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leseleucht
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Insgesamt 213 Bewertungen
Bewertung vom 14.04.2025
Schünemann, Christian

Bis die Sonne scheint


sehr gut

Schöner Schein

Sympathisch ist der Erzähler in Schünemanns Roman „Bis die Sonne scheint“, der so unbeholfen wirkt und so anders als der Rest dieser Familie, die eine komische Mischung von Optimismus, Komik und gefährliche Verdrängungsmechanismen ausmacht. Diese haben die Eltern, Vater Architekt, Mutter gelernte Buchhalterin, zwischenzeitlich Wolllädcheninhaberin und bisweilen helfende Hand im Büro ihres Mannes, an den Rand des finanziellen Ruins getrieben. Doch das versuchen sie geschickt zu vertuschen, vor den Leuten im Dorf, vor den Kindern und vor der Großmutter. „Bis die Sonne scheint“ ist so etwas wie ihr Lebensmotto: Sie suchen so lange nach ihrem Lebenszuschnitt, bis ihnen die Sonne scheint. Allerdings machen ihnen Wolken immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Ein Konzept funktioniert, verspricht Erfolg. Doch dieser ist nicht von Dauer. Und schon muss man sich wieder auf die Suche nach der Sonne machen. Dies Prinzip setzt sich schon länger in beiden Familien fort. In Exkursen werden im Rückblick die Familiengeschichten beider Elternteile erzählt, beginnend mit dem Ende des Krieges 1945, der von allen eine Neuordnung des Lebens fordert. Immer wieder müssen Lebensmodelle über den Haufen geworfen werden, muss nach einem Scheitern ein Neuanfang gewagt werden. Höhen und Tiefen wechseln sich ab. Aber irgendwie gilt immer nur das Weitermachen, so kräftezehrend es auch ist, um ein klein wenig Lebensglück zu finden. Wem das nur schwer zu gelingen scheint, ist der junge Erzähler. Sein Glück fällt dem misslungene Lebenskonzept der Eltern zum Opfer: der Frankreichaustausch, den er ersehnt, kann nicht bezahlt werden, die Konfirmation schrumpft auf eine Minifamilienfeier und das Elternhaus gerät unter den Hammer. Zukunft ungewiss. Einziger Lichtblick ist Zoe. Ihre Eltern stammen aus dem Osten, aber sie haben im Westen Fuß gefasst. Geld spielt keine Rolle. Dafür bröckelt hier die Ehe der Eltern, die Mutter verfällt in eine Depression, der Vater hat eine neue. Auch keine Idylle.
Der Roman kann den Leser schon packen. Die Schicksale der Familien sind zum einen ergreifend, zum anderen nicht ohne Komik. Besonderes Highlight für die Zeitgenossen sind die vielen Reminiszenzen an die Zeitgeschichte. Auf jeden Fall ein spannendes Porträt der deutschen Nachkriegsgeschichte. Nur die vielen Sprünge in der Handlung in verschiedene Stränge der Vergangenheit und die bisweilen verwirrenden Beziehungsgeflechte in den Familien bringen beim Lesen schon einmal durcheinander: wer war das gleich noch mal?

Bewertung vom 14.04.2025
Wildner, Maxine

Bis unsre Seelen Sterne sind. Rilke und Lou Andreas-Salomé


sehr gut

Leiden erschafft Großes
Das ist die Tragik vieler berühmter Künstler, dass ihr Leben voller Leiden Voraussetzung für ihre großartigen Kunstwerke ist. So ergeht es auch Rainer Maria Rilke. Ein schwieriges Verhältnis zu seiner Mutter, eine unglückliche Physiognomie und eine der Sehnsucht verschriebenes Seelenleben, das sich schnell langweilt, wenn sich die Sehnsucht erfüllt, und das das Sehnen sucht, schaffen die Disposition für die großen Gedichte, die dem Künstler vor allem im Nachleben so viel Bewunderung und Verehrung eingebracht haben. Zu Lebzeiten führte er ein eher kümmerliches Leben, immer knapp bei Kasse, immer angewiesenen auf Gönner, immer in Angst vor dem weißen Blatt, immer auf der Suche nach so etwas wie Zuhause.
In ihrer Romanbiografie porträtiert Maxine wildner im Doppel Rile und Lou Andreas Salomé, eine ungewöhnliche Frau, Geliebte, Entdeckerin, Förderin und Vertraute Rilkes. Auch ihr Leben ist ein unstetes. Sie führt eine Ehe zum Schein und ein eher unkonventionelles Leben. Sie besucht nicht nur als eine der ersten Frauen die Universität, sie hat auch wechselnde Beziehungen zu Männern. Auch sie ist ständig auf Reisen und auf der Suche. Ihr Verhältnis zu Rilke ist wechselhaft. Sie ist viel älter. Er schwierig. Beide haben eine Anlage zum Narzissmus. Beide streben nach Unabhängigkeit, brauchen aber auch die Bewunderung, den Rat, die Inspiration des anderen.
Das Buch zeigt ein schonungsloses, nicht immer schönes Bild zweier unkonventioneller Leben. Insbesondere Rilke zeichnet die Autorin immer wieder abstoßend und flicht gleichzeitig seine wunderschönen Verse in ihren Text mit ein. Man kann schon verstehen, dass beide sich immer wieder suchten und gegenseitig abstießen, weil sie schon eine Art Seelenverwandte waren und zugleich immer auf der Suche nach etwas. Wildner zeigt weitere Parallelen auf, die sie verbanden, und macht diese Verbundenheit bis zum Moment von Rilkes Tod sehr deutlich. Es entsteht das spannende, ungewöhnliche Porträt einer Beziehung, die über eine Liebesbeziehung hinaus zu einer Beziehung einer tieferen Art der Liebe wird.
Einzig störend ist die Verwirrung, die bisweilen durch die Zeitsprünge vor und zurück zwischen Rilkes und Lous Leben entsteht in dem Bestreben, beiden Personen – auch über ihre gemeinsame Beziehung hinaus – gerecht zu werden.

Bewertung vom 27.03.2025
Heimgartner, Thomas

Ping


ausgezeichnet

Wussten Sie, dass Ping ein chinesischer Vorname ist?
Nicht nur das erfährt der Leser in Thomas Heimgartners „Zweiseitenspiel“, sondern auch jede Menge über Tischtennis. Doch gleich vorweggenommen, der Roman ist nicht nur etwas für eingefleischte Tischtennisexperten oder die, die es noch werden wollen und denen das eingeflochtene Glossar zum sportiven Fachvokabular gute Dienste leisten kann.
Das Schöne an dem schmalen Bändchen ist, dass man ihn als Hommage an eine Tischtennisjugend lesen kann. Als leichtfüßige, vielleicht ein wenig nostalgische Retrospektive in eine von nichts als vielleicht ein wenig Liebeskummer belastete Sommerferienzeit der späten 80er. Als anregenden Generationenroman im Gespräch zwischen Tochter und Vater, die beide auf der Suche sind nach ihrem Platz im Leben und die beide indirekt um das Verständnis des anderen werben: Der Vater, indem er von seiner Jugend im Sommer 1989 erzählt, seiner Leidenschaft für Tischtennis, seiner Sehnsucht nach Zugehörigkeit und seiner ersten zarten Liebe zu Ping, einem chinesischen Mädchen, das verschwindet, bevor er es überhaupt kennenlernen kann. Die Tochter, die sich vom Vater verlassen fühlt, der Frau, 25jähriges „Kind“ und Heimat hinter sich gelassen hat, um in Bangkok herauszufinden, wer er ist – oder vielleicht findet er es heraus in dem sich dadurch neu eröffnenden Gespräch mit seiner Tochter. Die Tochter fordert Antwortnt, provoziert in pointiertem, (selbst)ironischem Stil und offenbart damit auch sich selbst als Suchende nach einem eigenen Ort, an den sie gehört, nach einem passenden Beruf, einem passenden Partner, denn der ihr bekannte Ort von Zuhause oder Heimat ist ihr mit der Flucht des Vaters ja auch ein Stück weit genommen worden, unabhängig davon, dass ihr Alter diesen Schritt ins Leben von ihr verlangt.
Und so kann man dieses „Zweiseitenspiel“ auch lesen als literarisches Experiment mit der Metapher des Ping-Pong-Spiels, wie der Laie es nennt, die nicht nur für die unberechenbaren Bälle steht, die einem das Leben zuspielt, sondern auch für eine Form des Dialogs und damit die strukturelle Form des Textes: ein Hin und Her, ein Schlagabtausch zwischen Vater und Tochter mit je eigenem Spielstil und wechselnder Intention. Scheint es zu Beginn noch um Sieg und Niederlage, Angriff (der Tochter) und Verteidigung (des Vaters) zu gehen, so wird daraus bald eine Zu(sammen)spiel, das bemüht ist, die Bälle möglichst lange in der Luft zu halten. Kunstvoll und fast unmerklich – den genauen Leser fordernd – webt der Text in die zwei zunächst zusammenhanglos nebeneinander stehenden Nachrichten – die Tochter schreibt über sich in Reaktion auf das Verlassenwerden vom Vater, der Vater hält scheinbar zusammenhanglos seine Jugendgeschichte dagegen – erste zarte Bezüge, Antworten ein, die sich immer mehr zum echten Dialog auswachsen. Die Tochter schreibt im inkohärenten Stakkato-Stil einer digital geprägten Short-Message-Generation (mit herrlich selbst- und medienkritischen Exkursen), der Vater erzählt behäbiger, mit der Muße eines Jungen, der sechs Wochen sorgenfreie Ferien und jede Menge – fast schon zu viel – freie Zeit vor sich hat.
Meine Ausführungen zeigen schon das, was für mich die absolute Freude an dem kleinen Büchlein ausmacht: Man kann sich Tochter und/oder Vater nahe fühlen, sich in ihre Situationen hineinversetzen, ohne das man viel von ihnen erfährt, womit sich gleichzeitig eine Offenheit ergibt, die Anregungen gibt und Platz lässt für ganz viele Gedanken und Bezüge, die sich herstellen lassen. Das zum Teil rasante Ping-Pong des Dialogs – Ping ist wohl auch ein Maß für die Zeitspanne eines digital gesendeten Nachrichtenpakets und der darauf folgenden Antwort („Paketumlaufzeit“) – erzeugt beim Lesen das Gefühl, da noch einmal genauer hinschauen und noch mal nachlesen zu müssen, um einen flüchtigen Gedanken aufnehmen und weiter denken zu können.
Was will man mehr von einem Buch, das einen gut unterhält, mit dessen Figuren man sich gerne austauschen mag, als dass es – man verzeihe mir diese Schülerinterpretationsaufsatzpauschalphrase – zum Nachdenken anregt und fast zwangsläufig zum Reden über sich bringt.

Bewertung vom 25.03.2025
Engelmann, Gabriella

Der Gesang der Seeschwalben / Die Bücherfrauen von Listland Bd.1


gut

Seicht
Eigentlich ein interessanter Plot: Eine Bücherfrau auf Sylt soll nach erfolgreichem Podcast-Porträt Gegenstand einer Biografie der Journalisten und Autorin Anna werden. Doch bei der Recherche stößt diese auf Schwierigkeiten, Geheimnisse und Geheimverstecke, die in die dunkle Zeit des Nationalsozialismus zurückreichen, die auch die Insel Sylt nicht verschont.
Die Umsetzung hat mich allerdings wenig überzeugt. Die Atmosphäre der Insel Sylt und auch der norddeutschen Lebensart ist durchaus ansprechend. Aber die Story beinhaltet für mich einige Ungereimtheit und erscheint mir unausgewogen darin, worauf das Augenmerk der Handlung liegt. So lesen wir seitenlang über Lenes großer Liebe und Sehnsucht zu dem Buchhändler Marten, der im Gästezimmer ihrer Eltern auf schriftstellerische Inspiration hofft, dann aber plötzlich aus (noch) nicht bekannten Gründen überstürzt abreisen muss. Wir schreiben das Jahr 1937 und können erahnen, was ihn zur Flucht veranlasst. Genauso ergeht sich Anna auf Ebene der Gegenwart immer wieder in ihren sehnsüchtigen Gedanken an den Sohn der Bücherfrau Fenja, die sie zu Recherchezwecken aufsucht. Nur ist der leider schon anderweitig vergeben.
An anderer Stelle aber fehlen Entwicklungen, Handlungsmotive und emotionale oder rationale Hintergründe für das Handeln der Figuren: Warum verschwindet Fenja, bevor Anna überhaupt ankommen kann und obwohl sie zu einem Arbeitstreffen verabredet sind. Sie kann einen kryptischen Zettel schreiben, aber keinen nachvollziehbaren Grund, den es gibt und den man auch, ohne zu viel Persönliches preiszugeben, nennen könnte. Oder Lenes Mann, den sie heiratet, als sie erfährt, dass sie von Marten unehelich schwanger ist. Eingeführt wird die Figur so, als ob sie nichts dagegen hätte, das Kind eines anderen großzuziehen. Aber gleich vom ersten Moment an präsentiert sie sich unsympathisch und unterschwellig bedrohlich. Dann verschwindet sie fast in der Versenkung, nur um plötzlich aufzutauchen und unerwartet anzukündigen, dass er mit der gemeinsamen Tochter, die sie neben Lenes erstem Mädchen haben, die Insel verlassen und zu seiner Familie ziehen werde. Dann ist die Figur wieder absent. Eine Gefühlsregung Lenes darauf wird kaum genannt. Sie akzeptiert schnell, macht keinerlei Versuche, Kontakt zu der Tochter aufzunehmen, auch nicht, als der Krieg vorbei und die Gefahr gebannt ist, dass die halbjüdische Identität der älteren Tochter zur Gefahr für die Familie würde. Zwar wird traumatisches Schweigen als ein Grundproblem in der Familie von Lene und Fenja benannt, das sich auch noch auf Fenjas Kinder ausdehnt und wohl der Grund für ihr zuerst unerklärtes Abtauchen sein soll. Auch Fenjas ältere Tochter verschwindet einfach, man weiß nur, dass sie in die große Welt hinaus möchte. So ist dann der Boden für den zweiten Band gelegt. Ein neues Geheimnis, das es zu entschlüsseln gilt. Und wahrscheinlich auch eine zweite Chance für Anne und ihre Liebe zu Fenjas Sohn.
Insgesamt finde ich die Story zu dünn, es gibt zu wenig Entwicklung, von Charakteren mag ich nicht wirklich sprechen. Und auch die schlimme Zeit des Nationalsozialismus ist nur ein flüchtiger Schatten. Er liefert Gründe für vieles, aber eben nicht tiefgreifend, sondern phrasenhaft die allgemeinen Plots um diese Zeit aufnehmend: Die zwei jüdischen Buchhändler auf List sind auf einmal weg. Lenes Mann ist strammer Nazi und duldet kein nicht rein arisches Kind. Er nutzt es als Druckmittel, sich und die Tochter freizupressen. Lene träumt stattdessen von literarischen Salons in der Nachkriegszeit, von ihrem geliebten Marten, von dem sie eigentlich gar nichts weiß, auch nicht, dass er Jude ist. Aber sie agiert auch hier nicht und stellt Nachforschungen an.
Eingeschoben werden ebenso phrasenhaft Sentenzen über den Wert der Bücher und des Lesens, über den Wert der Familie und die Notwendigkeit, offen zu kommunizieren und das traumatisierte Schweigen zu überwinden, um die Bürde endlich loszuwerden, und nicht weiter auf die kommenden Generationen zu übertragen.
Es gibt so viele Bücher zu diesen Themen, und auch viele bessere.

Bewertung vom 22.03.2025
Gröschner, Annett

Schwebende Lasten


ausgezeichnet

Beeindruckend
Das Leben von Hanna umspannt ein langes 20. Jahrhundert. Aufgewachsen bei der „halben Schwester“ als Gehilfen im Blumenladen in Magdeburg über den eigenen Blumenladen bis zur Kranführerin der Kruppwerke in den Zeiten des Zweiten Weltkriegs und dann im Betrieb der DDR lebt Hanna das Leben einer Frau, die viel erlebt und erleidet. Sie heiratet, der Mann trinkt, verliert ein Bein, trinkt mehr, die Kinder werden gezeugt, geboren, abgetrieben, geboren usw. Sechs Kinder erblicken das Licht der Welt, zwei gehen verloren. Für sie gibt es kein Grab. Sie erleidet Verluste und gewinnt hinzu: Schwiegersöhne, Enkelkinder. Andere zerbrechen an der Grausamkeit des Krieges, an den Repressalien des Systems, an den Kindern, den gewollten und den ungewollten. Aber Hanna hält Stand, immer, irgendwie. Weitermachen, das ist die Devise. Die einzige Konstante ist der Wandel. Und Hannas Blumen.
Annett Gröschel gelingt es phänomenal die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts aus weiblicher Perspektive auf nur 280 Seiten zu schreiben und dabei ein so intensives Lebensgefühl zu vermitteln, wie es kein Geschichtsbuch kann. Hanna stammt aus einfachen Verhältnissen, lernt aber über die Schwestern, die eine „bessere Partie“ gemacht haben, auch ein wenig materielles Glück kennen. Sie heiratet einen Sozialdemokraten und ist durch ihre Arbeit im Werk dem Sozialismus sicherlich näher. Aber sie verfällt keiner Ideologie, weder den Nazis noch dem Sozialismus der DDR. Sie verfügt über keine umfangreiche Schulbildung, aber über Menschenverstand und Herzensbildung. Vielleicht sind es die Blumen, die sie unanfällig für Ideologien und menschlicher machen als viele Mitmenschen ihrer Zeit. Sie wächst dem Leser ans Herz mit ihrer Lebensklugheit. Er ist beeindruckt von ihrer Pragmatik, ihrem Lebenswillen, auch wenn er manchmal mehr aus dem Muss als aus dem Wollen stammt, von ihrer Liebe zu und ihrem Händchen für die Blumen. Er leidet mit ihr im Hinblick auf die schwierige Ehe, die Entfremdung von den Kindern, den Verlusten im Krieg, der Ausbeutung durch das DDR-System. Und wie könnte man besser Geschichte erfahren und begreifen als so nah an der Seite einer Frau, die mitten im Leben steht!
Elke Heidenreich spricht von der „perfekten Balance zwischen lakonisch und herzzerreißend“, ich würde sagen, das Buch ist durch die Lakonie so herzzerreißend. Die im Buch häufig so klar und schnörkellos beschriebenen Bilder für das Grauen und das Leid und den seelischen Schmerz prägen sich nicht nur Hanna unvergesslich ein. Aber auch die Bilder für das Schöne, die hier immer Blumenbilder sind, sind anrührend und vermitteln einen versöhnlichen Schluss, ohne kitschig oder illusorisch zu sein.
Ein beeindruckendes, ein großartiges, ein absolut lesenswertes Buch!

Bewertung vom 16.03.2025
Ankaoua, Maud

Das Geheimnis des Augenblicks


weniger gut

Luxusreise für Luxusprobleme
Maelle ist erfolgreich und arbeitet viel, aber ist sie auch glücklich? Ihre Freundin erkrankt an Krebs und schickst sie mit einem Auftrag nach Nepal. Eigentlich passt das nicht in Maelles Zeitplan. Widerwillig lässt sie sich darauf ein. Und dies Reise stellt ihr Leben auf den Kopf, denn arbeiten ist auf einmal nicht mehr alles.
Die Reiseeindrücke von Nepal sind beeindruckend und für mich auch das Interessanteste an dem Buch. Die Hauptfigur ist mir wenig sympathisch. Ich finde sie sehr selbstbezogen und ein wenig larmoyant auf hohen Niveau sowie sprunghaft. Hat sie gerade noch ein erhebende Erfahrung der Allverbundenheit, so verfällt sie fünf Minuten wieder in ihre alten Verhaltensmuster, geprägt von Gereiztheit und Enttäuschung, die sich in Ungeduld und Wut äußern. Die Lebensweisheiten, die sie hier weiter vermitteln will, kennt man von den Grundprinzipien her aus verschiedenen Lebensratgebern. Hier werden sie ziemlich aufgebläht in immer wieder neuen Worten aus unterschiedlichen Mündern mantraartig wiederholt. Das macht das Lesen im zweiten Teil ziemlich zäh. Der, der ernste Probleme hat, dürfte sich von der Predigt der allumfassenden Liebe, an die man nur glauben muss und dann existieren keine Probleme mehr und Angst ist sowieso nur eine Selbstbehauptungsstrategie des bösten Ego, nicht wirklich ernst genommen fühlen.

Bewertung vom 15.03.2025
Lorenz, Sarah

Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken


sehr gut

Mascha, wo bist du?
Die Ich-Erzählerin liebt kleine Häuser am liebsten mit Reetdach, Kaffee und die Gedichte von Mascha Kaléko. Diese stellt sie jedem Kapitel ihrer Lebensgeschichte motivisch voran und nutzt sie weniger zum Dialog mit der Dichterin als zum Monolog, mit dem sie der Dichterin und dem Leser ihr Leben für die Füße schüttet. So muss man es fast sagen. Denn motiviert von einem ihrer Gedichte oder einem Vers darin, macht sich ein Wortschwall Luft, bricht es aus der Erzählerin heraus. Ihr Leben bisher, liebevolle Kindheit, plötzlicher Liebesverlust, Systemsprengerin, mit 14 raus aus dem Heim und als Punk auf der Domplatte, sexualisierte Gewalt, Missbrauch, dann die Kehrtwende, Buchhändlerlehre, und, sie glaubt es selbst kaum, doch noch das Abitur und dann das Studium. Bücher waren der jungen Treberin ohne Zuhause immer so etwas wie Heimat. Als sie während der Buchhändlerlehre im Antiquariat auf Kalékos Gedichte stößt, scheint sie eine Seelenverwandte gefunden zu haben. Sie findet in ihren Gedichten, in denen sie, ganz dem neusachlichen Programm entsprechend, die Themen des menschlichen Lebens und Alltags im Sinne der Gebrauchslyrik in wohl verständliche, zugleich aber sehr ergreifende Worte packt. Bei aller Bewunderung ist sich die Erzählerin zugleich bewusst, dass ihr Ausdruck eher das Pathos ist. Sie ist in allem, was sie tut, leidenschaftlich, vor allem leidenschaftlich wütend, panisch und liebend. Das sind die drei Grundmotive ihres Lebens, die sich wechselseitig bedingen.
Mit schonungsloser Offenheit lässt sie den Leser immer tiefer in die Abgründe blicken. Beginnt zunächst alles ein wenig harmloser mit ihrer Vorliebe für kleine Reetdachhäuser, weil diese eine glückliche Kindheit symbolisieren, so führt ihr Weg dann bald in die abgeranzten Wohnungen wenig vertrauenerweckender Punks, die ihre Unsicherheit, Suche nach Nähe sowie auch ihre Trunkenheit nutzen, um sie zu missbrauchen. Drogen kommen ins Spiel und Obdachlosigkeit. Auch am Ende, als sie die Liebe gefunden zu haben scheint, lässt das miese Schicksal sie nicht los. Nun heißt ihr Gegner die Diagnose Krebs bei ihrem Mann.
Bisweilen wird es dem Leser ein bisschen viel, das Pathos, das Drama und auch die Ambivalenz von Geliebt und Verlassen Werden, von Angst und Furchtlosigkeit, die manchmal in verwirrender Weise koexistieren. Man erahnt hinter den Zeilen der Erzählerin die Autorin selbst, wenn man das annehmen darf, und bewundert sie für ihre Ehrlichkeit und Bereitschaft zur Selbstpreisgabe. Mir allerdings stellt sich auch die Frage, ob man den Gedichten wirklich gerecht wird, wenn man sie als Anschubser für die eigene Lebensdarstellung nimmt. Natürlich darf jeder diese Texte subjektiv lesen. Mir aber fehlt bei all dem „du, Mascha“ eben diese Mascha. Wer die Dichterin, ihr Werk und ihr Leben nicht kennt, bekommt immer nur einzelne Brocken hingeworfen, die aber sofort in der Gleichsetzung mit dem doch so anderen Leben der Erzählerin verschwinden. Bei aller Seelenverwandtschaft sind die Lebensthemen doch sehr verschieden und schwer vergleichbar.

Bewertung vom 15.03.2025
Schroeder, Steffen

Der ewige Tanz


ausgezeichnet

Geschmäht, gefeiert, geliebt und benutzt
Steffen Schroeder legt eine bemerkens- und lesenswerte Romanbiographie über die Ausdruckstänzerin Anita Berber vor.
Als enfant terrible ihrer Zeit mag man sie zwar nur schwer bezeichnen, gab es davon in den wilden Zwanzigern im Babylon Berlin doch einige. Aber die Berber sorgte dennoch immer wieder für Skandale. Vielleicht weniger mit ihren freizügigen Auftritten, Photos oder auch Gemälden als mit ihren Wutanfällen gegenüber einem Publikum, von dem sie sich als Künstlerin nicht ernst genommen fühlte, sondern zum reinen Sexobjekt degradiert. Sie nahm nie ein Blatt vor den Mund, strafte die Gesellschaft ihrer bigotten Moral wegen Lügen und führte ein rauschhaftes, exzessives Leben, das umso früher endete. Mit zunehmender Kokain- und Morphiumsucht begann der Niedergang ihrer Karriere auf der Bühne und beim Film, ihre finanzielle Not und ihr gesellschaftlicher Abstieg. Die Männer an ihrer Seite waren oftmals auch Künstler, allerdings häufig erfolg- und brotlos, mehr in sich verliebt und das schöne Leben, das Anita häufig mit finanzierte. Am Ende dieses kurzen Lebens steht die todbringende Schwindsucht wie das Resultat eines kräftezehrenden Lebens.
Schroeders Roman wirbt um die Sympathie für eine Frau, die schon als kleines Mädchen auf der Suche nach Liebe und Aufmerksamkeit war, die ihr aber nur selten ungeteilt und selbstlos zuteil wurde. Im Wechsel von Sterbebett und Erinnerung an das kurze, aber umso intensivere Leben lernt der Leser eine verletzliche Frau kennen, die nicht nur ihre Haus zu Markte, sondern auch ihr Herz auf Zunge trägt. Sie steht mutig zu ihrem unkonventionellen Lebenswandel, lebt die Liebe zu Männern und zu Frauen, zeigt die Natur des Menschen auf der Bühne bis auf den Wesenskern enthüllt. Nacktheit ist für sie nicht Mittel zum Zweck, sondern Ausdruck. Sie könne nicht anders, als so zu sein, wie sie ist, schonungslos und offen, entgegnet sie auf die Bekundung von Bewunderung für ihre offene, auch sich selbst gegenüber schonungslose Art. Aber dennoch ist diese Aufrichtigkeit nicht als Ausdruck eines Mangels, sondern als bewundernswerte Charakterstärke zu sehen. Die Anita Berber, die der Roman zeigt, ist eine verletzliche Frau, eine Künstlerin mit Idealen, voller Lebenshunger, niemals jammernd gibt sie nie auf, bekämpft ihre Einsamkeit, wenn auch bisweilen mit den falschen Mitteln, und trägt auch ihre Krankheit mit Würde.
Schroeder gelingt es nicht nur, dem Leser diese schillernde Person so nahe zu bringen, sondern er lässt ihre ganze Zeit so lebendig vor Augen erstehen, wenn er uns mitnimmt auf Shoppingtouren mit Anita, in ihre Shows, in die Salons und die privaten Räume großer Künstlerinnen und Künstler, denen sie begegnet. Zudem vermittelt der Autor spannende Einblicke in die Geschichte der Kinderstube des Films.
Nicht nur die profunde Kennerschaft, die lebendigen Schilderungen und der ansprechende Schreibstil machen dieses feine Buch über eine Frau, die man vielleicht nicht für so tiefgründig gehalten hätte, weil man nur ihre Skandale kennt, so lesens- und liebenswert.

Bewertung vom 15.03.2025
Würger, Takis

Für Polina


ausgezeichnet

Eine feine, leise Weise
Das Buch hat mich auf jeden Fall gepackt, an einem Tag begonnen, am anderen ausgelesen. Das liegt auf jeden Fall an Hannes und seiner Mutter, Fritzie Prager. Allein mit einem unehelichen Kind ohne Ausbildung findet sie Zuflucht in der heruntergekommen Villa in einem Naturschutzgebiet bei dem kautzigen Lebenskünstler Heinrich. Mit diesen schlechten Rahmenbedingungen aber schafft sie für Hannes, dem Jungen mit dem besonderen Gehör, das Idyll einer Kindheit voller Liebe, Angenommensein und Zufriedenheit. Ein wichtiger Bezugspunkt seiner Kindheit ist auch Polina, mit der er von Klein auf aufwächst und mit der ihn ein besonderes Band verbindet. Doch als die Idylle zerbricht, verliert Hannes auch Polina und seine Musik. Es wird ein langer Weg zurück zur Musik, aber auch zu Polina?
Würger entwickelt faszinierende, vielfach liebenswerte Figuren. Sie haben alle ihre Stärken und ihre Geheimnisse und sie sind mehr oder weniger für Hannes da. Ohne Polina, ohne seinen Kumpel Bosch, den grobschlächtig wirkenden, aber so feinen Möbelpacker, mit dem er für eine Transportfirma Klaviere schleppt, ohne Heinrich, der sich auch zu verlieren droht und ohne einige schicksalshafte Wendungen hätte Hannes sich vermutlich verloren. Wenn auch einige der Figuren, wie sie biologischer Vater oder sein Chef ein wenig klischeehaft wegkommen und manche Fügungen doch ein wenig arg wundersamen erscheinen, hat mich das Buch mit ganz unterschiedlichen Gefühlen erfüllt: Traurigkeit über den Verlust, Sehnsucht, Einsamkeit, aber durch all das hindurch auch eine Ruhe, eine Stärke und eine Art Gewissheit, dass es im Leben ganz einfache Dinge gibt, ein Geruch, eine Melodie, Natur oder eine Stange saurer Rhabarber mit braunem Zucker, die Trost und Zuversicht und Heimat geben. Würgers Schreibstil entwickelt die anfangs beschriebene Wirkung. Es sind die leisen Töne und die Zwischenräume, die dem Leser Platz lassen für das Nachfühlen, Nachspüren und Nachdenken wie die Musik.

Bewertung vom 09.03.2025
Welk, Sarah

FREI - Bester Sommer (FREI 1)


ausgezeichnet

Nicht nur ein Leseabenteuer
Joshua ist Kummer gewöhnt. Immer wieder muss er mit seiner Mutter aus beruflichen Gründen umziehen. Freunde - Fehlanzeige, Zuhausefühlen - nicht wirklich. Doch jetzt hat seine Mutter den Vogel abgeschossen und ihn in das allerletzte Kuhkaff gesteckt. Was soll er hier mit sich anfangen? Ganz unerwartet ist es ausgerechnet Schule, die ihn hier, wo sich Hase und Igel gute Nacht sagen, in ein Abenteuer verwickelt, von dem er nicht zu träumen gewagt hätte: mehrere Tage in Keingruppen Gleichaltriger im Wald ohne Erwachsene. Und plötzlich ist so etwas wie Freundschaft und ein Gefühl von Zuhause zum Greifen nah. Dies könnte der beste Sommer seines bisherigen Lebens werden...
Ein tolles Leseabenteuer, lustig und humorvoll geschrieben. Aus der Sicht Joshuas, der uns gleich mit hinein nimmt in das große Sommerabenteur, das ihn und den Leser hier erwartet. Sehr authentisch schildert die Autorin die Gedanken und Gefühle, die Joshua bewegen. Eine klare Leseempfehlung für Jung und Alt!