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Raumzeitreisender
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Ahaus
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 758 Bewertungen
Bewertung vom 24.07.2016
Hat der Weltraum eine Tür?
Janßen, Ulrich; Werner, Klaus

Hat der Weltraum eine Tür?


sehr gut

Geheimnisse des Universums

Warum ist der Weltraum so unvorstellbar groß? Gibt es in den Weiten des Universums Aliens? Das sind Fragen, wie sie nicht nur von Kindern gestellt werden. Erwachsene begeistern sich gleichermaßen für die Geheimnisse des Universums.

Antworten finden neugierige Menschen in naturwissenschaftlichen Fachbüchern, die jedoch für ein Fachpublikum geschrieben wurden und den nach einfachen Erklärungen suchenden Laien überfordern. Dieser bedient sich populärwissenschaftlicher Bücher, deren Autoren es sich zum Ziel gesetzt haben, wissenschaftliche Erkenntnisse in die Alltagssprache zu übersetzen.

„Hat der Weltraum eine Tür?“ ist ein solches Buch. Es ist im Nachgang zu einer Kinder-Uni-Vorlesung entstanden, angeregt durch Fragen eines elfjährigen Mädchens. Es wird von der Vision getragen, sowohl fachlich korrekte als auch kindgerechte Antworten auf die großen Fragen der Menschheit zu liefern.

Auf acht Kapitel verteilt erläutern die Autoren den Aufbau des Universums, die rätselhafte dunkle Materie, die Geheimnisse von Zeit und Raum und Entstehungstheorien für das Universum. Auch erwachsene Leser kommen auf ihre Kosten, da das Buch dem neusten Stand der Wissenschaft entspricht. Die Leser lernen das Antriebsprinzip von Raketen kennen und erfahren, welche körperlichen Veränderungen die Schwerelosigkeit mit sich bringt. Für Fachleute und Laien ist es gleichermaßen unfassbar, dass sich der Weltraum mit einer Geschwindigkeit ausdehnt, die jenseits der Lichtgeschwindigkeit liegt und es sich um eine Expansion ohne Wiederkehr handelt.

Erfreulich, dass zu guter Letzt die Erde wieder in den Mittelpunkt des Universums gerückt wird. Da der Weltraum keine Grenze und keinen Rand hat, hinter dem das Außen beginnt, hat er auch keinen Mittelpunkt. Der Mittelpunkt des Universums kann sich also auf der Erde mitten im Wohnzimmer des Lesers befinden.

Die Aufmachung des Buches ist ansprechend, zahlreiche Illustrationen tragen ihren Teil dazu bei. Auf den letzten zehn Seiten befinden sich Erläuterungen zu Fachbegriffen. Gibt es an dem Buch etwas zu kritisieren? Die Naturwissenschaften sind ein offenes Erkenntnissystem. Neue Beobachtungen erfordern neue Erklärungen. Insofern verkünden sie keine absoluten Wahrheiten, sondern beschreiben intersubjektive Wirklichkeit. Der erkenntnistheoretische Rahmen der Naturwissenschaften hätte in einem eigenen Kapitel für ein kindgerechtes Verständnis aufbereitet werden können. Auch glaube ich nicht, dass das Buch für achtjährige Kinder geeignet ist, wie vom Verlag auf ihrer Webseite angegeben.

Bewertung vom 24.07.2016
Die Google-Falle
Reischl, Gerald

Die Google-Falle


sehr gut

Eine unkontrollierte Weltmacht im Internet

Gerald Reischl beschreibt nicht den grandiosen Aufstieg einer Garagenfirma zum Weltkonzern, sondern setzt sich, wie der Buchtitel erwarten lässt, kritisch mit dem Unternehmen auseinander. Er möchte zur Bewusstseinsbildung beitragen und aufzeigen, in welchem Zwiespalt Internet-Nutzer leben und worauf sie achten sollten, wenn sie das Internet nutzen. Wird er diesem Anspruch gerecht?

Im ersten Kapitel ist von Kritik noch nicht viel zu spüren. Autor Reischl beschreibt eine paradiesische Unternehmenskultur, wie sie in Europa unbekannt ist. Bei der im kalifornischen Mountain View ansässigen Firmenzentrale handelt es sich um einen farbenfrohen, lustigen und liberalen Tummelplatz der Kreativität, in dem nicht nur die Verpflegung kostenlos ist. Einzig der Hinweis auf „viele Zahnbürsten in den Regalen“ macht deutlich, dass ein hohes Maß an Engagement erwartet wird.

Die Informationspolitik untersucht Reischl im zweiten Kapitel. Es kommt vor, dass Interviews kurzfristig abgesagt werden, nicht alle Informationen über die Firma publiziert werden und Statistiken und Grafiken vor Veröffentlichung auf Linie gebracht werden. Dies mag im Widerspruch zur Regenbogenwelt der Firmenzentrale stehen, aber sicher nicht im Widerspruch zur Politik großer Konzerne. Welche Firma lässt sich schon in die Karten schauen?

Der Marktanteil von Google beträgt in Westeuropa etwa 90%. Wie ist diese Dominanz begründet? Die Unternehmenskultur kann daran nur einen kleinen Anteil haben. Einen größeren Anteil des Erfolges darf Larry Page für sich verbuchen, dessen Methode PageRank die Rangordnung der Suchergebnisse steuert. Durch diesen Algorithmus werden unter anderem Datenquerverbindungen ausgewertet zwecks Auflistung der Suchergebnisse in der Reihenfolge ihrer Bedeutung.

Google lebt, wie die gesamte Werbebranche, von Kundeninformationen. Sämtliche Suchergebnisse werden gespeichert und werbewirksam verarbeitet. Das Google-Glossar im hinteren Teil des Buches veranschaulicht die vielen Dienste, die der Konzern mittlerweile eingeführt oder aufgekauft hat. Bezogen auf das Internet ist Google heute eine Weltmacht. Und hier setzt die Kritik an.

Google agiert international als Werbekonzern auf der Basis von Daten, die die Anwender dem Konzern im Zuge der Nutzung zahlreicher Gratisdienste bereitstellen. Gespeichert und ausgewertet werden nicht nur Suchbegriffe, sondern auch Informationen über die Nutzer selbst. Google verfügt heute über mehr Informationen als andere Internetfirmen und ist in der Lage die Daten miteinander zu verknüpfen. Hier lauert die reale Gefahr, gläsern zu werden.

Ich halte das Buch nicht für spektakulär, aber für wichtig. Autor Reischl sensibilisiert die Öffentlichkeit für ein in den vergangenen Jahren vernachlässigtes Thema, nämlich den Datenschutz. Der allzu sorglose Umgang mit persönlichen Daten birgt Gefahren, wie schon manch ein Bewerber erfahren musste. Es ist schon erstaunlich, wie sich das Bewusstsein der Bevölkerung hinsichtlich des Datenschutzes in den vergangenen 30 Jahren gewandelt hat.

In einem Interview erläutert Gerald Reischl, dass sein Buch für ganz normale Internet-Nutzer gedacht ist und nicht für IT-Experten. Dem stimme ich zu. Im Hinblick auf die Aufmachung des Buches hatte ich auch nichts anderes erwartet. IT-Fachleute werden nicht viel Neues erfahren. Internet-Nutzer, die sich noch nie viele Gedanken darüber gemacht haben, was bei der Nutzung des Internets im Hintergrund passiert, werden durch das Buch leicht verständlich informiert.

Bewertung vom 24.07.2016
Der lange Marsch durch die Zeit
Asimov, Isaac

Der lange Marsch durch die Zeit


ausgezeichnet

Ein Überblick über die kulturelle Entwicklung

Isaac Asimov war nicht nur ein bekannter Science-Fiction-Schriftsteller, sondern seiner Feder entstammen auch zahlreiche Sachbücher. „Der Lange Marsch durch die Zeit“ ist eins davon. Auch wenn das Buch mittlerweile in die Jahre gekommen ist, gilt das nicht für seinen Inhalt. Bei einer Reise durch 10.000 Jahre Geschichte, kommt es auf die letzten 30 Jahre wirklich nicht an.

Wer sich an langweilige Geschichtsbücher aus der Schulzeit erinnert, wird bei diesem Werk überrascht sein. Asimov schildert auf 300 Seiten in leicht verständlicher Sprache die Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Nach einem Kapitel über die Vorzeit beginnt die Reise 8000 Jahre v. Chr. und endet wenige Jahre vor dem Jahr 2000. In einem abschließenden Kapitel gibt Asimov Prognosen über die Zukunft ab.

Der Autor beschreibt den Aufbau und auch den Untergang von Kulturen, das Wirken von Eroberern und Herrschern, sowie wichtige Erfindungen und Entdeckungen. Das Buch ist nur noch gebraucht bzw. im Antiquariat erhältlich. Dieser Überblick in konzentrierter Form ist sein Geld wert.

Bewertung vom 23.07.2016
Die Kartenmacher
Murdin, Paul

Die Kartenmacher


sehr gut

Der Wettstreit um die Vermessung der Welt

Unsere Landvermesser vergangener Jahrhunderte waren echte Pioniere und Abenteurer. In unruhigen Zeiten wie z.B. der französischen Revolution war es lebensgefährlich, mit seltsamen Gerätschaften durchs Land zu reisen und auf einsamen Bergen weit sichtbare Leuchtfeuer zu errichten. Das es sich dabei lediglich um harmlose Triangulationen handelte, mit dem Ziel, das Land zu vermessen, konnte von dem Volk auf der Straße nicht nachvollzogen werden. Wer nicht mit Mathematik und Astronomie vertraut war, und das waren die wenigsten, konnte einfach nicht verstehen, um was es da ging.

Es gab im 17. Jahrhundert noch keine zuverlässigen Kartenwerke, mangels zuverlässiger Uhren existierten bei der Navigation der Schiffe große Probleme und auch fehlten einheitliche Normen für Maße und Gewichte.

Autor Paul Murdin, selbst Astronom, beschreibt die Geschichte der Vermessung vom 17. Jahrhundert bis hin zur Neuzeit. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Entwicklung in Frankreich. Vermessungen benötigen eine Basis und so wurde ein Meridian (Großkreis) durch Paris definiert und astronomisch vermessen. Ziel war es, genaue Karten zu zeichnen und die wahre Gestaltung der Erde zu erforschen. Notwendige Vermessungsarbeiten führten die Akteure bis in die entlegensten Winkel der Erde.

Murdin beschreibt die Lebensgeschichten zahlreicher Wissenschaftlicher, die an diesem Großprojekt beteiligt waren. Dabei wird, am Beispiel von Pierre-François-Andre Méchain, eins deutlich: Messfehler sind das schlimmste, was einem Landvermesser passieren kann.

Der Autor erzählt keine unmittelbar zusammenhängende Geschichte, sondern er beschreibt die historische Entwicklung anhand zahlreicher Biographien. Die Grundlagen der Vermessungen hätten m.E. verständlicher erläutert und auch mittels Skizzen visualisiert werden können. Auch wundert es mich, dass in einem Buch, in dem viele große Namen genannt werden, der geniale Mathematiker, Geometer und Astronom Carl Friedrich Gauß nur ganz am Rande erwähnt wird.

Es gibt nur wenige Bücher über die Vermessung der Welt. Die Biographie von Hubert Mania über Gauß hat mir wegen der zusammenhängenden Darstellung und Konzentration auf eine Person besser gefallen. Dennoch bleibt positiv festzuhalten: Der Geist der damaligen Zeit kommt rüber, die Motivation der Wissenschaftler ist erkennbar und die Geschichte wird lebendig erzählt.

Bewertung vom 23.07.2016
Was zu bezweifeln war (eBook, ePUB)
Radecke, Hans-Dieter; Teufel, Lorenz

Was zu bezweifeln war (eBook, ePUB)


sehr gut

Die Grenzen der Wissenschaft

Die Naturwissenschaften beschäftigen sich mit Phänomenen der Erscheinungswelt, die mittels Ursache-Wirkungsketten innerhalb der Erscheinungswelt – und damit auf natürliche Art und Weise - erklärt werden können. Das was nicht natürlich erklärt werden kann, ist nicht Gegenstand der Naturwissenschaften.

Die Physiker Hans-Dieter Radecke und Lorenz Teufel relativieren den Anspruch der Naturwissenschaften auf letztgültige Wahrheiten und Beweise. Ihre Interpretationen physikalischer Vorgänge und derer philosophischer und historischer Rahmenbedingungen wirken provozierend. Wissen ist nicht ohne Glauben zu haben und der Glaube bzw. Subjektivität spielen eine größere Rolle, als manchem Forscher recht sein kann. Damit liegt ihr Fokus auf den Rahmenbedingungen, in die Naturwissenschaften eingebettet sind.

Die ersten Kapitel schrecken ab. Geht es in diesem Buch um Esoterik? Im weiteren Ablauf wird dieser erste Eindruck relativiert: Es geht um Erkenntnistheorie und die Grenzen der Wissenschaften. Sie erläutern, dass bestehende Theorien nicht verworfen werden, wenn Beobachtungen oder Experimente ihnen widersprechen. Nach Karl Poppers Kriterium der Falsifikation müsste das eigentlich so sein. Aber Naturwissenschaft funktioniert anders. Theorien werden nicht verworfen, sondern durch umfassendere Theorien ersetzt. So lange diese fehlen, wird eher die Stichhaltigkeit der Beobachtungen und Experimente angezweifelt.

Mit diesem Problem hatte bereits Galileo Galilei zu kämpfen. Die Autoren vermuten, dass die Herren Professoren sich damals nicht geweigert hatten, durch Galileis Teleskop zu schauen, um die Jupitermonde zu entdecken, sondern dass Galilei die Professoren nicht überzeugen konnte, weil seine Beweislage zu dürftig war. Seine Bilder waren einfach zu verschwommen.

Einige Darstellungen in dem Buch gehen zu weit. Wenn die Autoren ausführen, dass die Theorie, wonach die Erde eine Scheibe ist, nicht endgültig widerlegt ist, überspannen sie den Bogen. Die nachträgliche Beeinflussung der Vergangenheit klingt esoterisch. Abenteuerlich wirkt der Gedanke, dass die Jupitermonde vor ihrer Entdeckung noch nicht existiert haben sollen. Hier wird Subjektivität auf die Spitze getrieben.

In den letzten beiden Kapiteln erläutern die Autoren ihre persönliche Philosophie. Sie vertreten die These, dass sich eine von uns unabhängige objektive Welt weder empirisch noch logisch beweisen lässt. Sie glauben an eine von uns abhängige Welt. Die Welt sei nicht aus Teilen aufgebaut, wie die Physiker das verstehen, sondern aus einer Ganzheit, die durch den Bewusstseinsakt in Teile zerbrochen ist. Wir erzeugen nicht die Welt, die wir wahrnehmen. Der Konstruktivismus hat insofern unrecht. Das Bewusstsein entsteht erst durch die Trennung. Das „Zerbrechen der Einheit“ ist eine Metapher dafür, dass alles Beobachtbare einen fundamentalen Zusammenhang mit dem Beobachter aufweisen muss.

Bei aller Relativierung der Naturwissenschaften muss betont werden: Nicht Alchemie, Theologie oder Mystik haben den Fortschritt gebracht, sondern die Naturwissenschaften. Ideen haben sich durchgesetzt, weil sie überprüfbar waren. In diesem Sinne müsste Telekinese längst verworfen werden, weil stichhaltige Belege fehlen. Das sicherste Wissen, welches uns heute zur Verfügung steht, liefern die Naturwissenschaften.

Es handelt sich um ein provozierendes aber lesenswertes Buch, in dem die Grenzen der Wissenschaften aufgezeigt werden. Es werden Zweifel gesät. Man muss nicht alles glauben, was die Autoren schreiben, aber man unterliegt auch nicht der „Versuchung der Gewissheit“, wenn es um naturwissenschaftliche Erkenntnisse geht.

Bewertung vom 23.07.2016
Das Kosmische Bewusstsein - Seine Wege und Prinzipien
Bucke, Richard M

Das Kosmische Bewusstsein - Seine Wege und Prinzipien


ausgezeichnet

Jenseits des Ich-Bewusstseins

Bei diesem Buch aus dem Jahr 1901 handelt es sich um einen Klassiker der Bewusstseinsforschung. Richard Maurice Bucke beschreibt auf sachliche Art und Weise anhand von historischen Persönlichkeiten ein Phänomen, welches in der Geschichte der Menschheit häufiger aufgetreten ist, den Lauf der Geschichte beeinflusst hat und als „kosmisches Bewusstsein“ bekannt ist.

Bucke behandelt das Phänomen der Erleuchtung aus dem Blickwinkel eines Psychologen als einen seltenen, aber klar definierbaren psychisch-geistigen Zustand, der untersucht werden kann. Laut Autor mehren sich die Anzeichen, dass die Menschheit sich auf dem Weg vom Ich-Bewusstsein hin zum kosmischen Bewusstsein bewegt. Das ist eine teleologische These, die interessant klingt, für Menschen mit entsprechenden Erfahrungen auch plausibel sein mag, sich aber nicht naturwissenschaftlich belegen lässt.

Das Phänomen ist seit mehreren tausend Jahren bekannt. Während Bucke keine konkrete Ursache angibt, waren bereits im antiken Eleusis bewusstseinserweiternde Substanzen bekannt, die ekstatische Wirkungen hatten, die Weltsicht veränderten und die kulturelle Entwicklung beeinflussten. [1] Leo Perutz greift das Thema auf und beschäftigt sich in seinem Roman "St. Petri-Schnee" mit Mutterkorn und seinen halluzinogenen Wirkungen. [2]

Während Gerhard Wehr [3] eher einen religiösen Hintergrund sieht, geht es bei Stanislav Grof [4] um Spiritualität. Er versteht es, die Begriffe Religion und Spiritualität sauber voneinander zu trennen. Grof beschreibt holotrope (auf Ganzheit ausgerichtete) Bewusstseinszustände, die die sinnliche Wahrnehmung verändern, heftige Emotionen auslösen und zu Veränderungen in den Denkprozessen führen.

Wesentlich nüchterner fallen die Analysen von Stefan Klein aus. [5] Er erläutert die künstliche Methode der elektromagnetischen Reizung der Schläfenlappen, die zu mystischen (ganzheitlichen) Erfahrungen führt. Es gibt somit reproduzierbare Ursachen für mystische Erlebnisse. Die Interpretation dieser Erlebnisse hängt von den eigenen sozialen Wurzeln ab und ist keine Bestätigung für Religion, eher für Spiritualität. [6]

Ob es in allen genannten Fällen um das gleiche Phänomen geht, welches Bucke ausführlich beschreibt, lässt sich nicht belegen, da es sich um subjektive Erfahrungen handelt. Jedoch ist die Forschung soweit, Auslöser bewusstseinsverändernder Zustände einer objektiven Betrachtung zu unterziehen. Wer sich für Bewusstseinsforschung interessiert, kommt an diesem Klassiker von Bucke nicht vorbei.

[1] Mathias Bröckers: Das sogenannte Übersinnliche
[2] Leo Perutz: St. Petri-Schnee
[3] Gerhard Wehr: Die deutsche Mystik
[4] Stanislav Grof: Kosmos und Psyche
[5] Stefan Klein: Die Glücksformel
[6] Andre Comte-Sponville: Woran glaubt ein Atheist?

Bewertung vom 23.07.2016
Ausweitung der Kampfzone
Houellebecq, Michel

Ausweitung der Kampfzone


sehr gut

Kampfzone Gesellschaft

Es handelt sich um den Debütroman von Michel Houellebecq aus dem Jahr 1994. Seitdem gilt Houellebecq als (begabter) Provokateur. Ihm gelingt es zweifelsohne, Atmosphäre zu schaffen. Das gesamte Werk ist aufgeladen mit negativer Energie.

Bereits das kurze erste Kapitel wirkt obszön, vulgär und dekadent. Der namenlose Ich-Erzähler, ein 30jähriger Informatiker, ist ein extremer Zyniker. Seine destruktiven Beschreibungen prägen den gesamten Roman. Zum Beispiel findet er in einem Geschäft einen Toten, ohne das irgendeine Dramatik entsteht (73), charakterisiert er Rouen als „grau, schmutzig, schlecht erhalten, … von Lärm und Luftverschmutzung versaut“ (75) und äußert sich herablassend zu einem Brautpaar, welches vor einer Kirche steht. (78).

Einen Erklärungsansatz liefert der Autor ein paar Seiten weiter. “Der Wirtschaftsliberalismus ist die erweiterte Kampfzone, das heißt, er gilt für alle Altersstufen und Gesellschaftsklassen. Ebenso bedeutet der sexuelle Liberalismus die Ausweitung der Kampfzone, ihre Ausdehnung auf alle Altersstufen und Gesellschaftsklassen.“ (110)

Neoliberale Maßstäbe gelten nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch unmittelbar für die Menschen. Diese werden nach ihrem Marktwert beurteilt und damit zum Objekt. An dieser fundamentalistischen und letztlich unmenschlichen Betrachtungsweise scheitern nacheinander Arbeitskollege Tisserand und der Ich-Erzähler. Es gibt nur Sieger und Verlierer und wem die Natur übel mitspielt, hat eben Pech gehabt.

Auffallend und auch seltsam sind die zwischenzeitlichen Wechsel von der Ich-Perspektive auf eine Metaebene, die Ebene des Autors („Die folgenden Seiten bilden einen Roman“ (16), „Das fortschreitende Verlöschen zwischenmenschlicher Beziehungen bringt für den Roman allerdings einige Schwierigkeiten mit sich.“ (46)).

Houellebecq ist ein ungewöhnlicher Autor. Mir würde kein zweiter einfallen, der mit ihm vergleichbar ist. Wenn sein Ziel darin besteht, eine Welt zu konstruieren, in der der Mensch ausschließlich nach seinem Marktwert beurteilt wird, ist ihm das auch gelungen. Der Roman ist destruktiv bis zur Selbstzerstörung.

Bewertung vom 23.07.2016
Die Kinder der Elefantenhüter
Høeg, Peter

Die Kinder der Elefantenhüter


sehr gut

Ein Schelmenroman mit Tiefblick

Peter Høeg glänzt in diesem abwechslungsreichen Abenteuerroman mit verrückten Einfällen, die Geschichte ist nicht alltäglich. Es handelt sich um einen Schelmenroman mit Tiefgang. Es werden zahlreiche religiöse und philosophische Weisheiten eingestreut. Im Vordergrund stehen die Abenteuer der Jugendlichen Peter und Tilte, die ihre verschwundenen Eltern suchen. Hintergründig geht es um einen Erfahrungs- und Reifungsprozess. Die Erlebnisse hinterlassen nicht nur bei Peter und Tilte Spuren, sondern zahlreiche Menschen in ihrem Umfeld werden verändert. Der Roman ist zwar in einfacher Sprache gehalten, wegen der dichten Folge von Ereignissen und der eingestreuten Retrospektiven ist es jedoch zum besseren Verständnis erforderlich, konzentriert zu lesen. Die Insel Finø liegt im Meer der Möglichkeiten und vom Erkennen dieser Möglichkeiten handelt das Buch.

Bewertung vom 23.07.2016
Zoli
McCann, Colum

Zoli


ausgezeichnet

Eine bewegende Lebensgeschichte

In diesem Buch erzählt Colum McCann die bewegende Lebensgeschichte der in Bratislava geborenen Roma Zoli (Marienka) Novotna, von den 1930er Jahren bis ins Jahr 2003. Sie hat den Holocaust überlebt, wurde jung verheiratet, von ihrem Freund verraten, von ihrer Sippe verbannt und irrte heimatlos quer durch Europa herum. Mit „Zoli“ erhalten die Leser Einblick in eine fremde Kultur, deren Traditionen McCann hervorragend recherchiert hat. Ihre persönliche Situation beschreibt die Protagonistin treffend selbst:

„In Wahrheit war ich in meinen Augen keine Roma mehr. Man nannte mich Zigeunerin, aber nicht einmal das war ich. Ich sah mich auch nicht mehr als eine Frau, die Bücher gelesen, Geschichten gesungen und Gedichte geschrieben hatte – ich betrachtete mich, wenn überhaupt, als irgendein primitives Wesen.“ (260)

Als Hintergrund dienen das Dritte Reich, der spätere Sozialismus im Ostblock und der Westen der Nachkriegszeit. Das Buch ist nicht chronologisch aufgebaut, sondern die zeitlichen Perspektiven wechseln abschnittsweise, ebenso wie die Handlungsorte und die Erzählperspektiven. Diese Struktur führt nicht zu Verwirrung, da der komplette Roman sich um die Lebensgeschichte von Zoli dreht.

Sie ist eine außergewöhnliche Frau, die abweichend von der Tradition der Roma nicht nur Lesen und Schreiben lernt, sondern auch Gedichte verfasst, eigene Lieder singt und Geschichten entwirft. Ihr Leben ist unlösbar mit ihrer Kultur verknüpft und so versucht sie vergeblich einen Tabubruch zu verhindern, nämlich die Veröffentlichung ihrer Werke in Buchform. Sie wird von ihrem englischen Freund, dem Übersetzer Stephen Swann, verraten und von ihrer eigenen Sippe verbannt.

Zoli ist ein Roman über eine starke Frau im Konflikt mit der Macht von Traditionen. Dieser Kampf zwischen Loslassen und Verbundenheit kommt prägnant zum Ausdruck, als sie in späteren Jahren zusammen mit ihrem italienischen Ehemann Enrico in Österreich an der Donau steht und diese nicht überqueren kann, um in ihre alte Heimat Bratislava zu fahren. (319) Zoli ist kein romantisches Werk. McCann verwendet die raue direkte Poesie, die Leser seiner Bücher auch von „Der Himmel unter der Stadt“ kennen.

Bewertung vom 22.07.2016
Achtsamkeit mitten im Leben

Achtsamkeit mitten im Leben


ausgezeichnet

Westliche Wissenschaft und östliche Philosophie

„Neurowissenschaftler haben herausgefunden, dass es uns allen aufgrund unseres Gehirns schwerfällt, in unserem körperlichen und emotionalen Erleben im Hier und Jetzt zu bleiben.“ (8/9) Dabei ist Achtsamkeit eine wesentliche Voraussetzung, um glücklich zu sein. Wem das gelingt, wird selbst mit chronischen Schmerzen besser fertig, wie Tim Gard und Britta Hölzel in ihrem Beitrag „Achtsamer Umgang mit Schmerz“ (79) deutlich machen.

Das deckt sich mit Ausführungen von Harro Albrecht [1], der auch Achtsamkeitsübungen zur Linderung von Schmerzen vorschlägt. Während in Albrechts Buch der Schmerz im Fokus steht und Achtsamkeit ein Mittel zum Zweck ist, ist es bei Britta Hölzel und Christine Brähler eher die umgekehrte Perspektive. Sie thematisieren Achtsamkeit mit seinen zahlreichen Facetten, wobei die Behandlung von Schmerz einen Anwendungsfall darstellt.

Achtsamkeitsmeditation hat seinen Ursprung im Buddhismus. Seit die Hirnforschung festgestellt hat, dass Meditation zu messbaren Veränderungen im Gehirn führt, wird das Thema auch in der Wissenschaft ernst genommen und weiter untersucht. Auffallend ist, dass der Buddhismus nicht nur die Literatur beflügelt hat (siehe „Siddhartha“ [2]), sondern auch die Wissenschaft herausfordert (siehe „Das Tao der Physik“ [3]) und mit der Meditation vollends im Westen angekommen ist.

Das Buch besteht aus Beiträgen von 12 Autoren, in denen verschiedene Perspektiven beleuchtet werden. Im Fokus stehen die Ursprünge der Achtsamkeitsforschung, die Erkenntnisse der Hirnforschung, der Umgang mit körperlichen oder emotionalen Belastungen sowie die Vorteile einer achtsamen Lebenseinstellung beim Umgang mit anderen Menschen in Beruf und Alltag. Die Ausführungen sind strukturiert und verständlich.

Achtsamkeit hat immer einen Erfahrungsbezug und ist kein abstraktes Konzept. Sinnliches Erleben ist subjektiv und sprachlich nicht vermittelbar. (26) Spinnt man diese Gedanken weiter, so ergeben sich Parallelen zu David Hume und dem Begriff der Qualia. Schon Hume erkannte, dass wir uns keinen Begriff vom Geschmack einer Ananas bilden können, ohne diese tatsächlich gekostet zu haben. Neben dem Erfahrungsbezug geht es in dem Buch um die bewusste Kontrolle der Aufmerksamkeit. (34/35)

Können wir mitten im Leben aufwachen? Jedenfalls gibt es Erfahrungsberichte, die das nahe legen. Gisela Full beschäftigt sich mit dem Thema Erleuchtung. So genannte kosmische Bewusstseinserlebnisse wurden schon vor Jahrhunderten beschrieben [4], entziehen sich aber, da subjektiv, einer naturwissenschaftlichen Untersuchung. Hier gilt das, was an anderer Stelle über den Erfahrungsbezug gesagt wird. Ohne eigene Erfahrung kann man sich eine nicht-ichbezogene Wahrnehmung einfach nicht vorstellen. Wenn das Ich ein Konstrukt ist, wer nimmt dann wahr?

Das Buch fordert die Leser auf, sich mit Achtsamkeit zu beschäftigen und zwar nicht intellektuell, sondern durch praktische Erfahrung. Es klärt über Zusammenhänge und Abhängigkeiten auf, umsetzen muss es jeder für sich selbst, z.B. durch Meditation. Geradezu weise klingen die Ausführungen von Michaela Doepke zur säkularen Ethik. Sie verweist auf Michael von Brück, der sich für einen interreligiösen Dialog ausspricht und auf Thich Nhat Hanh, dem es hinsichtlich der Ethik egal ist, ob jemand an Gott glaubt. In die gleiche Richtung argumentiert der Dalai Lama. (314) „Religion ist Privatsache, Ethik betrifft die ganze Menschheit.“ (316)

Für meinen Geschmack hätte das Thema Hirnforschung ein höheres Gewicht haben können. Das ändert aber nichts daran, dass durch die Zusammenstellung vieler Autoren eine große thematische Bandbreite abgedeckt wird und auch eine Mischung hinsichtlich Wissenschaft, Erfahrungsberichten und Anleitungen zu Übungen erreicht wird.

[1] Harro Albrecht: „Schmerz – Eine Befreiungsgeschichte“
[2] Hermann Hesse: „Siddhartha“
[3] Fritjof Capra: „Das Tao der Physik“
[4] Richard M. Bucke: „Kosmisches Bewusstsein“