziell zum Fan. Ich wage zu bezweifeln, dass ich mich, hätte ich selbst gelesen, auch so gut unterhalten gefühlt hätte. Laut gegrunzt vor Lachen hätte ich jedenfalls garantiert nicht.

„Gangsta Oma schlägt wieder zu“ ist ein Hörbuch, das tatsächlich allen Altersgruppen Spaß machen kann. Und ich hoffe, dass die Queen es vor ihrem Tod noch dazu kam, ihren Enkeln vorzulesen. Dann hätte sie endlich einmal Grund gehabt, „amused“ zu sein.

Bewertung vom 11.09.2022
Salazar, Lorena

Der Fluss ist eine Wunde voller Fische


ausgezeichnet

Das Boot ist unterwegs auf dem Fluss Altrato in Kolumbien. Unter den Passagieren sind eine Frau und ihr kleiner Sohn. Nichts Ungewöhnliches, außer, dass die Mutter weiß, der Junge aber schwarz ist. Und die Frau eben nicht die biologische Mutter des Kindes. Einige Jahre ist es her, dass die leibliche Mutter der Frau den Jungen, damals noch ein Baby, in die Arme drückte und verschwand. Und die Frau den Kleinen aufzog, als wäre er ihr eigenes Kind. Aber jetzt ist ein Brief von jener „echten“ Mutter gekommen, der sagt, dass sie ihr Kind sehen möchte. Und so hat sich die Frau aufgemacht zu einer Reise auf einem Fluss, der sie in die Erinnerungen der Vergangenheit und die Schrecken der Zukunft führen wird.

„Der Fluss ist eine Wunde voller Fische“ von Lorena Salazar ist ein Buch, dass ich mir allein wegen seines bizarren Titels fast hätte entgehen lassen. Aber zum Glück nur fast. Dieser Roman hat mich in erster Linie durch seine Sprache beeindruckt. Dass eine junge Autorin schon in ihrem Debüt eine ganz eigene Ausdrucksweise findet, erlebt man nicht so häufig. Noch dazu eine, die sich dem Leser nicht anbiedert, sondern ein Stück weit seine Aufmerksamkeit fordert. Ohne aber je anstrengend zu werden. Eine poetische Sprache mit Ecken und Kanten, ähnlich einem Fluss, der gleichmäßig dahin strömt, aber durch viele kleine Hindernisse Turbulenzen verursacht. Und auch die Geschichte selbst passt sich der Fluss-Metapher an. Lange fließt sie, wiegt einen in Sicherheit, bis die Ereignisse sich plötzlich überschlagen und kalt erwischen.

„Der Fluss ist eine Wunde voller Fische“ ist einer jener Schätze, die noch nach der Beendigung der Lektüre in einem nachklingen. Die ihre Wirkkraft dann sogar erst richtig entfalten. Eines jener Leseereignisse, die man nur schwer in Worte fassen kann. Lorena Salazar wird man jedenfalls im Auge behalten müssen. Eine große Leseempfehlung!